Kapitel 38

Miller

»Wie ist es gelaufen?«, fragt Violet und folgt mir durch die geschäftige Küche. Ich muss die Desserts für den Abend vorbereiten.

»Gut. Genauso wie alle anderen Blog-Interviews diese Woche.« Im Eingangsbereich der Küche mache ich mit dem Klemmbrett in der Hand eine Bestandsaufnahme der Obstlieferungen, die Mavens Restaurant heute erhalten hat, um mich zu vergewissern, dass bis zur nächsten Lieferung am Mittwoch genug da ist.

»Okay, großartig«, fährt Violet fort und scrollt durch ihr iPad. »Da das Restaurant morgen geschlossen ist, habe ich für morgen früh ein weiteres Interview anberaumt … mit dieser bekannten Bloggerin, die sich Pinch of Salt nennt.«

»Ist das wirklich nötig?« Ich gehe die Regale durch und zähle die Kisten mit Kakis, Birnen und Feigen. »Ich habe morgen Nachmittag den Termin mit Food & Wine , und ich bin sicher, dass inzwischen jeder, den es interessiert, weiß, dass ich wieder da bin.«

»Miller, wir bringen dich ins Gespräch. Wir schmieden das Eisen, solange es noch heiß ist.«

»Tja, mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn es ein bisschen abkühlt, damit ich mal kurz durchatmen kann. Seit ich in L.A. bin, hatte ich keinen einzigen Moment für mich, außer beim Duschen oder Schlafen.«

»Na ja, was das angeht …« Violet fährt fort und durchforstet meinen Terminkalender. »Was hältst du davon, beim Duschen ein paar Telefoninterviews zu führen? Wir sollten jede Minute ausnutzen.«

Ich drehe mich zu ihr um. »Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.«

»Natürlich ist das ein Scherz! Hast du etwa deinen Sinn für Humor in Chicago gelassen?«

Meinen Sinn für Humor. Und mein Herz. Beides ist noch drüben, glaube ich.

»Ich werde Pinch of Salt sagen, dass wir stattdessen am Dienstag ein kurzes Gespräch führen. Dann hast du morgen früh vor deinem Termin bei Food & Wine frei.«

Ich nicke. »Können wir so machen.«

Die Tür schwingt auf, und Jenny kommt herein, eine der beiden Patissiers. Sie hält einen Karton mit Himbeeren in der Hand. »Chef, wir haben ein Problem.« Hinter ihr in der Küche herrscht Chaos – lauter fleißige Menschen, die sich für den Ansturm aufs Abendessen rüsten. »Die Himbeeren, die heute geliefert wurden, sind sauer. Richtig sauer.«

Ich nehme eine heraus und halte sie mir an die Nase. Sie hat recht, sie riecht schon viel saurer, als sie sollte, aber ich stecke sie in den Mund, um sicherzugehen.

So ein Mist. Sie taugen nichts, und heute Abend steht eine weiße Schokoladenmousse mit Himbeer-Crémeux auf der Speisekarte, die ich in den letzten zwei Tagen entworfen habe. Ich habe den ganzen Nachmittag daran gearbeitet, alles vorzubereiten – abzüglich der Stunde, in der ich einem weiteren Foodblogger ein Interview gegeben habe.

»Sind alle so?«, frage ich.

»Alle. Vielleicht könnten wir stattdessen ein Brombeer-Crémeux machen? Die wurden heute auch geliefert und sehen gut aus.«

»Nein, das wäre nicht das richtige Geschmacksprofil.«

»Ja, Chef.« Jenny blickt zu Boden.

»Es ist keine schlechte Idee«, sage ich schnell. »Brombeeren sind ein wenig zu sauer für dieses Gericht, aber du denkst mit. Das gefällt mir.«

Ein leichtes Lächeln. »Danke, Chef.«

Mein Blick fällt auf eine Kiste mit Birnen, die ebenfalls heute geliefert wurde. Sie sind für das Gericht mit pochierten Birnen bestimmt, das ich eigentlich für Dienstag vorgesehen habe, aber für Dienstag kann ich mir später immer noch was anderes überlegen.

»Schmeiß die Himbeeren weg. Sag Chef Maven Bescheid, dass wir die Mousse streichen und gegen das Dessert mit pochierter Birne austauschen, das für Dienstag geplant war. Das Pistaziensoufflé bleibt. Und würdest du bitte im Gefrierschrank nach dem Schokoladensorbet sehen?«

»Ja, Chef.«

»Bitte sorg auch dafür, dass Chef Maven weiß, warum wir das Menü ändern. Ihre Küche braucht verlässliche Lieferanten, und bei diesem hier habe ich Zweifel.«

»Na klar, Chef.«

Violet und ich folgen ihr zurück in die Küche, und meine Agentin bleibt mir dicht auf den Fersen.

Heute Abend ist mein fünftes Dinner im Luna’s, dem Restaurant von Chef Maven in Los Angeles. Während meiner Beratertätigkeit bin ich normalerweise nicht unmittelbar am Tagesgeschehen beteiligt, es sei denn, ich springe mal ein, aber die ersten Wochen an einem neuen Arbeitsplatz verbringe ich gern mitten im Geschehen, um herauszufinden, wie Kommunikation und Timing im Restaurant funktionieren. Das hilft mir, das Menü individuell auf die Küche abzustimmen.

»Violet, es geht gleich los«, erinnere ich meine Agentin, während ich meinen Arbeitsplatz organisiere. Mein Stapel sauberer Geschirrtücher liegt genau dort, wo ich ihn haben will, und meine Messer liegen bereit und sind in der richtigen Reihenfolge angeordnet.

»Ich weiß. Ich weiß, ich weiß. Aber ich wollte dir noch das Food & Wine -Layout zeigen, ich habe es heute Morgen per Mail bekommen. Es sieht toll aus, und die Fotos sind fantastisch. Alles ist fertig. Du musst nur noch dein Interview geben, und dann ab damit in die Druckerei.« Violet steckt wieder mal mit der Nase tief im iPad und durchforstet ihre E-Mails auf der Suche nach dem Artikel.

»Vi, könntest du mir das später zeigen? Heute Abend wird es ziemlich hektisch, weil wir ein Dessert vorziehen müssen.«

»Natürlich, Chef.« Sie hält inne und mustert mich. »Hast du heute eigentlich schon was gegessen? Du musst was essen, bevor der Trubel startet.«

Im Luna’s gibt es jeden Tag Essen für die Mitarbeiter, bevor der Restaurantbetrieb losgeht. Ich hatte allerdings noch keine Gelegenheit, mal daran teilzunehmen, weil ich jedes bisschen verfügbare Zeit dazu nutze, Interviews mit allen möglichen Leuten zu führen, die ein Scheibchen von mir haben wollen.

»Ich hole mir gleich was.«

Nur bin ich nicht hungrig und kann mich auch nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal Hunger hatte.

Ich überprüfe noch mal meinen Arbeitsplatz und vergewissere mich, dass Jenny und Patrick, die beiden Patissiers, alles für heute Abend vorbereitet haben. Abgesehen von der pochierten Birne, die noch ein wenig Vorbereitung braucht, sind wir startklar.

Durch das Durchgangsfenster sehe ich, wie Chefkoch Maven in Position geht – mein Zeichen, dass die Türen gleich geöffnet werden und der Service beginnt.

»Violet, ich muss mich an die Arbeit machen.«

»Okay. Ich habe dein Handy. Wo soll ich es hinlegen?«

»Würdest du es bitte bei der Hausverwaltung abgeben? Es liegt doch auf deinem Heimweg, oder? Ich brauche es heute Abend nicht mehr.«

»Mach ich! Ich wünsche dir einen erfolgreichen Abend.«

»Violet.« Ich zeige auf mein Handy in ihrer Hand. »Irgendwelche wichtigen Anrufe oder Nachrichten?«

Sie zögert. »Eine wichtige E-Mail. Die Fotografin des Food & Wine -Shootings hat ein Foto gemailt, das es nicht in die Zeitschrift geschafft hat. Du solltest es dir ansehen, es ist wunderschön.«

Mein Herz wird schwer vor Enttäuschung. Wieder ein Tag, an dem ich nichts von ihm höre.

»Ich sehe es mir später an. Danke.«

»Ich brauche zweimal Hummer-Spaghetti«, ruft Chefköchin Maven in die Runde. »Jeremy, weniger Trüffelschaum auf die Soße, der Teller wird zu voll.«

»Ja, Chef.«

»Chef Montgomery, zwei Soufflés für Tisch sechs und Tisch zehn.«

»Ja, Chef.« Ich werfe einen prüfenden Blick auf die Ofentür.

Maven führt ein straffes Regiment, und ihr Team ist erstklassig.

Ich habe dieses Restaurant ausgewählt, weil ich unbedingt mit Maven zusammenarbeiten wollte, seit ich an der Kochschule in ihrem Seminar war. Heute ist erst der zweite Abend, an dem ich die Gelegenheit habe, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Ich habe herausgefunden, dass Maven nur zwei Abende pro Woche an der Front verbringt und den Rest in die Hände ihrer Stellvertreterin gibt. Tagsüber kümmert sie sich um Bestellungen, Speisekarten und Vorbereitungen und überlässt dann ihrem Team den Abendservice, während sie selbst nach Hause geht.

Und sie rocken die Show. Jeden Abend.

»Chef Montgomery, ich brauche ein Mal Bananas Flambé.«

Zum ersten Mal heute setzt mein Herz aus, und meine Hände erstarren mitten bei der Arbeit.

Bananas Flambé wird selten bestellt. Es ist das vegane Angebot außerhalb der eigentlichen Karte, sautiert in einer karamellartigen Soße und serviert mit veganem Karamelleis.

Und ich denke sofort an Max und unsere gemeinsamen Tage in der Küche.

Schon versetzt es mich wieder an den tränenreichen Abschied vor sieben Tagen zurück. Wie sehr es wehtat, aus Chicago wegzufahren, nachdem ich sie alle vor dem Stadion zurückgelassen habe. Wie Max’ strahlend blaue Augen sich mit Tränen gefüllt haben, obwohl er keine Ahnung hatte, was los war, nur dass er mich und seinen Vater weinen sah.

Der Abschied hat mir das Herz aus der Brust gerissen. Jetzt liegt es zweitausend Meilen weit entfernt bei diesen beiden Jungs, und das einzig Gute an meiner Dauerbeschäftigung ist, dass ich keine Zeit habe, an irgendetwas anderes zu denken als an die Arbeit.

Ich greife in die Tasche meiner Kochjacke und fahre mit den Fingern über die Karte, die ich immer bei mir trage. Es ist die einzige Geburtstagskarte, die ich je aufbewahrt habe. Ich war noch nie sentimental, aber diese beiden Jungs haben mich so verdorben, dass ich die Karte nicht nur aufbewahre, sondern sie auch immer greifbar haben will.

»Chef Montgomery?«, fragt Maven, als ich nicht auf ihre Bestellung reagiere.

Ich ziehe die Hand aus der Tasche und laufe schnell zum Waschbecken, um sie zu waschen. »Ja, Chef. Tut mir leid, Chef.«

Unter Aufbietung aller Willenskraft konzentriere ich mich auf die anstehende Aufgabe. Ich muss nur diese Schicht irgendwie überstehen. Und dann morgen wieder und übermorgen und so weiter, bis dieses entsetzliche Heimweh hoffentlich irgendwann langsam nachlässt.

Mit dem Handtuch über der Schulter wische ich den Rand des Tellers sauber und reiche Maven, die auf der anderen Seite des Durchgangsfensters steht, die flambierte Banane.

»Wunderschön, Chef«, sagt sie und lächelt mich an.

Sie hat recht. Das fertige Dessert ist umwerfend. Das Problem ist nicht mehr, dass ich meine Arbeit nicht machen kann.

Das Problem ist, dass ich es nicht mehr will.

Das Haus, das Violet für mich gemietet hat, liegt in den Hollywood Hills, ist groß und teuer und hat riesige offene Fenster, damit jeder im Tal unten sehen kann, wie einsam ich bin.

Als ich nach einer weiteren langen Nacht im Restaurant zurückkomme, schalte ich nur das allernötigste Licht an, damit ich duschen und ein Glas Wasser trinken kann, und schnappe mir mein Handy von der Theke, bevor ich wieder nach draußen gehe, um in meinem Van in der Einfahrt zu schlafen.

Das Haus mag schön sein, ja, aber so ein Haus ist viel zu leer, wenn nicht Max’ Spielzeug im Wohnzimmer liegt und sich nirgendwo Geschirr stapelt. Es ist zu makellos. Zu perfekt. Und ich vermisse die beiden viel zu sehr.

Im Van ist es genauso einsam, aber immerhin so eng, dass ich mir einreden kann, dass Kai nur deshalb nicht hier ist, weil gar kein Platz für ihn wäre.

Gott, ich vermisse ihn so.

Ich vermisse seinen Geruch, sein Lächeln – das erschöpfte ebenso wie das zuversichtliche. Ich vermisse seinen beständigen Halt und seine überwältigende Ermutigung. Mir ist zumute, als wäre ich in den letzten sieben Tagen keine einzige Sekunde lang zu Atem gekommen, aber das war ja auch immer der Plan.

So wie es von Anfang an der Plan war, dass ich herkommen würde, ohne ihn.

Die kurze Zeit vor dem Schlafengehen ist der schlimmste und beste Teil meines Tages. Der einzige freie Moment am Tag, in dem ich an die beiden denken und mich auf den Schmerz in meiner Brust und die Leere in meinem Bauch konzentrieren kann, die ich tagsüber nur wie ein fernes Echo spüre.

Wir haben seit dem Morgen, an dem ich Chicago verließ, nicht mehr miteinander gesprochen. Mein Vater hat sich während der zweitägigen Fahrt alle paar Stunden gemeldet, und als ich in Kalifornien ankam und ihn fragte, warum er auf einmal zu einem Helikoptervater mutiert ist, sagte er schlicht: »Kai hat mich darum gebeten

Aber mit Kai zu reden würde alles nur noch schwieriger machen. Ich habe mein Leben, und er hat seins. Habe ich mit dem Gedanken gespielt, dass sein Leben auch meins sein könnte? Klar. Will ich es immer noch? Ja, und wie. Aber ich habe Verpflichtungen. Verantwortung gegenüber den Küchen, die mich gebucht haben, und Verantwortung gegenüber meinem Vater, etwas aus dem Leben zu machen, das er mir ermöglicht hat. Und ich muss dem James Beard Award gerecht werden, den ich gewonnen habe. Darf die Redakteure nicht enttäuschen, die mich für die Titelseite ihres Magazins ausgewählt haben.

So muss sich Kai auch oft fühlen. Er ist für alle anderen verantwortlich, versucht ständig, es anderen recht zu machen, und denkt kaum mal an sich selbst.

Allerdings war er in diesem Sommer auch mal egoistisch, und ich muss sagen, es war das Beste, was mir je passiert ist.

Ich klettere ins Bett und ziehe die Decke bis zur Brust, bevor ich zum ersten Mal heute mein Handy zur Hand nehme.

Es warten mehrere Nachrichten auf mich, aber bevor ich sie lese, gehe ich direkt ins Internet, um mir die Ergebnisse von Kais Spiel am Nachmittag anzusehen. Heute war sein zweiter Einsatz, seit ich weg bin, und sein letztes Spiel lief nicht gut.

Den Schlagzeilen nach zu urteilen, war es heute noch schlimmer. Die Warriors haben 5:2 verloren, und Kai wurde im dritten Inning vom Platz geschickt.

Ein kurzer Videoclip zeigt, wie mein Vater und er auf dem Mound stehen. Die Kamera zoomt nicht nahe genug heran, um sein Gesicht klar zu erkennen, aber Kais Körpersprache ist sehr eindeutig. Er ist aufgewühlt. Nicht wütend, aber emotional. Mein Vater nickt ihm zu, und Kai trabt vom Spielfeld, direkt durch den Dugout, zum Clubhaus und aus dem Blickfeld der Kamera.

Das ist meine Schuld.

Meinetwegen geht es ihm nicht gut.

Und auch wenn ich während der Arbeitszeit so tue, als wäre alles in Ordnung, geht es auch mir überhaupt nicht gut.

Tränen brennen in meinen Augen, als mein Blick auf das gerahmte Foto fällt, das Kai mir zum Geburtstag geschenkt hat. Ich mit dem Kopf auf seinem Schoß, auf mir sein schlafender Sohn.

Ich vermisse sie. Ich sehne mich nach ihnen, und ich bin wütend auf Kai, weil er mich auf diese Weise gebrochen hat. Weil ich mich jetzt nicht mehr herrlich frei fühle in meinem selbst gewählten ungebundenen Leben, sondern einsam.

Ich hasse es, dass ich ihn so sehr liebe.

Kann denn eine kurze Nachricht schaden? Eine winzige Nachricht, die ihm sagt, dass ich an ihn denke?

Gerade will ich ihm schreiben, da fällt mein Blick auf die Uhrzeit. Es ist fast drei Uhr morgens. Und mir fällt siedend heiß ein, dass Kai mich gebeten hat, ihm keine Hoffnungen zu machen.

Der Sommer ist vorbei.

Ungeachtet der späten Stunde kommt eine Nachricht von Chef Maven.

Maven: Tut mir leid, dass wir uns diese Woche nicht oft gesehen haben! Treffen wir uns morgen früh im Restaurant auf einen Kaffee? Dann können wir uns zusammensetzen und deine Ideen fürs Menü durchgehen.

So viel zu dem freien Vormittag, auf den ich gehofft hatte. Aber es ist wahrscheinlich das Beste, wenn ich mir keine Zeit zum Nachdenken lasse, denn das führt nur dazu, dass ich die beiden schrecklich vermisse.

Ich: Klingt gut. Bis morgen.

Ich habe Nachrichten von Kennedy, Isaiah, Indy und meinem Vater.

Keine einzige von Kai. Seine Art, mit der Sache abzuschließen, nehme ich an.

Mir wird übel, wenn ich nur daran denke, dass es bald eine andere Frau in ihrem Leben geben könnte, die Kai und Max ebenso sehr liebt wie ich. Dabei ist es das, was ich mir für sie wünschen sollte, oder? Dass sie alles haben, was ich ihnen nicht geben kann. Alles, was sie verdienen.

Nur warum liege ich dann hier im Bett und weine bei dem bloßen Gedanken daran?

Das ist auch seine Schuld. Früher habe ich nie geweint. Jetzt ist es, als wäre ein Damm gebrochen, und wenn ich nicht bei der Arbeit bin, strömt es ununterbrochen aus meinen Augen. Früher habe ich niemanden gebraucht, und jetzt liege ich hier, ein verzweifeltes, schluchzendes Elend mitten in der Nacht in den Hollywood Hills, wegen eines Baseballspielers in Chicago und seines Sohns, die ich beide furchtbar vermisse. Weil ich sie liebe.

Aber ich kann sie nicht haben, weil unsere Leben einfach nicht miteinander vereinbar sind.

Ich blinzle unter Tränen und lese die Nachricht meines Vaters.

Dad: Du hast ja bestimmt die Zusammenfassung des Spiels gesehen. Ruf mich mal an, dann können wir reden. Ich vermisse dich, Millie.

Ich zögere nicht, ihn anzurufen, weil ich seine Stimme hören muss. Weil ich jemanden brauche, der mir sagt, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Denn im Moment fühlt es sich völlig falsch an, hier zu sein. Aber er wird bestimmt finden, dass es sich lohnt. Wird von meinem Erfolg beeindruckt sein.

Mein Anruf wird direkt auf die Mailbox weitergeleitet. Na klar. Es ist mitten in der Nacht.

»Hi, Dad«, sage ich und räuspere mich in der Hoffnung, dass er nicht merkt, dass ich weine. »Ich rufe nur an, um Hallo zu sagen und dass ich dich vermisse. Ich vermisse dich wirklich sehr. Aber hier läuft alles super.« Lieber Himmel, verrät meine Stimme etwa, dass ich Bullshit verzapfe? »Ich habe morgen Nachmittag mein Interview mit Food & Wine , das … Das ist echt aufregend. Tut mir leid wegen des Spiels.«

Ich wollte auf keinen Fall danach fragen, aber dann bricht es doch aus mir heraus: »Geht es Kai gut? Ich hoffe, es geht ihm gut.« Ich stoße ein trauriges Lachen aus. »Aber ich hoffe auch, dass er mich verdammt noch mal vermisst, weil ich ihn sehr vermisse. Und dich. Ich vermisse dich so sehr, Dad. Ich wünschte, du wärst hier, weil ich es vermisse, dein Gesicht zu sehen. Ich habe mich diesen Sommer daran gewöhnt, glaube ich. Früher hat es viel besser funktioniert, das ganze Jahr unterwegs zu sein.«

Ich fange an zu plappern.

»Wie auch immer … Ruf mich an, wenn du kannst, und wenn ich kann, gehe ich auf jeden Fall dran. Ich hab dich lieb. So sehr. Wir sprechen uns bald.«

Als ich auflege und in meinem stillen Van liege, fällt sofort die Einsamkeit wieder über mich her.

Ich hasse es hier. Aber das wage ich mir nicht einzugestehen – außer in den ruhigen Momenten vor dem Einschlafen.

Ich greife wieder nach meinem Handy, in der Hoffnung, dass eine Nachricht von einem meiner Freunde mein Selbstmitleid für eine Sekunde zum Schweigen bringt.

Kennedy: Na, wie läuft’s im Restaurant? Isaiah hört nicht auf, mir zu schreiben, ob er seinen Auszugssong ändern soll, und will wissen, was mein Lieblingslied ist. Und ich vermisse dich!

Zum ersten Mal heute muss ich lachen.

Isaiah: Hier ist deine tägliche Dosis Max. Er hat gestern gelernt, wie man »dick« sagt, aber er spricht das D definitiv wie ein F aus, also war es superlustig. Ich habe ein Video für dich aufgenommen. Du wirst hier sehr vermisst, Hot Nanny.

Er hat mir ein Video geschickt, in dem Max in der Mitte des Clubhauses der Warriors auf seinem Schoß sitzt.

»Maxie, wie ist der Bauch von der Frau hier?«, fragt Isaiah und zeigt auf das Buch, in dem eine schwangere Frau abgebildet ist.

»Danz fick!«, verkündet Max voller Stolz.

Das ganze Clubhaus bricht in Gelächter aus, Max applaudiert sich selbst, und das Team bejubelt ihn.

Schnell schwenkt die Kamera zu Kai, der kopfschüttelnd dasitzt und ein kleines Lächeln zustande bringt, ehe das Video abrupt endet.

Ich sehe es mir noch mal an und entdecke im Hintergrund Cody, Travis und Kennedy, aber dann halte ich das Video bei Kai an.

Selbst wenn er traurig ist, sieht er umwerfend gut aus.

Ich scrolle nach unten zu Isaiahs zweiter Nachricht.

Isaiah: Was glaubst du, was Kennedys Lieblingslied ist?

Und schließlich noch eine Nachricht von Indy.

Indy: Wir haben dich und deine Desserts beim Familienessen heute sehr vermisst. Aber vor allem haben wir dich vermisst! Ich wünschte, du wärst nächstes Wochenende hier.

Indy und Ryan werden nächstes Wochenende heiraten. Ich wünschte, mein Terminkalender würde es mir erlauben, dabei zu sein, aber das geht nicht. Ich werde ihnen wenigstens ein Geschenk schicken.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Freunde. Es gibt Menschen, nach denen ich mich sehne, die ich vermisse. Menschen, die alle höchstens dreißig Autominuten voneinander entfernt wohnen, während ich hier am anderen Ende des Landes versuche, mir einen Namen in der Branche zu machen, um die sich früher mein ganzes Leben drehte.

Ich weiß nicht, wie sich in acht Wochen so viel ändern konnte. Das scheint eigentlich unmöglich zu sein. Und nur aufgrund von kurzen zwei Monaten wichtige Entscheidungen zu treffen, kommt mir auch nicht besonders rational vor. Aber zu meiner Arbeit zurückzukehren, fühlt sich gerade grundfalsch an. Nur kann ich es leider nicht ändern.

Ich klettere vom Bett, nehme das gerahmte Bild, das Kai mir zum Geburtstag geschenkt hat, und nehme es mit ins Bett. Lege es neben mein Kopfkissen, weil ich traurig bin und mich elend fühle und nicht weiß, wie ich mit all diesen neu entdeckten Gefühlen umgehen soll.

Dieses Bild ist alles, was ich von Kai und Max habe, hier in L.A. , wo ich einem Traum nachjage, der immer mehr einem Albtraum gleicht, je länger ich von ihnen getrennt bin.