ELF
Lena beschleunigte ihren Passat und fuhr auf die Autobahn Richtung Flensburg auf. Erck war mit ihr zusammen um sechs Uhr aufgestanden, hatte Kaffee gemacht, während sie unter der Dusche stand. Den Abend hatten sie in ihrer kleinen Wohnung ausklingen lassen und waren erst weit nach Mitternacht eingeschlafen. Mitten in der Nacht war sie aus einem Traum erwacht. Sie war schwanger, und wie sich nach und nach herausstellte, hatte sie bereits vier weitere Kinder.
Lena versuchte, sich an ihre Gefühle im Traum zu erinnern. War es ein Albtraum gewesen? Oder hatte ihr das Gewusel der vielen Kinder nichts ausgemacht? Sie sah noch wie in der Nacht vor ihren Augen, dass Erck der ruhende Pol in der Familie gewesen war und sie sich am Morgen auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte. Lena musste bei dem Gedanken schmunzeln, dass sie im Traum noch fünf Kinder bekommen hatte. Mit fast siebenunddreißig und einem angenommenen Abstand von eineinhalb Jahren zwischen den einzelnen Kindern musste sie im Traum bereits fünfundvierzig gewesen sein. Dabei schien ihr im Moment schon ein einziges Kind ein unkalkulierbares Abenteuer zu sein.
Hatte Ercks Scherz am Abend zuvor einen wahren Kern gehabt? Wünschte er sich wirklich mehrere Kinder?
Lena schob den Gedanken zur Seite und versuchte, sich auf den aktuellen Fall zu konzentrieren. Es gab hier zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort fand. Konnte der Tod von Klaas Rieckert etwas mit den Taten vor zehn Jahren zu tun haben? War Hallig Hooge, sein Lebensmittelpunkt, überhaupt relevant? Spielten die drei Männer, mit denen Rieckert verfeindet war, eine Rolle? Was hatten die beiden Freunde, die Klaas auf Hooge besucht hatten, mit dem Fall zu tun?
Die Fahrt durch Flensburg verlief aufgrund des geringen Verkehrsaufkommens am frühen Samstagmorgen reibungslos. Als Lena an der Pforte ihren Ausweis vorzeigte, kam auch schon Johann auf sie zugelaufen.
»Guten Morgen, Chefin«, sagte er schmunzelnd. »Gut durchgekommen?«
»Guten Morgen. Hat mein Assistent alles vorbereitet?«, konterte Lena, die es hasste, mit
Chefin
angesprochen zu werden.
»Selbstverständlich!« Er verneigte sich leicht. »Im ersten Stock habe ich einen Raum für Sie gefunden.«
Lena warf ihm einen genervten Blick zu. »Können wir jetzt zum ernsthaften Teil des Tages übergehen?«
Johann zeigte mit der Hand die Richtung an und lief neben ihr her. »Schlechte Laune?«
»Wenn ich an den Fall denke, wird sie zumindest nicht besser.«
Im ersten Stock angekommen, gingen sie einen langen Gang entlang, bis Johann bei der vorletzten Tür stehen blieb und sie aufschloss. In dem kleinen Raum standen ein Tisch und vier Stühle. Johann schaltete das Deckenlicht an und fragte: »Milchkaffee?« Als Lena nickte, wandte er sich ab und verließ ihr provisorisches Büro. Lena fuhr ihren Laptop hoch, rief die Datei mit den Notizen auf und ging sie noch einmal durch. Inzwischen war Johann mit zwei großen Tassen zurück und setzte sich zu ihr.
»Wir haben eine gute Stunde Zeit, dann müssen wir zur Witwe von Maximilian von Brockdorf.«
»Okay! Versuchen wir, etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen.« Lena schlug ihr Notizbuch auf. »Klaas Rieckert, mutmaßlicher Mörder von drei Männern, zwischen denen die SoKo keine Verbindungen oder andere Gemeinsamkeiten entdecken konnte. Besagter Klaas Rieckert wird zehn Jahre später auf Japsand tot aufgefunden. Ertrunken, mit relativ eindeutigen Hämatomen an Handgelenken und Knöcheln, die darauf hindeuten, dass er kurz vor seinem Tod gefesselt war. Weitere Hämatome lassen auf einen Kampf schließen. Die zentrale Frage ist: Hat sein Tod etwas mit den Morden von vor zehn Jahren zu tun? Oder gibt es keine Verbindung zwischen den Fällen?«
Johann räusperte sich. »Wir sind zwar noch in der Frühphase der Ermittlungen, aber ich möchte trotzdem gerne mit einer Hypothese aufwarten. Mir ist klar, dass das gewagt ist, aber aufgrund der wenigen Zeit, die uns bleibt, scheint es mir sinnvoll.«
Lena sah ihn auffordernd an. »Dann mal los!«
»Wir beide tendieren wohl ziemlich deutlich zu der Annahme, dass Rieckert kein Auftragsmörder war. Offensichtlich gibt es kein Motiv, weshalb jemand eine der drei Personen hätte ermorden lassen sollen. Zusätzlich verfügte Rieckert nach den Taten nicht über mehr oder zumindest wesentlich mehr Geld als vorher. Insofern liegt ein mehr oder weniger persönliches Motiv für die drei Morde nahe. Dass hier gleich drei unterschiedliche Motive zum Tragen kommen, ist ausgesprochen unwahrscheinlich. Insofern
muss
es einen gemeinsamen Nenner geben, der diese drei Männer verbindet.«
»Gut, aber was würde das für die aktuelle Tat bedeuten? Wer hat dann Klaas Rieckert getötet?«
»Dazu wollte ich gerade kommen.« Johann richtete sich auf und fuhr fort: »Wie immer er zu Tode gekommen ist, meine
These lautet, dass es nichts mit den drei Morden in Flensburg, Hamburg und Berlin zu tun hat. Wenn Rieckert mindestens dreimal brutal gemordet hat, kann er nicht so ein netter und sanfter Typ gewesen sein, wie uns einige Leute glauben machen wollen. Heißt, wer zu einem Mord fähig ist, wird auch im normalen Leben nicht unbedingt kompromissbereit sein. Rieckert wird sich mit seiner Art Feinde gemacht haben. Auf den Punkt gebracht: Den oder die Täter sehe ich eher auf dieser Hallig oder allenfalls auf dem nahen Festland, wo er sich ja laut seiner Lebensgefährtin und der Mutter häufiger aufgehalten hat.«
Lena hatte Johanns Ausführungen interessiert zugehört. »Dass Rieckert vor zehn Jahren nicht plötzlich über mehr Geld verfügen konnte, muss nicht automatisch bedeuten, dass es keine Auftragsmorde waren. Er könnte bei jemandem in der Schuld gestanden und mit den Morden dafür bezahlt haben.«
Johann wiegte den Kopf hin und her. »Du denkst an Glücksspiel?«
»Zum Beispiel. Vielleicht sind auch andere Schulden denkbar. Jemand hat ihm sein Leben gerettet und fordert jetzt eine Gegenleistung von ihm ein. Oder es ist eine alte Familienschuld, etwas, das sein Vater zu verantworten hat.«
»Klingt alles weit hergeholt«, meinte Johann.
»Sehe ich nicht so, Johann. Es geht doch darum, dass wir uns nicht nur auf eine Möglichkeit fokussieren. Aber gut, sehen wir uns deine Hypothese näher an.« Als Johann zustimmend nickte, fuhr sie fort: »Wir suchen also nach einem möglichen Motiv für die Morde vor zehn Jahren. Welche Beziehung hatte Rieckert zu den drei Opfern? Was hatten die drei Opfer miteinander zu tun? Oder hatten sie ausschließlich eine wie auch immer geartete Verbindung zu Klaas Rieckert?«
»Flensburg, Hamburg, Berlin«, zählte Johann auf. »Die Städte liegen alle im Norden, sind allerdings von der Größe her sehr unterschiedlich.«
Lena schaute in ihren Notizen nach. »Das erste Opfer, Maximilian von Brockdorf, war Jurist und Betriebswirt und hat als Geschäftsführer einer gemeinnützigen Organisation gearbeitet. Das zweite Opfer, Walter Reinstedt aus Hamburg, war Hauptaktionär und Vorstand eines international tätigen Bauunternehmens. Das dritte Opfer, Thomas Solinger, war Physikprofessor an der Freien Universität.«
»Ich sehe da keine Verbindungen«, warf Johann ein. »Und das wird die SoKo ja auch bis ins Detail abgeklärt haben.«
»Richtig. Die Männer kannten sich nicht persönlich, hatten auch beruflich nicht die geringsten Berührungspunkte. Von Brockdorf und der Professor aus Berlin waren quasi gleich alt, während der Bauunternehmer aus Hamburg fast fünfzehn Jahre älter war. Also auch hier keine Gemeinsamkeiten.«
»Wie sind sie getötet worden?«, fragte Johann.
»Brockdorf wurde mit einer Plastiktüte über dem Kopf erstickt, der Bauunternehmer vermutlich mit einem Hammer erschlagen und der Professor wurde mit einem Seil erdrosselt.«
Johann nickte nachdenklich. »Stimmt. Hier gibt es zwar auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten, aber alle Morde sind quasi per Hand ausgeführt worden. Das lässt schon auf eine gehörige Portion Wut und Hass schließen. Wie sind die anderen Männer umgekommen?«
»In den drei anderen Fällen, die ebenfalls in der SoKo mit bearbeitet wurden, sind die Opfer erschossen worden. Auch deshalb ging man davon aus, dass keine DNA gefunden wurde, weil der Täter nicht direkt mit den Opfern in Berührung gekommen ist.«
»Aber warum der plötzliche und doch sehr radikale Wechsel der Methode?«
»Richtig. Schon allein wegen der knappen Zeit sollten wir die drei Fälle ohne DNA-Funde außen vor lassen. Ich war
übrigens schon damals davon überzeugt, dass sie nichts mit den übrigen zu tun haben.«
»Sehe ich auch so«, stimmte ihr Johann zu. »Darum soll sich die zukünftige SoKo gerne kümmern.« Er legte den Kopf in den Nacken. »Siehst du noch Gemeinsamkeiten bei den Taten in Flensburg, Hamburg und Berlin?«
»Sie sind alle drei Männer mit deutscher Staatsangehörigkeit, die aus sogenannten besseren Verhältnissen kommen. Von Brockdorfs Familie ist ausgesprochen wohlhabend. Beide Brüder haben selbstverständlich an Eliteuniversitäten im Ausland studiert. Unser Professor aus Berlin, Thomas Solinger, kommt aus einer Familie, die seit Generationen im Bankwesen tätig ist, und Walter Reinstedt, der Bauunternehmer, hat ebenfalls studiert und ist dann in die Firma seines Vaters eingestiegen. Auch seine Familie gehörte seit vielen Jahren zu den führenden in Hamburg. Alter Geldadel sozusagen.«
»Sollten wir in diese Richtung weiterforschen?«
»Schwierig. Vor zehn Jahren sind die Familienverhältnisse gründlich untersucht worden. Der Ermittlungsansatz war ja, dass wir es mit einem Auftragsmörder zu tun haben. Da lag es nahe, den Auftraggeber auch in der Familie zu vermuten.«
»Und?«
»Der Einzige, der hier ein Motiv gehabt haben könnte, war der Bruder von Maximilian von Brockdorf, der durch den Tod zum Alleinerben der Firma wurde. Aber hier gab es keine Anhaltspunkte, an denen wir damals ansetzen konnten. Die beiden Brüder standen sich nach Aussagen mehrerer Zeugen sehr nahe. Zusätzlich war das Erbe des Vaters so groß, dass es problemlos für beide gereicht hätte.«
»Allerdings wollte Maximilian, wie wir jetzt wissen, nichts mit der Firma zu tun haben und hätte vielleicht darauf bestanden, seinen Anteil am Erbe für wohltätige Zwecke einzusetzen. Hätte das die Firma überlebt?«
»Natürlich ist das damals auch untersucht worden. Maximilian hätte allenfalls Anspruch auf den Pflichtteil des privaten Vermögens seines Vaters gehabt. Die Firmenanteile waren vertraglich so abgesichert, dass sie von den Erben nicht veräußert werden konnten. Ein handfestes Motiv war in dieser Richtung nicht auszumachen.«
Johann seufzte. »Schade. Ist denn absolut ausgeschlossen, dass die Brüder Streit miteinander hatten?«
»An der Sache war ich damals selbst dran. Ich habe zusammen mit einem Kollegen das gesamte Umfeld befragt. Einstimmig waren die Zeugen der Meinung, dass die beiden ein ausgesprochen enges Verhältnis zueinander gehabt haben.«
»Nach unserem Telefonat gestern habe ich noch mal über das Gespräch mit Alexander von Brockdorf nachgedacht. Ich gebe gerne zu, dass er mir auf den ersten Blick unsympathisch war, aber eigentlich kann ich über solche Sachen hinwegsehen. Um auf den Punkt zu kommen: Irgendwas stimmt mit dem Mann nicht. Ich denke, du solltest auf jeden Fall auch mit ihm sprechen, und deshalb habe ich uns gestern für eine zweite Befragung bei ihm angemeldet.«
»Okay! Dann verschieben wir diese Diskussion, bis wir mit der Witwe und dem Bruder gesprochen haben«, sagte Lena. »Dann fasse ich mal zusammen: Wir konnten bis jetzt keine Verbindungen zwischen Maximilian von Brockdorf und Klaas Rieckert finden. Ich schlage vor, dass wir heute Nachmittag versuchen, so viele Zeugen der Taten in Hamburg und Berlin telefonisch zu erreichen, wie möglich ist. Vielleicht tut sich ja darüber eine Verbindung zu Klaas Rieckert auf, die uns dann wiederum im Flensburger Fall auf die Sprünge hilft.«
»Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.«
»Weiterhin liegen mir die beiden Freunde von Klaas Rieckert am Herzen. Wir müssen sie dringend finden und mit ihnen sprechen.«
»Ich kümmere mich gleich darum, wenn wir die beiden Befragungen hinter uns haben.«
Lena machte sich eine Notiz. »Durch Maike Holzer wissen wir jetzt, wann Rieckert angeschossen wurde. Registriert ist diesbezüglich nichts. Das habe ich schon abklären lassen. Wir müssen überprüfen, ob es in dem Zeitfenster ungeklärte Schießereien gab. Irgendwo muss sich Rieckert die Kugel schließlich eingefangen haben.«
»Du vermutest, dass er bei der Ausübung seiner
Nebentätigkeit
angeschossen wurde?«
Lena schmunzelte. »Schön formuliert, aber durchaus zutreffend. Vielleicht konnte er bei einem geplanten vierten Mord nicht so nah an sein Opfer herankommen und hat sich eine Schusswaffe besorgt.«
»Ist notiert. Ich kümmere mich darum.«
»Außerdem muss ich mir heute Nachmittag Rieckerts Laptop noch einmal vornehmen. Auf Hooge war nur kurz Zeit dafür.«
Johann sah auf die Uhr. »Wir müssen auch gleich los.« Er hielt kurz inne. »Mir ist noch etwas eingefallen. Du hast gestern erzählt, dass diese drei Männer, mit denen Klaas Rieckert Ärger hatte, eine Segeljacht haben. Ist so ein Ding nicht teuer?«
»Kommt auf die Größe an. Aber mit hunderttausend aufwärts musst du schon rechnen. Wenn man sie gebraucht kauft, hängt es natürlich auch vom Alter ab.«
»Dieser Jan Thomsen, den du zweimal befragt hast, woher hat er so viel Geld? Sagtest du nicht, dass er sich mit allen möglichen Jobs durchschlägt?«
Lena nickte nachdenklich. Wie hatte sie diesen Aspekt übersehen können? »Guter Einwand, Johann. Ich werde das klären. Mit dem dritten Mann wollte ich ohnehin sprechen. Eike Knudsen wohnt in Schleswig. Vielleicht lege ich heute auf dem Rückweg nach Kiel einen Zwischenstopp bei ihm ein.«