ZWÖLF
Johann stoppte vor einer roten Ampel. »Warum ist Helene von Brockdorf seinerzeit eigentlich nicht befragt worden?«
»Sie war nicht in der Lage, mit uns zu sprechen«, antwortete Lena. »Zusammenbruch, psychiatrische Privatklinik in Bayern. Die Ärzte haben davon abgeraten, dass sie von den Kollegen befragt wird. Als die SoKo aufgelöst wurde, war sie meines Wissens immer noch in der Klinik.«
»In den Akten stand, dass sie selbst Psychologin ist.«
»Richtig. Aber das schützt wohl kaum vor einem solchen Zusammenbruch. Sie arbeitet übrigens wieder in der eigenen Praxis.«
Johann bog vom Hafendamm ab auf den Parkplatz des Apartmenthauses, in dem Helene von Brockdorf ihre Privatwohnung hatte.
»Nett hier, oder?«, sagte Johann, als sie ausgestiegen waren und mit Blick auf den Sporthafen auf das Haus zugingen. »Mein Geldbeutel würde für die Lage auf jeden Fall nicht reichen.«
Er drückte auf eine der sechs Klingeln und wartete, bis eine Frauenstimme sich meldete. Als er seinen Namen genannt hatte, summte der Türöffner. Eine Frau um die fünfzig, Jeans, weiße Bluse, dunkle Hose und mit offenen, halblangen Haaren, empfing sie mit einem sanften Lächeln. Johann stellte sich und
Lena vor, die Frau trat zur Seite. »Gehen wir doch in mein Arbeitszimmer.«
Der Raum war an einer Seite voll verglast und ließ den Blick frei auf die Innenförde und den Sporthafen. Sie nahmen an einem Tisch direkt am Fenster Platz, Frau von Brockdorf bot ihnen etwas zu trinken an. Als die Kommissare verneinten, setzte sie sich zu ihnen.
»Mein Kollege hat Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass wir im Rahmen einer aktuellen Ermittlung mit Ihnen über Ihren Mann sprechen möchten«, begann Lena.
Helene von Brockdorf nickte. »Ja, ich weiß Bescheid. Was kann ich in dem Zusammenhang für Sie tun?«
Lena wunderte sich, dass Frau von Brockdorf sich nicht nach den genauen Umständen erkundigte. »Ich war seinerzeit in der Sonderkommission, die auch den Mord an Ihrem Mann untersucht hat.«
Wieder nickte Frau von Brockdorf.
Lena reichte ihr das Foto von Klaas Rieckert. »Kennen Sie diesen Mann?«
Die Psychologin musterte die Aufnahme eine Weile, sah dann auf und sagte mit fester Stimme: »Ich bin mir sehr sicher, dass ich diesen Mann noch nie gesehen habe.« Auch dieses Mal fragte Frau von Brockdorf nicht weiter nach.
Nach einer kurzen Pause fuhr Lena fort: »War Ihr Mann jemals auf Hallig Hooge oder hatte er etwas mit der Hallig zu tun?«
»Wir waren … damals zwanzig Jahre verheiratet. In der Zeit war er ganz sicher nicht auf dieser Hallig oder auf einer anderen Insel.« Sie lächelte matt. »Er wurde sehr schnell seekrank und hat alle Schiffe, egal ob klein oder groß, gemieden.«
Die Witwe schloss kurz die Augen, sah dann Lena direkt an und fragte: »Haben Sie den Mörder meines Mannes gefunden?«
»Das wissen wir noch nicht genau«, antwortete Lena bewusst vage. »Sie konnten ja damals nicht befragt werden. Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen, die sich auf die Zeit vor zehn Jahren beziehen?«
»Ja.«
Lena war sich nicht sicher, aber wenn sie nicht alles täuschte, hatte Helene von Brockdorf immer noch große Schwierigkeiten, über die damaligen Ereignisse zu sprechen.
»Ist in den Wochen und Monaten vor dem Tod Ihres Mannes etwas Besonderes passiert? Hat Ihr Mann davon gesprochen, dass er zum Beispiel verfolgt wurde?«
»Sie wissen sicher, dass ich fast zwei Jahre in einer Klinik verbracht habe«, begann Helene von Brockdorf zögernd. »Kurz nachdem ich die Nachricht bekommen habe, bin ich zusammengebrochen und habe lange gebraucht, um mich zu erinnern. Dieses Erinnern war auch ein Teil der Verarbeitung der Ereignisse.« Sie atmete tief durch und ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ja, mein Mann hat davon gesprochen, dass er sich verfolgt fühlte. Vielleicht war es ja nur ein Zufall, aber …«
Lena ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie nachfragte: »Was genau hat Ihr Mann damals erzählt?«
Helene von Brockdorf starrte auf die Tischplatte. Die plötzliche Stille im Raum ließ Lena die Luft anhalten. In diesem Augenblick setzte sich Helene von Brockdorf ruckartig auf. »Wir waren damals beide beruflich sehr engagiert und hatten nur wenig Zeit zusammen.« Sie schluckte. »Ich weiß nicht mehr genau, wann und wie er davon erzählte, bin mir aber sicher, dass er mehrmals erwähnt hat, dass ihm jemand gefolgt wäre. Er sprach von einem Mann in seinem Alter.« Wieder erstarrte sie für einen kurzen Moment. »Ich fürchte, ich habe das nicht wirklich ernst genommen.«
»Das wäre mir in Ihrer Situation nicht anders ergangen«, sagte Lena leise. »Ihr Mann hat den Unbekannten aber nicht gekannt?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Er hätte ihn dann auch sofort angesprochen. Maximilian war kein ängstlicher Mensch. Er war immer der Meinung, dass man Problemen nicht aus dem Weg gehen sollte.«
Johann räusperte sich. »Ich habe gestern mit Ihrer Schwiegermutter gesprochen und sie hat mir erzählt, dass Ihr Mann ursprünglich eine Leitungsfunktion in der Firma einnehmen sollte.«
Helene von Brockdorf verzog das Gesicht. »Das hat sie aber nett ausgedrückt. Maximilians Vater hat ihn über Jahre bedrängt, seine, wie er es nannte,
Verantwortung
zu übernehmen. Maximilian war ein Familienmensch und er hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber letztlich wäre er nicht glücklich geworden mit dieser Art Arbeit.«
»Letztlich?«, fragte Lena, die meinte, eine besondere Betonung des Wortes herausgehört zu haben.
Helene von Brockdorf nickte. »Sie sind eine aufmerksame Zuhörerin, Frau Lorenzen. Es gab da tatsächlich einen Moment, in dem Maximilian nachgeben wollte oder eigentlich sogar nachgegeben hat. Allerdings hatte sein Vater nur indirekt damit zu tun, da es nach seinem Tod war. Zwar hatte er in den Jahren zuvor heftige Auseinandersetzungen mit seinem Vater, was aber an seiner Liebe zu ihm nichts geändert hat. Egal in welchem Alter, es ist immer schwer, einen Elternteil zu verlieren.«
»Also hatte Ihr Mann doch vor, in die Firma einzutreten?«, kam Lena wieder auf den unter Umständen für die Ermittlungen wichtigen Aspekt zurück.
»Er hatte schließlich eingewilligt, und eine Presseerklärung war bereits im Umlauf. Aber schließlich hat er doch schweren Herzens seine Zusage zurückgenommen. Seine Mutter hat das
nicht verstehen können, aber letztendlich musste er seinem Herzen folgen und das hing nun mal an seinen Projekten in dem Hospiz-Verband.«
»Gab es Streit in der Familie?«, fragte Johann nach.
Helene von Brockdorf schüttelte den Kopf. »Nein, meine Schwiegermutter hat relativ schnell eingesehen, dass Maximilian nicht anders handeln konnte. Alexander, sein Bruder, hat ihn übrigens sehr dabei unterstützt. Er war zwar zu der Zeit in den Staaten und sehr eingebunden in seine Hochschulprojekte, hat aber trotzdem immer wieder mit seiner Mutter gesprochen. Kurze Zeit später hat er ja auch selbst eine Position in der Firma übernommen.«
Lena stellte die nächste Frage: »Die beiden Brüder haben sich gut verstanden?«
»Ja, sehr gut. Alexander ist fast zehn Jahre jünger und Maximilian war so etwas wie ein Ersatzvater für ihn. Sein Vater war gerade in der so wichtigen Zeit des Heranwachsens kaum präsent. Maximilian hat oft davon gesprochen, wie wichtig es für Alexander gewesen wäre, wenn Joachim, also mein Schwiegervater, sich mehr mit ihnen beschäftigt hätte.«
Helene von Brockdorf schien froh zu sein, über die Familienangehörigen sprechen zu können. Sie lächelte zwischendurch und wirkte entspannter als zuvor.
»Ihr Schwager leitet jetzt das Familienunternehmen?«, fragte Johann weiter.
»Ja, er hat es zwei Jahre danach …« An dieser Stelle machte Helene von Brockdorf eine kurze Pause. »Also, er hat ja ebenfalls Betriebswirtschaft studiert und war dort an der Uni tätig. Es war wohl eine Umstellung, aber für ihn und auch die Familie die richtige Entscheidung.« Sie hielt kurz inne. »Aber Sie haben doch bereits mit ihm gesprochen, oder?«
»Das stimmt«, warf Lena ein. »Wir haben gleich auch noch einmal einen Termin mit ihm.«
Frau von Brockdorf nickte. »Das ist gut, er kann Ihnen viel besser über die geschäftlichen Dinge Auskunft geben. Ich halte mich da komplett raus.«
»Sie haben Anteile der Firma von Ihrem Mann geerbt?«, wollte Johann wissen.
»Ja, aber ich bin vertraglich daran gebunden, sie zu halten. Mir ist das alles nicht so wichtig und ich bin der Familie meines Mannes auch sehr dankbar, dass sie in der schweren Zeit zu mir gehalten hat.«
Lena reichte ihr eine Visitenkarte. »Vielen Dank, dass Sie Zeit für uns hatten. Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich jederzeit an.«
Helene von Brockdorf begleitete sie bis zur Wohnungstür und verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln.
»Was hältst du von ihr?«, fragte Johann, als sie im Fahrstuhl nach unten fuhren.
»Es fiel ihr offensichtlich trotz der langen Zeit, die verstrichen ist, nicht leicht, mit uns über die Sache zu reden. Sie hat es aber trotzdem gemacht. Ich denke, sie sagt die Wahrheit.«
Die Tür des Aufzugs öffnete sich, die Kommissare verließen das Haus und eilten zum Parkplatz.
Johann startete den Motor und gab die Adresse ins Navi ein. »Sie scheint gut mit der Familie ihres Mannes auszukommen. Besonders mit dem Schwager. Ist dir das Lächeln aufgefallen, wenn sie von ihm sprach?«
»Ja, durchaus. Und was schließt du daraus?«
Johann fuhr vom Parkplatz auf die Straße und folgte den Anweisungen der Navi-Stimme. Als sie vor einer roten Ampel stoppen mussten, wandte er sich zu Lena. »Haben die beiden etwas miteinander?«
»Und wenn? Hätte das irgendeine Relevanz? Sie war offensichtlich fast zwei Jahre außer Gefecht gesetzt.«
»Schlechtes Gewissen?«, warf Johann ein und fuhr wieder an, als die Ampel auf Grün umsprang.
»Alexander von Brockdorf hat sich zu der Zeit überhaupt nicht in Deutschland aufgehalten. Eine Fernaffäre, die dann auch noch zu einem Mordauftrag führt. Das ist sehr weit hergeholt.«
»Nur ein Gedanke. Du sagst doch immer, dass wir nichts ausschließen sollen.«
»Lass uns das zurückstellen und erst mal mit ihrem Schwager sprechen«, schlug Lena vor.
Johann bog in eine Straße ab und hielt in der Nähe einer Villa, der man ansah, dass sie in den letzten Jahren erbaut worden war. Flachdach, weiß verputzt, mit großflächigen Fensterfronten und einem großen Garten.
Als Lena den Klingelknopf auf der Gegensprechanlage betätigte, meldete sich kurz darauf eine tiefe Männerstimme. »Ja, bitte?«
»Johann Grasmann. Guten Tag, Herr von Brockdorf.«
Das Tor öffnete sich automatisch, die Kommissare traten auf den Vorplatz und gingen aufs Haus zu. Der Mann, der in der Tür auf sie wartete, war groß, athletisch und hatte die dunklen Haare streng nach hinten gekämmt. Er trug eine helle Sommerhose und ein weißes Hemd, dessen obere zwei Knöpfe geöffnet waren.
Lena reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Sie wurden in die Bibliothek gebeten und nahmen Platz in einer Sitzecke mit bequemen Stühlen und einem kleinen Tisch. An zwei Wänden befanden sich deckenhohe Regale, die mit unzähligen alt aussehenden Büchern bestückt waren.
Nach den Fotos zu urteilen, die Lena von Maximilian von Brockdorf gesehen hatte, war der Bruder eine jüngere Ausgabe von ihm. Auf viele Frauen würde von Brockdorf vermutlich
sehr anziehend wirken, doch Lena hatte immer einen Bogen um diesen Typ Mann gemacht.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte von Brockdorf mit einem Lächeln, das vermutlich charmant wirken sollte.
»Wasser wäre nett«, antwortete Lena und sah ihm zu, wie er aus einem Regal zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser holte und ihnen einschenkte. Schließlich setzte er sich zu den Kommissaren an den Tisch.
»Was kann ich noch für Sie tun?«, fragte er an Lena gerichtet.
»Wie mein Kollege Ihnen ja gestern bereits erklärt hat, ermitteln wir im Todesfall eines Mannes, der auf Hallig Hooge gelebt hat.«
»Das hatte ich durchaus verstanden. Allerdings ist mir immer noch nicht klar, was das mit dem Mord an meinem Bruder zu tun haben soll. Ist dieser Halligmann etwa der Mörder?«
»Wie gesagt, wir sind mitten in der Ermittlung«, wich Lena ihm aus. »Wenn Sie uns noch ein paar Fragen beantworten könnten …«
»Selbstverständlich! Was genau wollen Sie wissen?«
»Wir haben heute bereits mit Ihrer Schwägerin gesprochen und sie erinnerte sich daran, dass Ihr Bruder sich in den Wochen vor seinem Tod verfolgt fühlte. Hat er Ihnen etwas davon erzählt?«
Er warf Lena einen erstaunten Blick zu. »Tatsächlich? Helene hat mir gegenüber nie etwas in der Art erwähnt.«
»Ihre Schwägerin war sich sehr sicher«, betonte Johann.
Alexander von Brockdorf hatte ihn bisher ignoriert. Nur bei der Begrüßung hatte er ihm kurz zugenickt und sich anschließend auf Lena konzentriert.
»Wenn Helene das sagt, wird es stimmen. Wie Ihnen sicher bekannt sein wird, war ich damals in den Staaten. Durch die
Zeitverschiebung haben mein Bruder und ich nur wenig miteinander gesprochen. Hin und wieder eine Mail oder ein kurzes Gespräch per Skype.« Er hielt einen Augenblick inne und schien nachzudenken. »Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern, dass Maximilian mir etwas Derartiges erzählt hat. Vielleicht wollte er mich auch nicht beunruhigen und hat es mir verschwiegen. Tut mir wirklich leid.« Er lächelte Lena an. »Haben Sie weitere Fragen?«
»Sie haben in den USA an einer Hochschule gearbeitet? Das klingt interessant.« Lena hatte sich Mühe gegeben, die Frage so persönlich wie möglich klingen zu lassen.
»Harvard. Es hätte aber noch eine Weile und sehr viel Glück benötigt, um dort eine Professur zu bekommen.«
»Sie entschieden sich dann, ins Unternehmen Ihres Vaters einzusteigen?«
Er faltete die Hände und rieb dabei die beiden Daumen aneinander. »Das ist korrekt und hat, wie Sie unschwer bemerkt haben, immer noch Bestand.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, holte dann aber tief Luft und fragte: »Weitere Fragen?«
Johann räusperte sich. »Ihre Schwägerin meinte, dass Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder ausgesprochen innig war. Ihre Mutter hat sich mir gegenüber ähnlich geäußert.«
Alexander von Brockdorf fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. »Und wie lautet jetzt Ihre Frage?«
»Ich hätte jetzt vermutet, dass, wenn Ihr Verhältnis so eng war, Sie häufiger miteinander kommuniziert hätten«, antwortete Johann ruhig und hielt dabei seinem Blick stand. »Die Schlussfolgerung liegt doch nahe. Oder stimmen Sie mir da nicht zu?«
Alexander von Brockdorf musterte ihn abschätzig. »Junger Mann, mir ist nicht ganz klar, auf was Sie hinauswollen. Ich glaube kaum, dass es Ihnen zusteht, mein Verhältnis zu meinem
Bruder zu beurteilen oder gar Schlussfolgerungen zu ziehen.« Er wandte sich wieder Lena zu. »Haben Sie noch weitere Fragen, Frau Hauptkommissarin?«
Lena wartete einen Moment, bevor sie antwortete: »Waren Sie jemals auf Hallig Hooge, Herr von Brockdorf?«
Er lächelte. »Zumindest kann ich mich daran nicht erinnern.«
»Also nein?«
»Nein, ich war nie dort. Ich wüsste auch nicht, was auf diesen paar Quadratmetern Ödland so interessant sein sollte, dass es mich dort hinziehen würde.«
Lena stand auf und übergab dem leicht verdutzten von Brockdorf ihre Visitenkarte. »Vielen Dank für das Gespräch. Falls Sie mich erreichen wollen, finden Sie meine Handynummer auf der Karte.«
Brockdorf erhob sich. »Ich begleite Sie hinaus.«
Zurück im Wagen, ließ Johann sich in den Sitz fallen. »Na, habe ich zu viel versprochen?«
»Lass uns fahren. Wir haben noch einige Telefonate vor uns.«