ZWEI
Lena hatte sich in der letzten Stunde in die alten Akten vertieft, die Warnke ihr per E-Mail hatte zukommen lassen. Jetzt klappte sie ihr neues Tablet zu, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch.
Johann warf ihr vom Fahrersitz einen Blick zu. »Wie wäre es mit ein paar Informationen für den Fahrer und kleinen Assistenten?«
Lena musste unwillkürlich schmunzeln. »Reicht es dir nicht, wenn du meinen Aktenkoffer trägst und schon mal den Wagen vorfährst?«
Er grinste breit. »Weder heiße ich Harry Klein noch hast du einen Aktenkoffer.« Er hob den Zeigefinger. »Also: Was genau ist damals passiert, als ich noch die Schulbank gedrückt habe?«
»Einen kurzen Überblick kann ich dir jetzt schon mal geben, den Rest wirst du dir wohl oder übel durchlesen müssen. Also: Alles fing an mit einem Tötungsdelikt in Flensburg. Später kamen noch Hamburg und Berlin hinzu. Alle drei Fälle deuteten auf einen Auftragsmörder hin. In Flensburg wurde der Täter von einem Zeugen nach der Tat verfolgt. Er hat beobachtet, wie er in ein Hotel ging. Als die Kollegen endlich vor Ort eintrafen, war der Vogel natürlich ausgeflogen. Aber er hatte haufenweise Spuren in seinem Zimmer hinterlassen: DNA und Fingerabdrücke. Wochen später gab es bei einem DNA-Abgleich in Hamburg eine Übereinstimmung. Auch hier sah alles nach einem Auftragsmord aus. Die beiden Bundesländer haben eine gemeinsame SoKo gegründet, je zehn Kollegen, die vor Ort arbeiteten und sich regelmäßig austauschten. Ein Teil der Kollegen suchte nach ähnlich gelagerten Fällen und wurde auch fündig. Allerdings fanden sich hier weder DNA noch andere Spuren, von daher ließ sich die Hypothese, dass es sich um einen Serientäter handelte, nicht abschließend bestätigen. Erst als eine dritte DNA-Spur auftauchte, dieses Mal in Berlin, wurde eine länderübergreifende SoKo mit Sitz in Hamburg gebildet. Dorthin wurde je ein Kollege aus den betreffenden Bundesländern delegiert. Zusammen mit den weiteren Verdachtsfällen aus Bremen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern betraf es am Ende sechs Bundesländer. Bei den weiteren Fällen konnten allerdings keine eindeutigen Spuren zu unserem Mann nachgewiesen werden. Somit waren dann noch sechs Länder-SoKos am Start. Ich war damals noch in Schleswig bei der Kripo und durfte die Kofferträgerin machen.«
Johann grinste. »So schließt sich der Kreis wieder.«
»Kleiner Scherz, aber natürlich war ich für die Laufarbeit auf unterster Ebene zuständig. In der Hamburger Zentrale bin ich nie gewesen, aber gut, die eigentliche Ermittlungsarbeit fand ohnehin vor Ort statt.«
»Den Namen Walter Baumeyer hatte er also in dem Flensburger Hotel angegeben?«
»Richtig! Natürlich ist niemand davon ausgegangen, dass das sein Klarname war. Aber um nicht immer vom Phantom sprechen zu müssen, hieß die SoKo schließlich Baumeyer . Das also zur Grundkonstellation.«
Von der A 1 waren sie kurz vor Flensburg abgebogen und auf der B 200 Richtung Nordseeküste gefahren. Nach Lenas Schätzung würden sie in einer Viertelstunde den Fährhafen erreichen.
»Also sechs Auftragsmorde, drei nachweislich von einer Person, die anderen sind durch die gleiche oder ähnliche Tatausführung in euren Fokus geraten?«
Lena nickte. »Bei den ersten dreien, also Hamburg, Berlin, Flensburg, war es unbestritten, dass wir vom gleichen Täter ausgehen konnten.«
»Du warst nicht überzeugt, dass die anderen Taten auch ins Bild passten?«
»Auf eine kleine Oberkommissarin hat niemand in der SoKo gehört. Und nein, ich war ganz und gar nicht davon überzeugt. Aber gut, drei Auftragsmorde vom gleichen Täter reichen natürlich auch aus, um von einer Serie auszugehen.«
»Aber offensichtlich ist Baumeyer, oder besser gesagt Klaas Rieckert, nicht gefasst worden?«
»Die SoKo wurde von Monat zu Monat kleiner und ist nach knapp einem Jahr aufgelöst worden. Bis auf den jetzigen Treffer ist die DNA nie wieder aufgetaucht. Nicht nur das, wir haben auch keine Gemeinsamkeiten bei den sechs Opfern ermitteln können. Ebenso wenig haben wir belastbare Hinweise auf einen oder die potenziellen Auftraggeber der Morde gefunden.«
»Der perfekte Mord? Mal abgesehen von den DNA-Spuren, die euch aber ja auch nicht zum Täter geführt haben.«
»Eine Zeit lang habe selbst ich vermutet, dass jemand wahllos Menschen tötet, zu denen er nicht die geringste Beziehung hat. Weder persönlich noch per Auftrag durch einen Dritten.«
»Ein Psychopath?«
»Auch dieser Ermittlungsansatz ist verfolgt worden. Wir haben auf wie auch immer geartete Äußerungen des Täters gewartet. Dass er sich mit der Tat brüstet, uns vorführen will, irgendwas. Aber es gab nichts dergleichen. Kein Anruf bei der Presse, kein Bekennerschreiben, kein Hinweis am Tatort, der darauf schließen ließ. Insofern liefen auch hier die Ermittlungen ins Leere.«
Inzwischen fuhren sie über einen langen Damm auf den Hafen zu. Johann fand auf der zum Fährhaus gehörenden Parkzone problemlos einen Platz. Für Anfang Mai war das Wetter mit knapp unter zwanzig Grad ausgesprochen sommerlich. Nur ein leichter Wind wehte von Nordwesten, am wolkenlosen Himmel strahlte die Frühsommersonne. Nachdem sie die Fahrkarten gekauft hatten, besorgte Johann zwei Cappuccino zum Mitnehmen und folgte Lena zum Kai. Da die Fähre noch nicht in Sicht war, suchten sie sich eine Bank mit Blick aufs Wattenmeer.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Lena, nachdem sie einen großen Schluck vom überraschend gut schmeckenden Kaffee getrunken hatte.
»Bei der Psychopathen-Hypothese, die du nicht für sehr wahrscheinlich gehalten hast.«
»Das habe ich nicht gesagt. Wir haben nur keine Hinweise gefunden, die diesen Ermittlungsansatz bestätigt hätten. Außerdem scheint es ja so zu sein, dass die Serie abrupt abgebrochen ist. Auch das spricht gegen einen Psychopathen. Aber gut, wir haben zwar nicht viel Zeit …«
»Warum nicht?«, unterbrach Johann sie.
»Oh!« Lena fiel ein, dass sie Johann noch nichts von Warnkes Bedingungen erzählt hatte. Sie holte es nach und fügte hinzu: »Mehr war nicht rauszuholen. Tut mir leid.«
»Typisch Warnke. Kein Rückgrat, der Mann. Du weißt so gut wie ich, dass wir in den wenigen Tagen kaum was reißen können. Die letzte bekannte Tat ist über zehn Jahre her. Das wird reichlich Ermittlungsarbeit nach sich ziehen.«
»Der damalige Fall steht erst mal nicht zur Debatte. Klaas Rieckerts Tod steht für uns im Mittelpunkt. Offiziell zumindest.«
Johann zerknüllte seinen leeren Becher und warf ihn in den neben der Bank stehenden Mülleimer. »Dann wollen wir hoffen, dass wir auf dieser merkwürdigen Insel schnell Ansatzpunkte finden. Wie viele Menschen wohnen eigentlich da?«
»Hooge ist eine Hallig. Und bevor du fragst, die Häuser stehen auf Warften, es gibt kein Grundwasser, wie zum Beispiel auf Amrum, und auch keinen wirklichen Schutz vor der Nordsee.«
»Warften? Sind das diese Hügel, auf denen immer eine Handvoll Häuser stehen? Ich glaube, ich habe da mal einen kurzen Bericht im Fernsehen …«
»Wie lange lebst du eigentlich schon in Schleswig-Holstein?« Lena winkte ab und fügte hinzu: »Hooge hat nicht einmal hundert Einwohner. Und ja, die Häuser stehen auf aufgeschütteten Hügeln, damit sie bei Land unter nicht in der Nordsee untergehen.«
»Auf dieser …«, Johann brach ab und grinste, »Hallig tobt bestimmt der Bär. Was machen die Menschen da bitte schön?«
Lena stöhnte und trank den letzten Schluck aus dem Becher. »Wart’s ab, Johann. Mit ein wenig Glück wirst du es herausbekommen.«
Die Fähre hatte ein gutes Drittel der Strecke zurückgelegt. Lena stand an der Reling und atmete mit geschlossenen Augen tief die salzige Nordseeluft ein, während Johann auf dem Unterdeck die alten Akten studierte. Er hatte dankend abgelehnt, als Lena sich anschickte, aufs Oberdeck zu gehen.
Lenas Entschluss, direkt nach Hallig Hooge zu fahren, war spontan gefallen. Sie hatte geahnt, dass Warnke sich allenfalls auf ein paar Tage einlassen würde. Nach dem Amrum-Fall im Jahr zuvor, bei dem sie mehrfach aneinandergeraten waren, hatten sie sich einander wieder vorsichtig angenähert, dem ersten Waffenstillstand war ein brüchiger Frieden gefolgt, der sich inzwischen zu einer halbwegs produktiven Form der Zusammenarbeit stabilisiert hatte. Sie würde spätestens am Montag den Täter präsentieren oder etwas in der Hand haben müssen, um eine Chance zu haben, dass Warnke sich für eine Verlängerung ihrer Ermittlungen einsetzen würde. Letztendlich würde der Oberstaatsanwalt als eigentlicher Herr des Verfahrens die Entscheidung treffen. Alles in allem keine gute Ausgangslage für Johann und sie.
Lena zwang sich, an etwas anderes zu denken. Wann hatte sie Rika zum letzten Mal gesehen? War das jetzt über ein Jahr her oder schon zwei? Zu Schulzeiten waren sie eng befreundet gewesen, bis Lena nach Föhr aufs Gymnasium gegangen war und dort während der Woche im Internat gewohnt hatte. Sie hatten Kontakt gehalten, auch nach dem Unfalltod von Lenas Mutter und ihrer »Flucht« von Amrum. Rika hatte ihr immer wieder gut zugeredet und geraten, den Kontakt zum Vater nicht vollkommen abbrechen zu lassen. Aber Lena hatte, bis auf die innige Beziehung zu ihrer Tante Beke, einer Schwester ihrer Mutter, jegliche Verbindung zu Amrum aufgegeben. Erst das neuerliche Aufeinandertreffen mit ihrer Jugendliebe Erck hatte ihre ablehnende Haltung aufgeweicht, auch wenn sie immer noch einen großen Bogen um ihren Vater machte. Der nächste Schritt in ihrem Leben würde das gemeinsame Haus in Husum sein. Alles andere hatte Lena noch weit von sich weggeschoben.
Die Fähre passierte Hallig Gröde, die mit nur drei Häusern und rund zehn Einwohnern als kleinste Gemeinde Deutschlands galt. Rechts lag die Hallig Langeneß, mit siebzehn Warften und wenig mehr Einwohnern als Hooge. Mehr als die Hälfte der Überfahrt war geschafft. Lena reckte noch einmal den Kopf in den Wind und kehrte zu Johann aufs Zwischendeck zurück.
»Doch zu kalt draußen?«, fragte er, als Lena sich wieder zu ihm an den Tisch setzte und sich die Hände rieb.
»Alles gut. Und bei dir?«
»Ich wühl mich durch die Akten. Ganz schön viel. Das hier ist ja lediglich die Zusammenfassung. Wie viele Ordner hat euer Archiv umfasst?«
Lena schmunzelte. »In Metern? Oder Kilometern?«
»Wie lange fahren wir noch?«
»Eine gute halbe Stunde, würde ich vermuten. Du siehst etwas blass aus. Geht es dir nicht …«
»Ich werde es überleben«, murmelte Johann und rollte mit den Augen. »Und wenn nicht, weißt du ja, wen du zu benachrichtigen hast.«
Lediglich acht Fahrgäste verließen im kleinen Anlegerhafen von Hooge die Fähre. Rika de Boer stand am Kai und winkte ihrer Freundin zu. Nach einer herzlichen Umarmung begrüßte sie Johann und zeigte auf einen alten Golf, der in der Nähe stand.
»Immer noch der alte Golf von meinem Vater. Solange ich den Rost in Schach halten kann, bleibe ich ihm treu«, sagte Rika lachend.
Johann zwängte sich auf den Rücksitz, Lena reichte ihm die Reisetaschen nach hinten durch und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Auf geht’s!«
Langsam fuhr Rika an, als habe sie Angst, dass der Golf überlastet sei. Nach wenigen Metern zeigte sie auf den ersten Hügel mit einigen Häusern und erklärte Johann mit Blick in den Rückspiegel: »Das ist die Backenswarft. Café, Restaurant und sogar eine sogenannte Zahlstelle der Bank. Jeden Tag eine Stunde geöffnet.«
Sie ließen die Warft links liegen und fuhren einen Kilometer geradeaus weiter, bis wieder eine, diesmal größere Warft zu sehen war. »Die Hanswarft. Sozusagen unsere Hauptstadt. Das Gemeindebüro, der Halligkaufmann und noch so einiges mehr.«
Sie bog scharf rechts ab und hielt nach kurzer Fahrt auf eine kleinere Hallig zu, die vier Häuser umfasste. »Hier wohne ich. Am besten, Sie checken gleich bei meiner Nachbarin ein. Marta Rose, eine nette alte Dame, die sich schon auf Sie freut.«
Rika de Boer parkte den Golf und stieg aus. Als Johann mit der Tasche in der Hand vor ihr stand, zeigte sie auf das Nebengebäude. Im gleichen Augenblick öffnete eine ältere Frau mit Kittelschürze die Tür und winkte Rika freundlich zu. »Gehen Sie ruhig. Marta weiß ja Bescheid.«
Johann warf Lena einen fragenden Blick zu. »Telefonieren wir später? Ich mach mich noch einmal über die Akten her.«
Als Lena nickte, bedankte er sich bei Rika de Boer und lief auf ihr Nachbarhaus zu.
»Netter Kollege. Ist er schon vergeben?«
Lena stieß ihrer alten Freundin spielerisch in die Seite. »Johann ist erstens viel zu jung für dich, zweitens bist du verheiratet und drittens ist mein Kollege schwer verliebt in seine Freundin.«
»Fragen darf man doch mal, oder? Schließlich ist Hauke für ein paar Tage auf dem Festland. Da werde ich doch …«
Lena lachte herzlich. »Jetzt hör auf und lass uns reingehen. Ich brauche dringend eine heiße Tasse Tee und ein weiches Sofa.«