Kapitel 37

Kai

»Ball!«, ruft der Schiedsrichter.

Scheiße.

Dieser verdammte Schlagmann ist kurz vor einem Walk, und dann käme ein ganzer Run von den besetzten Bases herein … zum zweiten Mal in diesem Inning.

Travis erhebt sich aus der Hocke und wirft mir den Ball zu. Auch wenn die Maske sein Gesicht verdeckt, erkenne ich an seiner gerunzelten Stirn sehr deutlich seine Besorgnis.

»Komm schon, Ace«, ruft Cody von der ersten Base.

»Los jetzt, Kai«, fällt mein Bruder mit ein.

Ich schreite auf dem Mound auf und ab und atme tief durch, aber alles, was ich sehe, ist sie.

Miller, die mein Trikot trägt und meinen Sohn auf dem Arm hat.

Ich bin völlig durcheinander wegen all der Bilder, der Erinnerungen. Und es wird nur noch schlimmer, wenn ich meine Cap abnehme und sie dort ebenfalls sehe.

Es ist schon eine Woche her.

Eine unerträgliche Woche seit Millers Abreise.

Seit einer Woche korrigiere ich Max jedes Mal, wenn er ein Bild von ihr sieht und sie Mama nennt.

Seit einer Woche schlafe ich auf ihrem Kissen und bete, dass sich ihr süßer Duft wie durch Magie in die Fasern einbrennt und für immer bleibt.

Vor einer Woche hat sich die kleine Familie, die wir für kurze Zeit waren, aufgelöst, und mein Sohn und ich sind wieder allein.

Es ist schon eine Woche her, dass ich gehört habe, wie sie mit ihrer rauen Stimme meinen Namen sagt. Wir haben nicht mehr miteinander gesprochen, seit sie weg ist, weil ich mir geschworen habe, sie nicht aufzuhalten. Ich will nicht, dass sie mitten in ihrem geschäftigen Alltag nur aus schlechtem Gewissen heraus irgendwie Zeit findet, mir zu antworten.

Stattdessen zapfe ich ihren Vater an, um Informationen zu bekommen.

Ist sie gut angekommen?

Schläft sie gut?

Ist sie glücklich?

Die letzten beiden Fragen könnte ich in Bezug auf mich selbst auf keinen Fall mit Ja beantworten, also hoffe ich für sie, dass es ihr besser geht als mir. Ich hoffe, sie findet alles, wonach sie sucht. Ich hoffe, sie findet ihre Freude wieder.

Denn ich habe meine ganz sicher verloren.

»Malakai, konzentrier dich mal«, ruft Isaiah mir von hinten zu.

Das Stadion ist gerammelt voll bei diesem Spiel an einem Septembernachmittag. Wir haben heute die Chance, die Play-offs zu erreichen, und ich habe beim letzten Schlag gerade einen Run verschuldet.

Das gibt bei den Zusammenfassungen nach dem Spiel Riesenärger, aber das ist mir scheißegal. Ich fühle mich wie ein Heuchler, weil ich zu Miller gesagt habe, Druck sei ein Privileg, und dass es eine Ehre sei, wenn die Leute viel von einem erwarten. Denn ich empfinde rein gar nichts.

Während ich die Stollen in den Boden stemme, signalisiert mir Travis meinen Pitch – einen Four-Seam Fastball. Ich nicke und richte die Finger im Handschuh aus, bevor ich über die Schulter blicke, um nach den Läufern zu sehen, aber als ich die Bases erblicke, sehe ich sofort vor mir, wie ich sie erst letzte Woche mit ihr über der Schulter abgelaufen bin.

Als ich glücklich war. Als sie glücklich war. Als sie noch bei mir war.

Ich schüttle das Bild ab und werfe mit voller Kraft. Der Ball fliegt genau über die Plate, exakt in der Höhe, die der Schlagmann braucht, um ihn ins linke Feld zu befördern.

Und genau das tut er auch: Er schlägt einen Grand Slam und erhöht den Vorsprung seines Teams auf 5:0, bevor ich in diesem dritten Inning überhaupt ein einziges Out erzielt habe.

Scheiße.

Die Menge buht ohrenbetäubend, und ich glaube nicht, dass es etwas mit unseren Gegnern zu tun hat, es gilt allein mir.

Travis macht sich auf den Weg zum Mound, aber Isaiah winkt ab und kommt stattdessen selbst zu mir. Wir unterhalten uns mit den Handschuhen vor den Gesichtern.

»Geht es dir gut?«, fragt er.

»Sieht es so aus, als ob es mir verdammt noch mal gut geht, Isaiah?«

»Ja, du hast recht. Schrecklich dumme Frage.«

Mein ganzes verdammtes Leben ist vor sieben Tagen auseinandergefallen, und es lag nicht mal daran, dass Miller und ich uns nicht geliebt oder gewollt hätten. Es liegt einzig und allein daran, dass wir vollkommen unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, die sich nur während zweier kurzer Monate einmal gekreuzt haben.

Bevor mein Bruder noch etwas fragen kann, verlässt Monty den Dugout und kommt direkt auf mich zu.

»Gottverdammte Scheiße«, fluche ich in meinen Handschuh.

Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so früh aus einem Spiel genommen wurde. Bei meinem letzten Start diese Woche habe ich scheiße gespielt, aber ich habe immerhin fünf Innings durchgehalten, bevor die Relief Pitcher übernommen haben. Das dritte Inning? Das ist verdammt peinlich, und zum ersten Mal seit Wochen frage ich mich wieder, was zum Teufel ich eigentlich mit meinem Leben anfangen soll.

Ohne sie ergibt einfach nichts mehr einen Sinn. Die Teammitglieder passen abwechselnd auf Max auf, bis die Saison vorbei ist, aber was soll ich nächstes oder übernächstes Jahr tun? Irgendwen einstellen, der sich niemals so gut um meinen Sohn kümmern wird, wie sie es getan hat? Warum mache ich das alles überhaupt? Weil ich es liebe? Tja, im Leben bekommt man nicht immer alles, was man liebt, nicht wahr?

Monty nickt meinem Bruder zu, und Isaiah verpasst mir einen aufmunternden Klaps mit dem Handschuh, bevor er zu seinem Platz zwischen der zweiten und dritten Base zurückkehrt.

Monty atmet aus und hält sich das Trikot über den Mund, damit die Kameras nicht mitschneiden, was er sagt. »Ich muss dich aus dem Spiel nehmen, Ace.«

Ich protestiere nicht. Beschwere mich nicht. Ich stimme einfach zu.

»Du musst dich irgendwie wieder fangen«, fährt er fort.

»Ja, tut mir leid. Ich arbeite dran«, sage ich tonlos, und Monty wirft mir einen warnenden Blick zu, als wolle er mich daran erinnern, dass ich nicht der Einzige bin, der es schwer hat. Und so ist es ja auch – er vermisst seine Tochter ebenfalls wie verrückt.

»Tut mir leid«, füge ich aufrichtig hinzu.

Montys braune Augen mustern mich nachdenklich. »Schnapp dir Max und geh mit ihm nach Hause. Du musst nicht fürs restliche Spiel oder die Presse hierbleiben. Geh und kümmere dich um dich und deinen Sohn.«

Mitten auf dem Spielfeld unter den Blicken von einundvierzigtausend Fans beginnen meine Augen zu brennen, und meine Kehle wird eng, weil ich nicht mehr weiß, wie ich mich um mich selbst kümmern soll.

Ich bin nur noch eine menschliche Hülle. Habe kaum noch Appetit, dusche zu selten, stehe nur noch um Max’ willen überhaupt auf. Bei Liebeskummer ist es eigenartig erleichternd, wenn man sich um jemanden kümmern muss. Man will sich den ganzen Tag in Selbstmitleid suhlen, kann es aber nicht, weil jemand anders auf einen angewiesen ist.

Aber andererseits war schon fast mein ganzes Leben lang immer irgendwer auf mich angewiesen, also ist das eigentlich nichts Neues.

»Nimm das verdammte Handy und ruf sie an, Kai. Vielleicht hilft es dir.«

Ich schüttle den Kopf und schlucke den Klumpen in meinem Hals runter. »Ich komme schon klar. Sie hat im Moment Wichtigeres zu tun und kann es nicht gebrauchen, sich anzuhören, wie beschissen es mir geht.«

Er beobachtet mich einen Moment lang und nickt mir dann zu, um mich vom Feld zu schicken.

Ich jogge vom Spielfeld und durch den Dugout zum Clubhaus, um meine Schlüssel zu holen. Auf dem Weg sehe ich im Trainingsraum vorbei, um Max abzuholen. Er sitzt mit Kennedy auf dem Boden und spielt. Sie hat sich bereit erklärt, heute Abend auf ihn aufzupassen.

»Hey, Ace«, sagt sie sehr vorsichtig. »Wie geht’s dir?«

Ich stöhne. »Bitte kein Mitleid. Ich ertrage es nicht mehr, wenn mich alle ansehen, als würde ich gleich zerbrechen.«

»Tut mir leid, du hast recht. Du wurdest im dritten Inning abgezogen? Autsch. Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Ace, aber ich arbeite nur am Körper. Bei einem geprellten Ego kann ich leider nichts für dich tun.«

Ich bringe ein kaum hörbares Lachen zustande. »Danke.« Max kommt zu mir und streckt mir die Hände entgegen. »Und danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.« Damit wende ich mich zum Gehen, bleibe aber in der Tür noch mal stehen und sehe Kennedy über die Schulter an. »Hast du was von ihr gehört?«

All das Mitleid, das ich nicht haben will, steht in ihrem Gesicht geschrieben. »Ein paarmal, ja. Wenn ich mich bei ihr melde, bekomme ich immer erst mitten in der Nacht eine Antwort. Wenn ich dann zurückschreibe, ist sie schon eingeschlafen. Sie ist sehr beschäftigt.«

Sie ist sehr beschäftigt. Das weiß ich. Und ich hasse es.

»Noch mal vielen Dank, dass du auf ihn aufgepasst hast.«

Ich fahre Max nach Hause und kämpfe die ganze Fahrt über gegen meinen brennenden Wunsch an, einfach zum Handy zu greifen und sie anzurufen, nur um ihre Stimme noch mal zu hören.

Ich bereite Abendessen für Max vor – für mich selbst mache ich nichts. Wie gesagt, ich habe momentan einfach keinen Hunger. Ich bade ihn und kuschle ihn dann in seinen Schlafanzug.

»Max, möchtest du dir ein Buch aussuchen, das wir vor dem Schlafengehen lesen?«, frage ich und setze mich zu ihm auf den Boden.

Er geht zu seinem kleinen Bücherregal und sucht sich ein großes, buntes Buch über Insekten aus, bringt es mir und lässt sich auf den Teppichboden plumpsen. Kuschelt sich zwischen meine Beine und legt den Kopf auf meinen Bauch.

Auch wenn ich fast durchgehend das Gefühl habe, dass es mir nie wieder gut gehen wird, weiß ich, dass ich wieder in Ordnung kommen werde. Ich muss es, für Max, und das schenkt mir einen Funken Hoffnung.

»Ke«, sagt er und deutet auf eine Zeichentrick-Raupe auf den Seiten.

»Ja, das ist ein Käfer. Weißt du, wer hier noch ein Käfer ist?« Ich kitzle ihn. »Du bist ein Käfer!«

Er zappelt wie wild und kichert, und es ist das schönste Geräusch, das ich die ganze Woche über gehört habe. Ich lächle – und zum ersten Mal in dieser Woche ist es nicht aufgesetzt.

Max steht auf, dreht sich zu mir um und begegnet mir Auge in Auge. Seine kleinen Hände betasten mein Gesicht, fahren über meine Wangen und gleiten an meinem Haaransatz entlang.

Er fährt mit einem Finger rund um meine Augen, und ich mache sie sicherheitshalber zu. »Dadda aua«, sagt er, und ich reiße die Augen wieder auf.

Sein Gesicht wirkt so besorgt, viel besorgter, als ein siebzehn Monate altes Kind sein sollte.

Aber ich werde ihn nicht anlügen.

»Ja«, sage ich leise. »Daddy ist traurig, aber es ist okay, traurig zu sein.« Ich stütze ihn ein bisschen, damit er nicht umfällt. »Es bedeutet nur, dass wir jemanden so sehr lieben, dass wir ihn vermissen. Das ist etwas Gutes.«

»Ja«, stimmt er mir zu, ohne wirklich zu verstehen, was ich sage.

»Wir haben uns gegenseitig, Max. Du und ich.« Ich ziehe ihn an meine Brust und halte ihn fest. »Weißt du, wie sehr ich dich liebe?«

»Ja«, sagt er wieder, und diesmal kann ich nicht anders, als zu lachen.

»Weißt du, wie sehr Miller dich liebt? Ich weiß, dass sie dich genauso vermisst, wie wir sie vermissen. Du wirst so sehr geliebt, kleiner Käfer, von so vielen Menschen. Ich will nicht, dass du das jemals vergisst.«

Er schmiegt sich an meine Schulter und kuschelt sich eng an mich … ein sicheres Zeichen, dass es Zeit fürs Bett wird.

Ich stehe auf, lege ihn in sein Bettchen und schalte leise Musik ein. Max’ verschlafener Blick folgt mir.

Er zeigt auf das gerahmte Foto, das neben seinem Kinderbett steht. »Mama.«

Es treibt mir die Luft aus der Lunge, das zu hören. So wie jedes Mal.

»Das ist, äh …« Ich schlucke schwer. »Das ist Miller.«

»Mama!«

»Ja«, sage ich niedergeschlagen, weil ich ihn nicht ständig korrigieren will. Ich beuge mich über sein Bettchen und küsse ihn auf den Kopf. »Ich liebe dich, Max.«

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass das Babyfon eingeschaltet ist, mache ich das Licht aus, schließe die Tür hinter mir und gehe direkt zum Kühlschrank, um mir ein Bier zu holen. Ein Corona, denn ich habe nichts anderes da, und das fühlt sich an, als würde mir das Universum einen riesigen Stinkefinger zeigen.

Ich setze mich auf die Couch, öffne mein Bier und trinke einen Schluck. Kann die Erinnerung an Miller damals im Aufzug nicht abschütteln.

Gott, ich bin ein Wrack. Wie machen andere Leute das nur?

Ich zücke mein Handy und google Millers Namen, suche begierig nach Informationshäppchen über das Mädchen, in das ich verzweifelt verliebt bin.

Jenes Mädchen, das jetzt größeren Träumen nachjagt.

Jeden Abend, wenn Max ins Bett geht, gebe ich ihren Namen in die Suchmaschine ein, und jedes Mal, wenn diese jadegrünen Augen und das dunkle Haar auf meinem Display auftauchen, wird mir ganz flau im Magen, und ich wünschte, ich könnte durch den Bildschirm greifen und sie berühren.

Sie wird mindestens ein Mal pro Tag auf irgendeinem Blog interviewt. Violet hat offenbar ihr Versprechen gehalten, ihr den Terminkalender vollzuballern, sobald sie wieder da ist. Das ärgert mich, es ist genau der Druck, der ihre Krise überhaupt erst ausgelöst hat, aber ich kenne Miller und weiß, dass sie jeder Erwartung gerecht werden kann, wenn sie sich dafür entscheidet. Und diesen Interviews nach zu urteilen, hat sie sich dafür entschieden.

Neben meinem Ärger verspüre ich auch Dankbarkeit dafür, dass Violet sie wieder ins Getümmel geworfen hat, denn deshalb finde ich jeden Abend etwas Neues über sie. Und ja, in meiner hoffnungslosen Sehnsucht versuche ich jedes Mal, zwischen den Zeilen irgendeine versteckte Bedeutung zu finden. Hoffe darauf, irgendwo in einem mit Miller Montgomery – zurück im Geschäft übertitelten Artikel den Satz zu lesen: Miller Montgomery zieht nach Chicago.

Es ist noch nicht lange her, dass Miller meine ständigen Befürchtungen, nicht genug zu sein, übertönt hat. Doch das hat die zweifelnden Stimmen nur für eine Weile zum Schweigen gebracht, aber nicht ausgelöscht.

Jetzt sind sie wieder da und flüstern mir zu, dass Miller fröhlich zu ihrem regulären Leben zurückgekehrt ist, quer durchs Land reist, Interviews für schicke Magazine gibt und nur noch darüber lachen kann, dass sie jemals gedacht hat, das einfache Familienleben mit meinem Sohn und mir könne ihr reichen.

Während ich ihr aktuellstes Interview lese, summt mein Handy.

Ryan: Wir sitzen beim Familienessen. Ich dachte, du würdest nach dem Spiel vorbeikommen?

Mist. Vergessen. Der Kalender, der über den Sommer mit Lichtgeschwindigkeit dahingerast ist, bewegt sich jetzt in Zeitlupe, Tage fühlen sich an wie Monate, und ich verliere zusehends den Überblick. Ja, ich habe vergessen, dass heute Sonntag ist. Wie zum Teufel habe ich diesen Schmerz sieben Tage lang überlebt?

Oder vielleicht habe ich mich unbewusst dazu gebracht, es zu vergessen, weil ein Abend mit meinen hoffnungslos verliebten Freunden das Letzte ist, was ich gerade gebrauchen kann, während ich mich im Liebeskummer suhle.

Ich: Sorry, mir ist was dazwischengekommen. Ich bin nächste Woche wieder dabei.

Vielleicht.

Ryan: Nächste Woche fahren meine Frau und ich in die Flitterwochen.

Mist. Der Mann heiratet kommenden Samstag, und ich habe es völlig vergessen.

Ich: Ich bin ein schrecklicher Freund. Ja, das weiß ich natürlich. Ich freue mich auf Samstag.

Ryan: Mach dir nichts draus. Ich weiß, was du im Moment durchmachst. Wir sind für dich da, wenn du uns lässt.

Ich: Ich komme schon zurecht.

Bevor ich mich wieder auf die Pirsch nach Miller begeben kann, kommt eine neue Nachricht rein.

Indy: Ryan kann dir die Reste vorbeibringen, wenn du noch nicht gegessen hast.

Ich: Danke, Ind, aber ich brauche nichts.

Indy: Ich liebe dich und Max. Ich denke an euch beide.

Ich will mich aus dem Gespräch ausklinken, aber dann kann ich nicht anders.

Ich: Hast du was von ihr gehört?

Klägliche Hoffnung, vermischt mit Furcht.

Indy: Ich habe ihr neulich eine Nachricht geschickt, um ihr zu sagen, dass sie vermisst wird. Sie sagte, dass die Arbeit sie auffrisst, aber sie vermisst alle sehr.

Ich beginne zu antworten, will Indy sagen, dass sie Miller sagen soll, dass Max sie vermisst, dass ich sie vermisse, aber ich reiße mich zusammen. Wenn irgendwer ihr das schreibt, dann ich selbst.

Ich: Ich freue mich auf Samstag.

Indy: Ich auch!!!!!!

Der Gedanke an ein Familienessen ohne Miller ist schon schlimm genug, aber allein zur Hochzeit meiner Freunde zu gehen? Scheiße, das wird heftig. Ich habe sechs Tage Zeit, mich halbwegs zu sortieren, damit ich ihnen nicht den Tag ruiniere.

Aber dann scrolle ich gedankenlos durch meine Kontakte und finde ihren Namen. Er starrt mich an, verhöhnt mich.

Wäre es wirklich so schlimm, wenn ich nur kurz ihre Stimme hören will? Wenn ich ihr sage, wie sehr wir sie vermissen? Vielleicht würde es mir dann besser gehen. Vielleicht würde es auch ihr besser gehen. Oder, das ist wahrscheinlicher, ich will einfach nur hören, dass sie mich ebenfalls vermisst.

Ohne lange zu überlegen, rufe ich sie an.

Mir schlottern die Knie vor Nervosität, als ihr Handy klingelt. Beim vierten Mal nimmt sie ab.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals vor Aufregung, weil sie am anderen Ende der Leitung ist und mich hören kann. »Miller?«

Ich bin mir sicher, dass meine Stimme bricht, als ich ihren Namen sage, aber ich bin zu aufgeregt, als dass es mir peinlich wäre.

»Äh, nein«, sagt eine fremde Stimme. »Hier ist Violet, ihre Agentin. Sie ist gerade in einem Gespräch.«

Die Aufregung verpufft.

»Oh, okay. Wissen Sie, wann sie fertig sein wird?«

»Nein, nicht genau. Sie hat danach noch eine lange Nacht in der Küche vor sich. Ich schätze, sie hat frühestens gegen zwei Uhr morgens oder so frei.«

Zwei Uhr nachts in Los Angeles, das wäre vier Uhr morgens in Chicago.

»Soll ich sie bitten, Sie zurückzurufen?«, fragt Violet.

»Nein. Nein, alles gut. Ich weiß ja, dass sie sehr beschäftigt ist.«

»Das ist sie, aber es ist alles sehr aufregend und wichtig für sie. Und sie ist hier glücklich. Sie fühlt sich wohl in dieser Küche. Lassen Sie sich von mir gesagt sein, sie hat eine große Zukunft in der Branche. Ich habe in meiner Karriere schon viele Köche und Patissiers vertreten, aber noch nie jemanden, der so vielversprechend war wie sie.«

Ich habe ihr so sehr gewünscht, dass sie Erfolg hat. Ich wusste nur nicht, dass es so sehr wehtun würde, von der Seitenlinie aus zuzusehen. Aber wenn ich meine Sehnsucht aus der Gleichung herausnehme … Ich könnte nicht stolzer auf dieses Mädchen sein. Es klingt, als hätte sie endlich gefunden, was sie glücklich macht.

»Hey, Violet.« Ich räuspere mich. »Tun Sie mir einen Gefallen und sagen Sie ihr nicht, dass ich angerufen habe.«

Kurzes Schweigen. »Sind Sie sicher?«

»Ja. Danke. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

»Ihnen auch, Baseball-Daddy.«

Ich lache, offenbar hat mich Miller immer noch unter diesem Namen eingespeichert.

Als ich auflege, fühle ich mich, als wäre wieder der letzte Sonntag. Als würde die ganze Vermisserei wieder von vorn anfangen. Nur weiß ich jetzt immerhin, dass sie glücklich ist. Dass sie erfolgreich ist und ein größeres, spannenderes Leben führt, als ich ihr jemals bieten könnte.