SECHS
Jan Thomsen war nicht größer als Lena, stämmig und mit Bauchansatz. Sie schätzte sein Alter auf um die fünfzig Jahre, war sich aber wegen Thomsens schütterem Haar unsicher. Seine Nase war rot angelaufen, was Lena auf zu hohen Alkoholkonsum zurückführte. Der Mann stand in der Nähe eines Gebäudes auf Holzstelzen, das, wie Lena wusste, als Klubhaus genutzt wurde.
»Ich hab aber nicht viel Zeit«, verkündete Jan Thomsen, nachdem sich Lena vorgestellt hatte.
»Können wir uns irgendwo hinsetzen?«
Der Mann rollte mit den Augen und wies mit dem Kopf auf das Klubhaus. Gleichzeitig zog er einen Schlüssel aus der Tasche und ging auf die Holztreppe zu, über die das Holzhaus zu erreichen war.
Er führte Lena in ein kleines Büro, setzte sich hinter den Schreibtisch und wies auf den Holzstuhl, der auf der anderen Seite stand.
»Ich untersuche den Tod von Klaas Rieckert.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Der Hafenarbeiter warf Lena einen herablassenden Blick zu. »Und?«
Lena entschloss sich zu einer anderen Strategie, als sie geplant hatte. »Sie sind hier für den Seglerhafen zuständig?«
»Auch.«
»Ich brauche eine Liste aller Boote, die in den drei Tagen vor Rieckerts Auffinden hier gelegen haben.«
»Warum?«
Lena lächelte. »Tut mir leid. Über Details unserer Ermittlungen kann ich Sie leider nicht informieren. Wann können Sie mir die Liste fertig machen?«
»Kommen Sie morgen früh. Gegen zehn.«
»In Ordnung«, antwortete Lena, die kurz überlegt hatte, ihn unter Druck zu setzen.
»Haben Sie auch ein Segel- oder Motorboot?«
»Und wenn?«
»Haben Sie?«
»Zum Teil«, kam die lapidare Antwort.
»Bedeutet?«
»Die gehört nicht nur mir.« Er stand auf, drehte sich zur verglasten Wand um und zeigte auf eine mittelgroße Segeljacht. »Die da«, sagte er und setzte sich wieder.
»Wie war Ihr Verhältnis zu Klaas Rieckert?«
Der abrupte Themenwechsel schien Jan Thomsen zu irritieren. Er verzichtete auf die bisher übliche Gegenfrage und meinte: »Wie das hier so ist. Gut.«
Lena sah ihn ruhig an und wartete. Zunächst hielt er ihrem Blick stand, wandte sich dann aber ab und stand auf, um das Fenster auf Kipp zu stellen. Als er wieder auf dem Schreibtischstuhl saß, zuckte er mit den Schultern. »Es gab schon Zeiten, da waren wir nicht unbedingt gut Freund.«
»Um was ging es genau?«
»Alte Sachen. Spielt keine Rolle mehr.«
»Erzählen Sie es mir trotzdem.« Lena versuchte, ruhig zu bleiben. Unter normalen Umständen hätte sie schon zu Anfang des Gesprächs deutlich gemacht, dass es sich um eine Mordermittlung handelte und nicht um ein beliebiges Gespräch.
»Wofür soll das wichtig sein?«, fragte Thomsen misstrauisch.
»Klaas Rieckert ist nicht versehentlich im Watt ertrunken. Wir gehen von Fremdeinwirkung aus. Dass dies eine umfangreiche Untersuchung nach sich zieht, können Sie sich sicher vorstellen.«
»Also doch!«, murmelte Jan Thomsen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ermordet. Das wollen Sie mir doch sagen, oder?«
»Was genau passiert ist, ist Gegenstand der Ermittlungen.« Sie hielt kurz inne. »Könnten Sie jetzt bitte meine Frage beantworten?«
»Uralter Kram. Hab ich doch gesagt. Unsere Väter waren sich nicht grün und das zieht sich dann manchmal ewig hin. Kennen Sie doch sicher, wenn Sie von Amrum kommen.«
Die Buschtrommel funktionierte also bestens, stellte Lena fest. Ihr war klar, dass die Halligbewohner in spätestens einer halben Stunde von den neuen Fakten rund um Rieckerts Tod Bescheid wissen würden.
»Um was ging es da genau bei der Fehde zwischen Ihren Vätern?«
»Fehde. Das hört sich jetzt aber wild an.« Er schaute demonstrativ auf die Uhr. »Die haben sich nicht immer gut verstanden. Das kommt vor.«
»Mehr wissen Sie nicht darüber?«
»Nein.« Er drehte sich mit seinem Bürostuhl zum Fenster und zeigte zur Kirchwarft mit dem Friedhof. »Fragen können Sie ihn auch nicht mehr. Er hat die Warft gewechselt. Wie wir alle irgendwann.«
»Wann ist Ihr Vater verstorben?«
»Neun Jahre ist das her. Ein Unfall, wenn Sie es genau wissen wollen.«
»Hier auf Hooge?«
»Ja.« Jan Thomsen schien nicht gewillt zu sein, weiter Auskunft über das Schicksal seines Vaters zu geben. Er stand auf. »Ich muss los.«
Lena erhob sich. »Planen Sie bitte morgen etwas mehr Zeit ein. Ich bin Punkt zehn Uhr hier.«
Thomsen reagierte nicht auf ihre Ankündigung und ging zur Tür, wo er wartete, bis Lena an ihm vorbeigegangen war. Zusammen gingen sie die Treppe hinunter, Thomsen stieg in einen kleinen Fiat und fuhr grußlos davon.
»Eine Tasse Tee?«, fragte Rika, als Lena zurück im Haus war.
»Gerne.« Lena setzte sich an den Küchentisch und machte sich einige Notizen zum Gespräch mit Thomsen.
Rika stellte zwei Teetassen auf den Tisch. »Hat nicht viel erzählt, unser Jan, oder?«
»Das könnte man so formulieren.« Lena klappte ihr Notizbuch zu. »Weißt du etwas über den Unfall von Thomsen senior?«
»Klar. Die Geschichte kennt jeder hier auf Hooge. Tom war mit dem Trecker unterwegs, ist vom Weg abgekommen und in den Graben gefahren. Dabei ist das Teil umgekippt, er ist rausgefallen und vom Hinterrad erdrückt worden. Schreckliche Sache.«
»Weißt du auch noch etwas über die Fehde zwischen den beiden Familien?«
Rika schenkte Lena und sich Tee ein und setzte sich mit an den Tisch. »Da musst du Hauke fragen. Er hat mal was erwähnt, aber ganz genau kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, die beiden, also die Väter von Klaas und Jan, sind zusammen zur See gefahren. Irgendwas war da. Eine alte Geschichte, hat Hauke gesagt.«
»Jan Thomsen hat was von einem Segelboot gesagt, das ihm zum Teil gehört.«
Rika nickte. »Enno Brunken und Eike Knudsen. Die drei sind Freunde oder waren es. So genau blicke ich da auch nicht durch. Auf jeden Fall haben sie sich, aber das ist schon eine Weile her, zusammen ein Boot gekauft. Enno lebt auf Hooge, Knudsen nicht mehr.«
»Ist Enno Brunken gerade auf Hooge?«
Rika zögerte kurz, bevor sie antwortete: »Ja, ich habe ihn heute schon gesehen. Er hat einen Ferienhof auf der Rüdingswarft. Das macht überwiegend seine Frau, aber er ist regelmäßig auf dem Festland. Einkaufen für die Küche und ich glaube, er hat da auch noch irgendeinen Nebenjob.«
»Rüdingswarft? Die ist ganz im Nordwesten?«
»Vier Kilometer. Du kannst mein Auto haben, wenn du mit ihm sprechen musst.«
Lena warf einen Blick nach draußen. Es regnete wieder und die dunklen Wolken schienen sich zugezogen zu haben. »Ist vielleicht besser.«
Lena parkte den alten Golf am Fuß der Warft und ging die letzten Meter zu Fuß. Rika hatte ihr erzählt, dass Brunken den Hof seiner Eltern vor zehn Jahren komplett umgebaut hatte. Zehn Schlafzimmer, ein großer Raum für die Mahlzeiten und andere Aktivitäten. Schulklassen und Vereine buchten seitdem den ganzen Ferienhof. Zwei lang gestreckte Gebäude füllten fast die ganze Warft aus. Als Lena an der Tür klingelte, öffnete ihr eine etwa vierzigjährige Frau mit blonden Haaren, die sich als Lisa Brunken vorstellte. Lena fragte nach ihrem Mann und wurde hereingebeten. Frau Brunken führte sie durchs Haus zu einem Raum, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift »Büro« angebracht war. In dem kleinen Raum stand ein Schreibtisch, hinter dem ein Mann saß.
»Polizei«, sagte Frau Brunken und schloss die Tür hinter Lena.
Der Mann stand auf und stellte sich als Enno Brunken vor. »Sie wollten zu mir?« Er war groß und kräftig, hatte mittelblondes Haar und ein markantes männliches Gesicht.
»Können wir uns setzen?«, fragte Lena, während Brunken ihren Ausweis studierte. »LKA? Aus Kiel?«
»Setzen wir uns doch«, wiederholte Lena.
Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, und zog sich schließlich den Stuhl heran.
»Wir ermitteln im Zusammenhang mit dem Tod von Klaas Rieckert. Wie standen Sie zu ihm?«
Enno Brunken schien über den Grund ihres Besuchs nicht erstaunt zu sein. Lena vermutete, dass sein Freund Jan ihn bereits informiert hatte.
»Ganz normal«, sagte er. »Wie das so ist, hier auf Hooge.«
Den Satz hatte Lena inzwischen wiederholt gehört. »Was war Rieckert für ein Typ?«, wechselte sie bewusst die Richtung.
»Typ? Bisschen altmodisch, würde ich sagen. Er hätte am liebsten die Uhr um hundert Jahre zurückgedreht. Natürlich sollten gleichzeitig die ganzen Annehmlichkeiten, die es inzwischen gibt, bestehen bleiben. Fährverbindung, Wasserleitung vom Festland, Internet und Telefon. So war er, unser Klaas.«
»Wie lange kannten Sie sich schon?«
Enno Brunken lachte. »Seit wir laufen konnten. Klaas war zwar nicht direkt mein Jahrgang, aber in der Schule waren wir alle in einem Klassenraum untergebracht.«
»Sie waren befreundet?«, tastete sich Lena langsam heran.
Enno Brunken ließ sich Zeit mit der Antwort. »In jungen Jahren vielleicht. Später nicht mehr so wirklich.« Er zog seine Mundwinkel hoch. »Darauf wollen Sie doch hinaus, oder? Und ja, ich habe schon gehört, dass Klaas nicht verunglückt ist, sondern jemand nachgeholfen hat. Leider sind Sie da bei mir an der falschen Adresse. Vielleicht sind wir uns aus dem
Weg gegangen, aber verfeindet waren wir bestimmt nicht. Und selbstverständlich habe ich ihn auch nicht umgebracht.«
Lena machte sich einige Notizen, sah dann auf und fragte: »Wann haben Sie Herrn Rieckert zum letzten Mal gesehen?«
Brunken zuckte mit den Schultern. »Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Sie meinen ja sicherlich kein zufälliges Treffen auf der Straße, sondern etwas anderes.«
Lena wartete, bis er weitersprach.
»Beim Biikebrennen Mitte Februar vielleicht.« Er schien zu überlegen. »Doch, ganz sicher sogar. Wir haben sogar ein paar Worte miteinander gewechselt.«
Biikebrennen war ein traditionelles Fest am 21. Februar, das an der gesamten schleswig-holsteinischen Küste mit großen Feuern gefeiert wurde.
»Worum ging es?«, fragte Lena weiter, auch wenn ihr inzwischen klar war, dass Brunken sich seine Aussage bereits vor ihrem Eintreffen zurechtgelegt hatte.
»Dies und das. Kann sein, dass wir über die kommende Saison gesprochen haben. Das ist ja immer ein Thema hier auf Hooge.«
»Wann sind Sie das letzte Mal mit Ihrem Segelboot draußen gewesen?«
Für einen Moment schien Enno Brunken irritiert zu sein, fing sich aber gleich wieder. »Vor ungefähr drei Wochen. Kurztrip nach Amrum. Meine Frau kann das bestätigen.« Er grinste. »Sie wird sich sicher daran erinnern, weil sie mich zum Hafen gebracht hat.«
»Wer war noch an Bord?«
Enno Brunken seufzte theatralisch. »Können Sie mir erklären, was die ganzen Fragen jetzt sollen? Ich dachte, es geht um Klaas und nicht darum, mit wem ich einen Kurztrip nach Amrum mache.«
»Sie sind nicht verpflichtet zu antworten.« Lena lächelte. »Schon gar nicht, wenn Sie sich damit selbst belasten.«
»Was soll das denn heißen?«, brauste er auf. »Natürlich kann ich Ihnen auf die Frage antworten, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient.«
»Schön, das würde einiges erleichtern«, fügte Lena süffisant hinzu.
Wieder schien Brunken irritiert zu sein, lächelte dann aber zuckersüß. »Ich hatte ein paar Freunde dabei. Das sollte wohl kaum verboten sein.«
»Selbstverständlich nicht, Herr Brunken. Verraten Sie mir noch die Namen Ihrer Freunde?«
»Jan Thomsen und Eike Knudsen.«
»Sind Sie über Nacht geblieben?«
»Ja.«
»Sie haben in Wittdün angelegt?«
»Ja.«
»Und sind am nächsten Tag zurück nach Hooge?«
»Am übernächsten.«
»Hat Ihr Freund Eike Knudsen auch ein Problem mit Klaas Rieckert?«
»Keine Ahnung!«, antwortete er ärgerlich. »Und um das noch einmal klarzustellen: Ich habe keinen Streit mit Klaas gehabt. Jeder, der das behauptet, lügt.« Er zeigte auf Lenas Notizbuch. »Schreiben Sie sich das auf.« Er starrte sie wütend an. »Und wenn sich auf Hooge jetzt miese Gerüchte verbreiten, mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich.« Er nahm die Visitenkarte, die ihm Lena zu Beginn überreicht hatte, in die Hand. »Sie haben sicherlich einen Vorgesetzten.«
»Kriminaldirektor Warnke. Soll ich Ihnen die Nummer aufschreiben? Sie können sich aber auch einfach durch die Zentrale verbinden lassen.«
Enno Brunken schnaubte und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Lena stand auf. »Im Moment nicht.« Als er Anstalten machte, sich zu erheben, sagte sie: »Danke, ich finde allein raus.«