FÜNFZEHN
Auf der Fahrt von Kiel zum Fährhafen nach Dagebüll hörte Lena eine ihrer Lieblings-CDs mit aufgedrehter Lautstärke. Die Wut auf Warnke und Groll loderte in ihr. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihre Chance vertan hatte. Ihre Zeit war begrenzt gewesen und das hatte sie von Anfang an gewusst. Einen alten Fall in den wenigen Stunden zu lösen wäre einem Wunder gleichgekommen. Um sich nicht von vornherein unter Druck zu setzen, hatte Lena diese Tatsache nicht an sich herangelassen. Dieses Mal hatte sie zu hoch gepokert und verloren.
In letzter Sekunde erreichte sie den Fährhafen und fuhr in den Bauch des Schiffes. Hier verharrte sie eine Weile im Passat, bevor sie zum Handy griff und Ercks Nummer wählte.
»Lena! Bist du schon in Flensburg fertig?«
»Sozusagen.«
»Was ist das für ein Geräusch im Hintergrund?«
»Ich bin auf der Fähre. Kannst du eine Flasche Wein kalt stellen? Oder besser noch: zwei.«
Erck schien eine Weile zu brauchen, bevor er den Sinn ihrer Worte verstanden hatte. »Was ist passiert?«
»Ich habe mir ein paar Tage Urlaub genommen. Wenn du arbeiten musst, ist das kein Problem. Ich kann mich beschäftigen.«
Wieder entstand eine Pause. »Der Wein ist schon fast im Kühlschrank und eine Kleinigkeit zum Essen werde ich auch noch zaubern können. Bist du mit dem Auto auf der Fähre oder soll ich dich abholen?«
»Alles gut. Ich sitze im Auto.«
»Gut. Ich warte auf dich.«
Lena musste unwillkürlich lächeln und ein wohliges Gefühl machte sich in ihr breit. »Ich weiß! Bis gleich, Erck. Und …« Sie hielt kurz inne und flüsterte: »Ich liebe dich!«
»Ich dich auch, Lena.«
Sie lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Das tiefe, regelmäßige Brummen des Schiffsmotors wirkte beruhigend auf sie. Als sie spürte, dass sie schläfrig wurde, setzte sie sich mit einem lauten Seufzen aufrecht hin. »Verfluchter Tag«, murmelte sie. »Eigentlich kann es ja nur noch besser werden.«
Sie öffnete die Tür und verließ das Autodeck. Kurz darauf stand sie am Kiosk der Fähre und bestellte sich einen Kaffee. Nur wenige Tische waren besetzt, sie fand einen ruhigen Platz direkt am Fenster. Die Dämmerung setzte langsam ein und tauchte die Nordseelandschaft in ein diffuses Licht. Sehnsüchtig schaute sie nach draußen und bemerkte nicht, dass jemand an ihren Tisch getreten war.
»Hallo, Lena.«
Sie wandte sich abrupt um und sah ihrem Vater in die Augen.
»Was machst …«, wollte sie fragen, schluckte aber den Rest des Satzes hinunter.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er mit leiser, zurückhaltender Stimme.
Lena zögerte. Schon seit Monaten befürchtete sie eine zufällige Begegnung mit ihrem Vater. Ewig konnte sie das Gespräch nicht hinausschieben.
»Wenn es sein muss«, sagte sie schließlich.
Werner Lorenzen stellte seine Tasse auf dem Tisch ab und setzte sich ihr gegenüber auf die Bank. »Danke!«
»Um was geht es?«, fragte Lena schroff.
Ihr Vater atmete tief durch. »Ums uns. Um unsere Familie.«
»Meine Familie ist Beke. Mit ihr komme ich bestens zurecht.«
Werner Lorenzen nickte. »Ich weiß. Hin und wieder hat sie mir von dir erzählt.«
»Also?«
»Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, dass wir miteinander sprechen?«
Lena verzog ihr Gesicht zu einem künstlichen Lächeln. »Tun wir das nicht gerade?«
Er atmete schwer und schien einen Augenblick zu überlegen, ob er aufstehen sollte. Schließlich räusperte er sich. »Ich habe Fehler gemacht. Und ich habe lange gebraucht, um das zu erkennen. Heute würde ich mich anders verhalten.«
Sie funkelte ihn an. »Das macht Mama auch nicht wieder lebendig.«
»Das weiß ich, Lena. Aber ich war nicht derjenige, der sie mit dem Auto angefahren hat.« Er stöhnte leise, als habe er Schmerzen. »Ja, wir haben uns kurz zuvor gestritten und ich hätte deine Mutter nicht aus dem Haus gehen lassen dürfen. Aber du weißt selbst, wie …«
»Nichts weiß ich«, fiel sie ihm wütend ins Wort.
»Meinst du, sie hätte gewollt, dass wir unser restliches Leben kein Wort mehr miteinander wechseln?«
Lena starrte ihn aufgebracht an. »Lass Mama aus dem Spiel! Hast du gehört! Sie ist vor dir weggelaufen und jetzt willst du mir einreden, dass …« Sie atmete schwer. »Ja, was überhaupt? Ich glaube nicht, dass Mama, wenn sie überlebt hätte, jemals wieder ein Wort mit dir gewechselt hätte. Ja, das glaube ich.«
Werner Lorenzen schluckte. »Ich verstehe deinen Zorn. Sag mir, was ich machen soll, und ich richte mich danach.«
»Lass mich einfach in Ruhe. Schaffst du das?«
Lenas Vater stand auf, warf einen Blick auf die Kaffeetasse, die immer noch auf dem Tisch stand, und wandte sich abrupt ab. Lena sah ihm hinterher, wie er durch den Gang lief und, als er die Treppe erreichte, nach unten ging.
»Verfluchter Tag«, zischte sie. »Ich hasse ihn.«
Erck nahm die Reisetasche entgegen und umarmte Lena. »Eine gute Überfahrt gehabt?«
»Werner war wieder auf der Fähre. Macht der eigentlich nichts anderes, als …« Lena lehnte den Kopf an Ercks Schulter. »Was für ein Tag. Halt mich bitte fest.«
Erck umarmte sie und streichelte ihr zärtlich über den Kopf. »Jetzt bist du ja hier. Komm, lass uns in die Küche gehen. Ich habe eine Kleinigkeit vorbereitet.«
Lena begleitete ihn in die kleine Küche. Bei ihrem letzten Besuch auf Amrum war Erck noch dabei gewesen, die Wände einzuziehen. Sie bestaunte, was Erck aus den wenigen Quadratmetern gemacht hatte. Neben einer kleinen Küchenzeile hatte er einen Tisch für zwei Personen geschreinert. Anstatt Stühlen gab es zwei Hocker, die nach dem Essen unter den Tisch geschoben werden konnten.
Schon an der Tür hatte Lena einen süßen Duft wahrgenommen. Erck bat sie, Platz zu nehmen, und schenkte ihr Weißwein ein. Anschließend holte er die Auflaufform aus dem Backofen und stellte sie auf den Tisch.
»Überbackener Ziegenkäse mit Honig und Pinienkernen«, meinte er und reichte Lena den Brotkorb. »Das musste ich allerdings vom Bäcker holen. Die Zeit reichte leider nicht mehr aus.«
»Alles gut«, sagte sie leise und hob ihr Glas. »Auf meinen Fels in der Brandung.«
Sie lagen eng umschlungen auf dem Bettsofa, während im Hintergrund Leonard Cohen eines seiner melancholischen Liebeslieder sang.
»Magst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte Erck.
»Es ist eine SoKo eingerichtet worden. Johann und ich sind raus aus dem Fall. Endgültig.«
»Okay.« Erck sah sie fragend an. »Und du bist nicht in der SoKo?«
»Jens Groll«, antwortete Lena und spürte, wie die Wut auf diesen Menschen zurückkam.
»Wer ist das?«
»Kriminalrat. Schleswig. Er hat die damalige SoKo geleitet. Der Generalstaatsanwalt hat darauf bestanden, dass er wieder die Leitung übernimmt.«
Erck wartete. Vermutlich spürte er, dass mehr hinter der Sache steckte, als Lena im Moment bereit war zu erzählen.
»Ich bin damals mit ihm aneinandergeraten.«
»Schlimm?«
»Mit den Ermittlungen hatte das nichts zu tun. Das war mehr eine persönliche Sache.« Sie löste sich von Erck und griff nach dem Weinglas. »Sehr persönlich.«
Erck richtete sich auf. »Das klingt jetzt, als wenn …«
Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Nicht jetzt, nicht heute Abend.«
Erck nickte und fragte nach einer Weile: »Du hast mit Werner gesprochen?«
Lena schüttelte den Kopf. »Eher nicht.« Als sie Ercks fragenden Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Er wird es wohl kaum als Gespräch bezeichnen. Ich war nicht in der Stimmung.« Sie trank den letzten Schluck Wein aus dem Glas und hielt es Erck hin. Er schenkte ihr ein, Lena trank. »Ich kann ihm nicht verzeihen«, fuhr sie fort. »Jedes Mal, wenn er vor mir steht, packt mich die Wut. Ich kann das in diesen Momenten quasi nicht steuern. Trotz der langen Zeit.«
»Wenn du möchtest, können wir Werner zusammen besuchen oder uns irgendwo, sozusagen auf neutralem Boden, treffen.«
»Friedensverhandlungen, meinst du?«
»Ich würde es eher als vorsichtige Wiederannäherung bezeichnen. Vielleicht ist das keine gute Idee und endet im Fiasko, aber dann hast du es wenigstens versucht. Er ist dein Vater und ich denke, er hat eine Chance verdient.«
»Ich kann für nichts garantieren …«
»Das weiß ich. Und das verlangt auch niemand.«
»Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.« Sie seufzte. »Als er heute so plötzlich vor mir stand, konnte ich nur an Mama denken, an den Unfall und …« Ihre Augen wurden feucht. »Verdammt, ich erinnere mich nicht einmal mehr an ihre Stimme. Und manchmal träume ich, Mama auf der Straße zu begegnen, aber ich erkenne sie nicht. Ich laufe der Frau, von der ich meine, sie sei Mama, hinterher, beobachte sie und wage es nicht, sie anzusprechen. Im letzten Traum hatte ich dabei auch noch ein Foto von ihr in der Hand.«
Erck legte ihr den Arm um die Schulter. »Du träumst oft von deiner Mutter?«
»In der letzten Zeit regelmäßig. Ich weiß auch nicht, warum. Im Traum mache ich mir schreckliche Vorwürfe, weil ich an dem Tag nicht zu Hause war.«
»Du warst zu der Zeit in der Schule auf Föhr. Und es war ganz sicher nicht deine Aufgabe, auf deine Eltern aufzupassen.«
Inzwischen liefen Lena die Tränen über die Wangen. »Das weiß ich doch alles, Erck. Aber wissen ist das eine, empfinden das andere. Und meine Träume sind, wie sie sind.« Sie sah auf. »Kindisch, oder?«
Erck schüttelte nachdenklich den Kopf und reichte ihr ein Taschentuch. »Nein, das finde ich nicht. Ich bin kein Psychologe, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es richtig ist, deine Gefühle zu unterdrücken.«
»Tue ich das?«, fragte Lena flüsternd.
»Ich weiß es nicht. Das kannst nur du beantworten.«
Lena stand auf und öffnete das Dachfenster. Die frische Nachtluft strömte ins Zimmer. »Ich werde morgen Beke besuchen. Sie ist doch auf der Insel?«
Erck lächelte. »So selten, wie Beke aufs Festland fährt, wäre es schon ein großer Zufall, wenn sie morgen nicht zu Hause wäre. Ich habe sie auch gestern im Ort gesehen und ein paar Worte mit ihr gewechselt. Sie wollte natürlich wissen, ob wir schon etwas gefunden haben.«
Lena schloss das Fenster und setzte sich wieder zu Erck. »Haben wir! Was macht der Mietvertrag?«
»Ist in der Post. Das Haus gehört uns. Ich rufe unsere Vermieterin morgen an und frage, ab wann ich dort was machen kann.«
»Das klingt gut. Was müssen wir als Erstes machen?«
»Eine Küche aussuchen. Die Zeit drängt und ich vermute, wir werden irgendein Ausstellungsstück nehmen oder drei Monate mit einem Provisorium leben müssen.«
»Drei Monate?«
»Wenn nicht mehr! Aber wir können erst mal die vorhandene Küche nutzen. Und ich habe ja noch meine anderen Möbel eingelagert. Sofa, Tisch und so weiter. Alles brauchen wir nicht neu.«
»Und ich muss meine Wohnung kündigen. Ich weiß gar nicht, wie lang die Frist ist.«
»Oder du findest einen Nachmieter. Das sollte bei der momentanen Wohnungslage kein Problem sein. Dann kannst du gleich aus dem Vertrag raus.«
Lena legte den Kopf in den Nacken. »Dann trifft es sich ja gut, dass ich ein paar Tage freihabe.«
Lena stand am Strandübergang neben der Norddorfer Strandhalle und atmete die salzige Nordseeluft ein. Nach einem ausgiebigen gemeinsamen Frühstück war Erck zu einem Termin aufgebrochen. Lena hatte sich sein Fahrrad ausgeliehen und war die knapp zwei Kilometer Richtung Strand gefahren.
Trotz des strahlenden Sonnenscheins waren nur wenige Urlauber am Strand unterwegs, da die Hauptsaison erst in vier Wochen begann. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und wollte sich gerade auf den Weg machen, als ihr Handy sich bemerkbar machte. Sie sah aufs Display und nahm das Gespräch an. »Guten Morgen, Johann.«
»Hallo, Lena. Gut angekommen?«
»Ja. Ich stehe hier gerade in der Nähe der Strandhalle. Blauer Himmel, Sonne, mäßiger Wind, himmlische Ruhe.«
»Hier leider nicht.«
»Du bist doch ins Büro gefahren?«
Johann stöhnte leise. »Ich dachte mir, dass es vielleicht klug ist, die Protokolle vom gestrigen Tag zu schreiben und ins System einzupflegen.«
»Daran habe ich gestern nicht mehr gedacht. Danke, Johann. Und ja, die SoKo wird darauf zurückgreifen wollen.«
»Kollege Groll hat mir vorhin schon einen Besuch abgestattet. Er fragte nach dir und hat dann seine schlechte Laune an mir ausgelassen. Wir wären ab sofort raus aus den Ermittlungen und so weiter und so fort. Du sollst dich umgehend bei ihm melden, soll ich dir ausrichten.«
Lena rollte mit den Augen. »Lass ihn einfach reden. Er hat meine Nummer, wenn er was will.«
»Ich habe ihn angelächelt und zugesagt, dich zu informieren, sobald ich was von dir höre.«
»Klingt doch gut«, antwortete Lena.
»Die Zentrale der SoKo ist übrigens hier im Haus.«
»Okay. Danke für die Info. Ich werde jetzt einen langen Strandspaziergang machen. Und du?«
»Ich bringe die Zeit heute irgendwie rum und nehme dann zwei Tage frei. Den Urlaubsantrag hat Warnke schon genehmigt.«
»Grüß Johanna von mir.«
»Tschau, Lena.«
Lena spürte, dass Johann enttäuscht von ihrem Rückzug war. Er kannte sie ausschließlich als eine Frau, die nie aufgab. Nach ihrer Rückkehr würde sie mit ihm sprechen müssen. Zumindest eine ansatzweise Erklärung war sie ihm schuldig.
Inzwischen hatte Lena die wenigen Strandkörbe, die schon im Mai aufgestellt waren, hinter sich gelassen und lief Richtung Norden nahe dem auflaufenden Wasser. Hier war der Boden fester und gut zu begehen. Nach wenigen Minuten war sie allein am Strand, erhöhte das Tempo und konzentrierte sich dabei ausschließlich auf ihre Atmung und ihre Bewegungen. Nach einer Weile spürte sie die nachlassende Spannung, blieb stehen und beobachtete die herannahende Nordsee. Ebbe und Flut, eine berechenbare Größe. Sie sah sich als junges Mädchen barfuß am Strand laufen, der Wind wirbelte ihre langen Haare auf, die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Erck kam ins Bild, lachte und umarmte sie. Gemeinsam liefen sie Hand in Hand auf das Wasser zu, das an ihnen hochspritzte, als sie es mit lautem Kreischen erreichten.
Unwillkürlich musste Lena lächeln. Würden Erck und sie an die glückliche Zeit anschließen können? Sie schüttelte sich. Es war der richtige Weg, die richtige Stadt, der richtige Zeitpunkt. Wenn sie es jetzt nicht schaffen würden, wäre es für immer zu spät. Es gab keinen Weg zurück und das war gut so.