VIERZEHN
Lenas Handy machte sich bemerkbar. Sie bremste den Passat leicht ab und fuhr mit hundert Stundenkilometern auf der rechten Spur der Autobahn.
»Herr Kriminaldirektor«, nahm sie das Gespräch kühl an.
»Guten Tag, Frau Lorenzen.« Er hielt kurz inne. »Sie sind auf der Rückfahrt?«
»Ja, ich habe Kollege Grasmann bei den Recherchen in Flensburg unterstützt. Wir sind morgen beide wieder im Büro.«
»Gut! Ich habe leider eine schlechte Nachricht. Oder eigentlich gleich zwei«, begann er zögernd.
Lena rollte mit den Augen. Warnke war und blieb ein Opportunist. Wie hatte sie erwarten können, dass er sich auch nur halbwegs loyal ihr gegenüber verhalten würde?
»Der Generalstaatsanwalt hat sich in den Fall eingeschaltet. Um es kurz zu machen: Am gestrigen Tag ist Kriminalrat Groll damit beauftragt worden, eine SoKo zusammenzustellen. Ich habe mit Groll gesprochen, konnte ihn aber nicht davon überzeugen, dass Sie eine geeignete Person für die stellvertretende Leitung wären.«
Lena konzentrierte sich auf die Straße, um sich davon abzuhalten, Warnke wütend anzuschreien.
»Sind Sie noch in der Leitung?«, fragte Warnke, als Lena weiter schwieg. Sie hatte inzwischen ihre Atmung wieder unter Kontrolle und sagte schließlich bemüht ruhig: »Lassen Sie mich raten. Groll wollte mich nicht mal in der übrigen Mannschaft.«
Lena hörte, wie Warnke tief ein- und ausatmete. »Ja, es tut mir leid. Der Generalstaatsanwalt hat darauf bestanden, dass Groll sich die Mitglieder der Gruppe selbst auswählt. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, aber nichts erreicht. Haben Sie mit ihm …« Warnke ließ den Satz in der Luft hängen.
»Haben Sie das Groll auch gefragt?«
»Frau Lorenzen, Sie können mir vertrauen. Ich habe wirklich alles versucht, um Sie …«
»Groll ist absolut ungeeignet für die Position«, fuhr Lena ihn an.
»Wie bitte?«, hörte sie die erstaunte Stimme des Kriminaldirektors. »Ich glaube kaum, dass Sie das …«
»Wussten Sie, dass fast die Hälfte aller Frauen bei Umfragen angeben, schon einmal sexuell bedrängt oder belästigt worden zu sein?«
Kriminaldirektor Warnke schwieg. »Was wollen Sie mir damit jetzt sagen? Wir sollten bitte sachlich und in ruhigem Ton über die Angelegenheit sprechen, Frau Hauptkommissarin!«
»Wie Sie wünschen, Herr Kriminaldirektor. Ich gehe mal davon aus, dass es noch weitere Informationen gibt, die Sie mir mitteilen wollten?«
»Das ist korrekt. Es tut mir leid, aber Groll besteht darauf, dass die Ermittlungen zum Tod von …«
»Klaas Rieckert«, half Lena ihm.
»Ja, genau, also dass die Ermittlungen von der SoKo mit übernommen werden.«
»Perfekt! Sie erwarten jetzt aber nicht, dass ich mich auch noch bei Ihnen für Ihren Einsatz bedanke?«
»Frau Lorenzen, seien Sie doch bitte vernünftig. In diesem Fall hatte ich keine Entscheidungsbefugnis. Es tut mir …«
»Ab wann?«
»Ich verstehe Sie nicht?«
»Ab wann bin ich raus?«
Wieder zögerte Warnke die Antwort hinaus. »Die SoKo beginnt morgen mit der Arbeit. Von daher …«
Lena fuhr auf einen kleinen Autobahnparkplatz und stellte den Motor ab.
»Frau Lorenzen! Hören Sie mich noch?«
»Ja! Einen Moment bitte.« Ihre Wut auf die aktuelle Entwicklung brodelte in ihr. Sie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Die Entscheidungen waren gefallen. Warnke hatte es nicht für nötig befunden, sie mit einzubeziehen und vorab ihre Meinung einzuholen. Groll würde akribisch darauf achten, dass sie keine Informationen bekam, würde jede – sei es noch so geringfügige – Einmischung zu verhindern wissen. Sie war definitiv raus. »Ich habe reichlich Überstunden angesammelt und würde gerne ein paar Tage freinehmen. Spricht etwas dagegen?«
»Natürlich nicht. Ich meine …« Warnke legte eine kurze Pause ein. »Sie ermitteln jetzt aber nicht auf eigene Faust in Ihrer Freizeit? Habe ich darauf Ihr Wort?«
»Ich werde meinen Lebensgefährten auf Amrum besuchen. Reicht Ihnen die Information?«
Warnke räusperte sich. »Selbstverständlich, Frau Lorenzen. Nehmen Sie sich einige Tage frei. Ich halte das auch für eine gute Idee.«
»Wunderbar«, sagte Lena kühl. »Dann sind wir ja tatsächlich einer Meinung. Ich wünsche Ihnen noch ein erholsames Restwochenende.« Ohne weiteren Abschiedsgruß beendete sie das Gespräch und warf das Handy auf den Beifahrersitz.
»Verfluchter Mist!«, schrie sie aus dem geöffneten Fenster hinaus.
Eine gefühlte Ewigkeit saß sie im Auto, bevor sie ausstieg und mit dem Handy in der Hand den Parkplatz entlanglief.
»Grasmann«, meldete sich Johann, nachdem sie seine Nummer gewählt hatte.
»Wir sind raus!«, verkündete Lena ohne große Vorrede. »Ich habe gerade mit Warnke gesprochen. Die SoKo übernimmt die kompletten Ermittlungen. Einschließlich des aktuellen Tötungsdelikts.«
»Und du bist nicht in der SoKo?«, fragte Johann.
»Groll. Kriminalrat Jens Groll. Halte dich von ihm fern. Er taucht bestimmt bei dir auf und will unsere Ermittlungsergebnisse. Am besten, du meldest dich krank oder machst ein paar Tage Urlaub.«
»Und du?«
»Ich fahre nach Kiel, packe meine Sachen und versuche, die letzte Fähre zu bekommen.«
Johann schien sprachlos zu sein. Erst nach einer Weile antwortete er: »Okay! Ist das jetzt wirklich dein Ernst? Wir lassen einfach alles so stehen und liegen und stecken unseren Kopf in den Sand?«
»Ja, mein voller Ernst. Man muss auch wissen, wann man verloren hat, Johann. Lass es einfach gut sein und mach ein paar Tage frei. Johanna wird sich freuen, und Überstunden hast du nun wirklich genug auf deinem Konto.«
Lena hörte ihren jungen Kollegen schwer atmen. »Ich überleg es mir. Kann ich dich auf dem Handy erreichen?«
»Klar, Johann, wie immer. Bis die Tage. Halt die Ohren steif!«
Er räusperte sich. »Was mache ich mit dem Laptop von Rieckert?«
Lena hatte ihn noch am Nachmittag gründlich durchforstet und dann eine Kopie der gesamten Daten auf eine externe Festplatte gezogen.
»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Kannst du ihn im Präsidium abgeben?«
»Gut, das mache ich. Wenn etwas ist, melde ich mich bei dir. Und grüß Erck von mir.«