VIER
Der Wind war erheblich stärker als am Tag zuvor. Am Himmel drängten sich dunkle Wolken, die nach Regen aussahen. Johann zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und schüttelte sich leicht.
Er wandte sich zu Lena um. »Wo müssen wir lang?«
»Erst mal runter von der Warft und dann nach links.«
Sie liefen parallel zu einem breiten Prielausläufer Richtung Nordosten. Auf den weit ausufernden Wiesen drängelten sich Hunderte Vögel, flogen in Gruppen auf oder landeten auf einem der freien Plätze. Johann schien kein Auge zu haben für das Naturschauspiel, das Lena faszinierte und an ihre Jugend auf Amrum erinnerte. Sie blieb stehen und schaute den Vögeln eine Weile zu, bis Johann sie mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr zur Eile nötigte.
»Keine Angst, Frau Holzer läuft uns schon nicht weg«, entgegnete Lena. »Ob wir ein paar Minuten später kommen, spielt hier keine Rolle.«
Johann sah sie verwundert an, schwieg aber.
»Hörst du das?«, fragte Lena.
»Was meinst du? Die Vögel oder den Wind?«
»Die Stille. Keine Motorengeräusche oder sonstiger von Menschen gemachter Lärm. Nur Natur. Herrlich!« Sie war wieder stehen geblieben und drehte sich einmal um sich selbst.
»Stille?« Johann schien irritiert zu sein. »Sollten wir jetzt nicht …«
Lena lächelte. Sie hatte in der Nacht bei offenem Fenster geschlafen und war so ausgeruht wie selten aufgewacht. Auch wenn sie Rikas Begeisterung, die selbst nach über zehn Jahren noch anhielt, skeptisch begegnet war, konnte sie sich vorstellen, was ihre Freundin an die Hallig band.
»Ist es da drüben?«, fragte Johann und zeigte auf die Warft.
»Nein, das ist die Kirchwarft. Da stehen nur die Kirche und das Pastorenhaus. Wir müssen kurz vor dem Seglerhafen über die Brücke und dann noch ein paar Hundert Meter.«
Johann blies der Wind direkt ins Gesicht. Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte rückwärts. »Wie bitte schön ist das erst im Winter?«
»Herrlich ruhig, vermute ich.«
Rechts von ihnen erhob sich die Kirchwarft. Die Halligkirche war nur an ihrer länglichen Form und an den oben spitz zulaufenden Fenstern zu erkennen. Rundherum befand sich der Friedhof. »Eine Kirche und wahrscheinlich noch ein Pastor, aber kein Polizist.«
»Lass gut sein, Johann. Die Pastorenstelle ist schon eine Weile nicht vollständig besetzt. Der Pastor ist nur zwei Tage in der Woche auf Hooge.«
»Kein Wunder«, murmelte er und wandte sich wieder dem Wind zu.
Im kleinen Seglerhafen lagen nur drei Boote, sie überquerten den Priel, gingen wieder auf die Kirchwarft zu, bevor sie scharf links abbogen. Lena schätzte die Entfernung auf knapp einen halben Kilometer und genoss die letzten Schritte, bis sie hinauf zur Backenswarft gingen. Lena erinnerte sich, hier schon bei früheren Besuchen gewesen zu sein – im Restaurant Friesenpesel mit Rika.
Nach kurzer Suche fanden sie das Haus, an dessen Tür die Namen von Klaas Rieckert und Maike Holzer in eine Tonfliese eingeritzt waren. Lena klingelte und wenige Sekunden später öffnete eine kleine Frau mit kurzen blonden Haaren die Tür. Sie war in Schwarz gekleidet und man sah ihr an, dass es ihr nicht gut ging. Dunkle Ringe unter den roten Augen, der Oberkörper war leicht nach vorne gebeugt, der Kopf gesenkt. Ihr erster Blick fiel auf Lena, sie lächelte matt, bis sie Johann entdeckte. Anscheinend irritiert sah sie Lena an, die ihr die Hand entgegenstreckte. »Lena Lorenzen von der Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege Johann Grasmann. Hat Rika mich angekündigt?«
Maike Holzer nickte und trat zur Seite. »Die zweite links.«
Sie betraten die Küche. Gegenüber einer modernen Küchenzeile stand ein langer Tisch mit acht Stühlen. Maike Holzer holte eine weitere Teetasse und stellte sie zu den anderen beiden auf den Tisch. Schließlich schenkte sie aus der bereitstehenden Teekanne ein, nachdem sich die Kommissare jeweils ein Kluntje in die Tasse gelegt hatten.
»Ich möchte Ihnen als Erstes unser Beileid aussprechen«, begann Lena das Gespräch.
»Danke«, sagte Maike Holzer so leise, dass es kaum zu verstehen war.
Lena ließ sich für die erste Frage Zeit, trank zuerst einen Schluck Tee und sah sich dann in der Küche um. Sie war praktisch eingerichtet und schien auch für die Feriengäste zugänglich zu sein. An einem der Kühlschränke hing ein Schild mit der Aufschrift »Privat«, auf dem anderen stand »Gäste«. Neben einem großen Wasserkocher standen zwei Kaffeemaschinen. An der Wand hingen Regale, auf denen zahlreiche Teller und Tassen standen.
»Mein Kollege und ich sind hier, weil die Spuren darauf hindeuten, dass Ihr Lebenspartner kurz vor seinem Tod an Armen und Beinen gefesselt war«, begann Lena. »Aus dem Grund gehen wir im Moment von Fremdverschulden aus.«
»Fremdverschulden? Was heißt das?« Dieses Mal war Maike Holzer besser zu verstehen, auch wenn sie immer noch leise sprach.
»Wir vermuten, dass Klaas getötet wurde. Jemand hat ihn wohl im Watt ausgesetzt, kurz bevor die Flut kam.« Lena hatte bewusst den Nachnamen weggelassen, um mehr Nähe zu Rieckerts Lebensgefährtin aufzubauen.
Die ersten Tränen liefen über Maike Holzers Wangen. Sie starrte Lena ungläubig an. »Aber wer denn?«
»Um das herauszubekommen, sind wir hier. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Sie nickte stumm.
Lena hatte im Bericht der Husumer Kollegen gelesen, dass Klaas Rieckert drei Tage vor seinem Auffinden das Haus verlassen hatte, um mit der Fähre zum Festland zu fahren. Der Kapitän des Schiffes hatte bestätigt, dass er gegen elf am Vormittag in Schlüttsiel ausgestiegen sei.
»Wo wollte Klaas hin, als er aufs Festland gefahren ist?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das hat er nicht genau gesagt. Ich glaube, er wollte einen Freund in Husum besuchen.«
»Wissen Sie, wer der Freund gewesen sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hat er gesagt, wann er vom Festland zurückkehren würde?«
»Nein, nicht genau. Aber meistens blieb er ein paar Tage. Sonst lohnt es sich ja gar nicht, hat er immer gesagt.«
»Hat er sich in den Tagen und Wochen vor seinem Tod verändert oder ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich weiß nicht. Klaas war … Er hatte so seine Eigenheiten.«
Lena wartete, ob Maike Holzer weiter darauf einging, und fragte dann vorsichtig: »Was für Eigenheiten waren das?«
»Es ging ihm nicht immer gut.« Sie zögerte. »Meine Oma hätte ihn vielleicht als trübsinnig bezeichnet, aber das stimmt nicht. Das Leben war ihm manchmal einfach zu viel.« Sie warf einen kurzen Blick zu Johann, der sich wie immer Notizen machte. »Seine Mutter hat mir einmal erzählt, dass Klaas’ Vater … dass er auch manchmal Schwierigkeiten hatte. Es könnte ja sein …« Sie brach ab.
»Und wie war es in der letzten Zeit?«, fragte Lena nach einer kurzen Pause.
Maike Holzer atmete flach, den Kopf gesenkt. Schließlich sah sie Lena an und schien etwas sagen zu wollen, seufzte aber nur leise. Lena gab Johann einen Wink, der aufstand und fragte, ob er die Toilette benutzen könnte. Als er die Küche verlassen hatte, versuchte Lena es erneut. »Wie war es in der letzten Zeit?«
Maike Holzer sah kurz zur Tür. »Rika hat mir gesagt, dass du ganz in Ordnung bist.« Erst jetzt schien ihr aufzufallen, dass sie Lena geduzt hatte. »Entschuldigung, aber …«
»Schon gut, wir können uns gerne duzen.«
Maike Holzer nickte. »Ja, du kommst von Amrum, sagt Rika?«
»Ich bin da geboren und aufgewachsen. Rika und ich waren in der gleichen Klasse und Freundinnen. Wir sind es bis heute.«
»Das ist gut.« Sie sah wieder zur Tür. »Der junge Mann … ich meine, muss er …« Sie schluckte. »Können wir auch allein reden?«
Lena stand auf. »Ich sage ihm nur kurz Bescheid, okay?«
Sie fand Johann im Flur und erklärte ihm die Situation. Er nickte. »Vielleicht hat ja das Café auf. Ich habe da eben ein Schild gesehen.« Im nächsten Augenblick hatte er bereits die Haustür geöffnet und war verschwunden. Lena stöhnte leise. Wenn schon Maike Holzer Schwierigkeiten hatte, mit ihnen beiden zu sprechen, würde es bei anderen Halligbewohnern noch schwieriger werden. Lena verschob das Problem auf später und ging zurück in die Küche.
»Mein Kollege wartet auf mich im Café nebenan.«
Maike Holzer schenkte Tee nach. »Du hast gefragt, ob es Klaas nicht so gut ging. In den letzten Wochen, bevor er …« Sie schloss kurz die Augen. »Er war sehr still. Das kam manchmal vor, aber meistens im späten Herbst oder im Winter.«
Lena ließ ihr Zeit und wartete, bis sie nach einer Weile weitersprach.
»Erst dachte ich, er wäre auf mich wütend. Wir hatten uns nämlich gestritten. Er war wirklich ein wunderbarer Mensch, aber manchmal … Ich konnte dieses ewige Schweigen nicht mehr ertragen. Da ist mir wohl der Kragen geplatzt.« Ihr Blick haftete auf der Teetasse, die sie leicht nach rechts und dann wieder nach links schob. »Jetzt sind ja noch nicht so viele Gäste auf Hooge. In der Hauptsaison arbeite ich schon mal im Friesenpesel oder helfe anderswo aus. Dann hat man Kontakt und kommt auch raus. Wir haben ja keine Kinder.« Sie atmete schwer, sah auf und lächelte matt. »Für Hooger Verhältnisse bin ich ja noch nicht so lange hier. Und am Anfang … man überlegt ja schon. Und dann war es wohl zu spät und hat leider nicht mehr geklappt.« Sie sah aus dem Fenster und beobachtete einen Vogel, der auf der Fensterbank hin und her lief. »Ich bin jetzt achtundvierzig. Als ich auf die Hallig gekommen bin, das war vor fünfzehn Jahren, da war ich dreiunddreißig. Es war ein Urlaub und dann habe ich Klaas kennengelernt. Ganz verrückt, aber ich bin dann hiergeblieben. Ich hatte zu der Zeit keine Arbeit und meine Wohnung in Hamburg … ich habe nicht viel zurückgelassen.«
»Hat Klaas sich mit jemandem auf der Hallig nicht so gut verstanden?«
Maike Holzer sah auf. »Du fragst danach, ob er Feinde hatte?«
»Ich wollte es nicht so krass ausdrücken, aber ja, das war letztlich meine Frage.«
Maike Holzer ließ sich Zeit mit der Antwort. Lena spürte, wie sehr sie mit sich kämpfte und zu überlegen schien, was sie sagen sollte und wollte. »Du kennst das sicher von Amrum und hier sind wir noch mehr aufeinander angewiesen. Man muss miteinander auskommen, egal was ist. Das weiß eigentlich jeder und so verhalten sich die Leute hier auch.«
Als sie nicht weitersprach, fragte Lena: »Aber?«
»Das ist die eine Seite und es wäre schön, wenn das auch immer so wäre. Man kann sich hier schlecht aus dem Weg gehen, aber was soll man machen, wenn man sich nicht riechen kann. Manches Mal habe ich schon gedacht, dass der eine oder andere hier auf Hooge ganz schön viel in sich reinfrisst und sich da dann einiges anstaut. Trotzdem immer freundlich zu bleiben ist da nicht leicht, oder?«
»Nein, ganz sicher nicht«, stimmte ihr Lena zu.
»Vielleicht gibt es zwei oder drei Leute, mit denen Klaas nicht immer klarkam – oder umgekehrt, sie nicht mit ihm.« Sie stutzte. »Ich kann aber doch niemanden anschwärzen. Es kann doch nicht sein, dass jemand Klaas das angetan hat. Nur weil es hier und da mal etwas Streit gab oder ein paar böse Worte gefallen sind.«
»Um was ging der Streit?«, fragte Lena vorsichtig weiter.
»Uralte Sachen. Klaas hat es mir nie richtig erzählt. Manchmal kam es mir so vor, als wenn sie die Streitigkeiten ihrer Väter oder Großväter austragen würden.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist, mir jetzt Namen zu nennen. Ich kann dir aber versprechen, dass ich vorsichtig mit den Informationen umgehe. Die Männer werden nicht erfahren, dass du sie mir genannt hast.«
Lena sah ihrer Gesprächspartnerin an, wie anstrengend das Gespräch für sie war. In den letzten Minuten war die Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Hand zitterte leicht und die Augenlider flatterten. Lena würde sie ein zweites Mal befragen müssen.
»Enno Brunken, Jan Thomsen und vielleicht noch Eike Knudsen.«
Lena notierte sich die Namen in ihrem Notizbuch und legte es wieder zur Seite.
»Knudsen lebt inzwischen auf dem Festland. Er ist nur ab und zu hier. Enno ist auch viel unterwegs, aber Jan kannst du auf der Hallig erreichen. Aber bitte …« Es verschlug ihr die Sprache und Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Lena reichte ihr ein Taschentuch und beteuerte noch einmal, dass sie ausgesprochen vorsichtig vorgehen würde. Maike Holzer wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch. »Ich will hier weiter leben. Und das geht nur, wenn …« Zum wiederholten Mal brach sie mitten im Satz ab.
»Ich verstehe ja, was du meinst«, versuchte Lena, sie zu beruhigen. »Aber wenn ich nicht die Fragen stelle, kommen andere Kriminalbeamte. Du hast ja sicher schon mit Kollegen aus Husum gesprochen.«
»Ja, der Mann war nicht sehr höflich. Er hat aber nichts davon gesagt, dass Klaas …«, sie zögerte lange, bevor sie fortfuhr und das für sie Schreckliche aussprach, »… dass Klaas umgebracht wurde.«
»Der Kollege konnte das noch nicht wissen.« Lena hielt kurz inne und stellte noch eine letzte Frage. »Wie geht es Klaas’ Mutter? Kann ich mit ihr sprechen?«
Maike Holzer nickte. »Sie ist eine sehr starke Frau, musst du wissen. Viel stärker als ich.« Sie sah Lena direkt in die Augen. »Wann kann ich Klaas jetzt beerdigen?«
»Ich denke, dass er in ein oder zwei Tagen …«, Lena suchte nach den richtigen Worten, »… dass er dann zurück nach Hooge kommt.«
Maike Holzer atmete erleichtert auf. »Danke. Das ist gut.«