NEUNZEHN
»Du kannst nichts dafür, dass dir der Fall entzogen wurde«, sagte Erck.
Lena und er liefen an der Ostseite der Insel auf einem Weg mit Blick auf das Wattenmeer entlang. Sie hatte ihm soeben von dem Gespräch mit Rika erzählt. »Da bin ich mir nicht ganz so sicher.«
Erck blieb stehen und sah sie erstaunt an. »Wie meinst du das jetzt? Du wusstest doch, wie unwahrscheinlich es ist, diesen Fall in drei Tagen aufzuklären.«
»Das meine ich nicht.« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher, bis Lena stockend anfing, von Grolls versuchter Vergewaltigung zu erzählen. Erck hörte fassungslos zu, während er ihre Hand hielt. Schließlich setzten sie sich auf eine Bank. Erck legte seinen Arm um Lenas Schulter und reichte ihr ein Taschentuch, als die ersten Tränen über ihre Wangen liefen.
»Wäre ich damals gegen Groll vorgegangen, wäre er jetzt sicher nicht mehr in der Truppe«, erklärte Lena ihm. »Ich war einfach zu feige.«
»Du und feige?« Erck schüttelte vehement den Kopf. »Ich kenne niemanden, der mutiger ist.«
Lena warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Das ist schön, dass du das sagst, aber ich bin keine Heldin. Meinst du etwa, der Kerl hat danach aufgehört, Frauen zu belästigen? Hätte ich nicht so schnell reagiert und ihm die Waffe an den Kopf gehalten, hätte er mich …« Sie schluckte. »Nein, ich war erbärmlich feige. Ich hatte panische Angst, dass er mich fertigmacht und meine Karriere am Ende ist. So einfach ist das. Ich habe nicht verhindert, dass Groll mit der Masche weitermachen konnte. Und das nennst du jetzt mutig?«
»Du warst jung und hattest keine Unterstützung. Im Gegenteil, wenn dich dieser Kollege auch noch bei Groll angeschwärzt hat, konnte sich dieser miese Typ darauf vorbereiten und die angeblichen Zeugen besorgen. Du hättest mit einer Anzeige nichts erreicht. Im Gegenteil, er hätte dir den Rest gegeben.«
Lena stand auf und reichte Erck die Hand. »Lass uns weitergehen. Mir wird kalt.«
Sie liefen eine weitere halbe Stunde, bevor sie umkehrten. Kurz bevor sie den Weg Richtung Norddorf verlassen mussten, setzte die Dämmerung ein und leichter Nebel zog über dem matt schimmernden Watt auf. Lena blieb stehen und sog die salzige Nordseeluft tief in ihre Lungen. Wie häufig hatte sie hier mit ihrer Mutter gestanden, nachdem sie von einem langen Spaziergang zurückgekehrt waren? Sie hatten schweigend dem Naturschauspiel beigewohnt, die sich immer wieder neu bildenden Wolkenformationen bewundert, dem aufziehenden Nebel zugesehen, der die Landschaft in ein weiches Licht tauchte, oder den Tausenden Vögeln, die auf ihrem Weg in den Süden im Watt Station machten. Plötzlich hörte Lena die Stimme ihrer Mutter, die ihr versprach, auf sie aufzupassen.
»An was denkst du?«, fragte Erck, der bisher schweigend neben ihr gestanden hatte.
»Daran, dass ich fast vergessen habe, wie betörend die Landschaft hier ist«, sagte sie und fügte leise hinzu: »Und daran, wie oft ich hier mit Mama spazieren gegangen bin.«
»Ja, ich weiß. Wir sind doch auch manchmal zu dritt hier gewesen.«
»Sie wäre in diesem Jahr sechzig geworden.« Lena hatte so leise gesprochen, dass Erck sich zu ihr hinübergebeugt hatte.
»Am sechzehnten Juni, ich weiß. Ich habe schon mal nachgeschaut, was es für ein Tag ist.«
»Samstag«, kam Lena ihm zuvor. »Begleitest du mich zum Friedhof? Beke habe ich auch schon gefragt. Vielleicht laden wir auch noch ein paar Freunde von Mama ein. Was meinst du?«
»Das ist eine gute Idee. Wir können alle in die Strandhalle zu Kaffee und Kuchen einladen.«
Lena nickte nachdenklich. »Ja, da hat Mama so gerne gesessen. Ich spreche mit Beke darüber.« Sie suchte Ercks Hand und zog ihn mit sich. »Lass uns nach Hause gehen. Es ist bald dunkel.«
Am Mittwochmorgen wachte Lena spät auf. Der Duft von frischem Kaffee und selbst gebackenen Brötchen erfüllte den kleinen Wohn- und Schlafraum. Sie richtete sich auf und sah Erck lächelnd in der Tür stehen.
»Guten Morgen, mein Murmeltier!«
Lena rieb sich die Augen. »Wie spät ist es?«
»Kurz vor zehn. Ich wollte dich nicht aufwecken, so friedlich, wie du geschlafen hast.«
Lena sprang aus dem Bett. »Gib mir zehn Minuten. Dann bin ich bei dir.«
Wenig später stand sie mit noch nassen Haaren neben Erck und küsste ihn auf die Wange. »Du musst mich nicht immer bedienen. Morgen bin ich dran mit dem Frühstück.«
Erck reichte ihr eine große Tasse Milchkaffee. »Jetzt setz dich erst mal. Rührei ist gleich fertig.«
»Was machen wir heute?«, fragte Lena, als Erck ihr ein Ei auf den Teller legte.
»Ein Freund hat mich vorhin angerufen und gefragt, ob ich Lust auf eine kleine Tagestour auf seiner Segeljacht habe. Was meinst du?«
»Auf jeden Fall. Sag sofort zu. Wann sollen wir da sein?«
»Um zwölf geht’s los.« Erck griff nach seinem Handy und tippte etwas ein. »So. Gebucht!«
Lena schmierte Butter aufs Brötchen und wollte gerade hineinbeißen, als sich ihr Handy bemerkbar machte. Sie schaute aufs Display und stöhnte leise. »Warnke! Was will der denn?« Sie drückte das Gespräch weg. »Das hat sicher Zeit.« Sie sah auf. »Wie heißt dein Freund?«
»Georg. Er hat seine Jacht im Seglerhafen liegen und kommt ab und zu für ein paar Tage nach Amrum. Er wohnt und arbeitet in Flensburg.«
Lena grinste. »Du kennst Leute! Ist die Jacht groß?«
»Siebzehn Meter, glaube ich. Sechs Leute können darauf schlafen, hat er mir mal gesagt.«
Während sie aßen, erzählte Erck von einem früheren einwöchigen Trip die dänische Küste hoch bis nach Frederikshavn.
Als sie den Tisch abgeräumt hatten, fiel Lena wieder ein, dass ihr Chef angerufen hatte. Sie griff nach dem Handy und wählte seine Nummer.
»Frau Lorenzen. Danke für den Rückruf«, flötete er zuckersüß.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Lena kühl.
»Ich habe heute mit dem Kollegen aus Husum gesprochen, der auch die Ermittlungen auf Hallig Hooge geleitet hat. Er braucht dringend Unterstützung.«
»Ole Kotten?« Lena war hellhörig geworden.
»Genau der! Auf dieser Hallig wurde jemand als vermisst gemeldet und er meinte …«
»Wer?«
»Augenblick! Ein gewisser Jan Thomsen. Sie würden ihn kennen, hat er mir versichert. Er bat darum, dass wir aufgrund der dünnen Personaldecke jemanden schicken. Dabei hat er an Sie gedacht.«
Lenas Puls hatte sich beschleunigt. War das die Chance, wieder ins Spiel zu kommen? Konnte Warnke so naiv sein, dass er den Zusammenhang zum Rieckert-Fall nicht sah?
Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: »Die SoKo muss ja nicht unbedingt mitbekommen, dass Sie im Umfeld von Klaas Rieckert ermitteln. Sie verstehen mich?«
»Ich brauche Grasmann. Heute Nachmittag kann ich in Husum sein.«
»Wunderbar. Ich informiere den Kollegen sofort.« Lena hörte, wie er kurz Luft holte. »So weit, so gut. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Melden Sie sich bei mir, wenn es Fortschritte in der Sache gibt. Ich zähle auf Sie.« Er beendete das Gespräch mit einer freundlichen Verabschiedung.
Lena starrte auf ihr Handy. War das eine indirekte Aufforderung gewesen, im Fall Klaas Rieckert weiterzuermitteln? Ihr war klar, dass sie sich, selbst wenn Warnke es so gemeint hatte, im Ernstfall nicht darauf würde berufen können.
Erst jetzt bemerkte Lena Erck, der in der Tür stand und vermutlich das Gespräch mitbekommen hatte. Er sah sie fragend an. »Du musst sofort nach Husum?«
Sie nickte. »Das war Warnke. Einer der Zeugen im Fall Rieckert wurde als vermisst gemeldet und Warnke hat mich jetzt …« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist vollkommen verrückt.«
»Ja, das ist es wohl«, murmelte Erck und wandte sich ab.
Lena kam näher und legte ihre Arme von hinten um seinen Körper. »Du bist sauer? Und du hast auch vollkommen recht. Meine Arbeit …« Es verschlug ihr die Sprache.
Erck drehte sich zu ihr um. »Ist in Ordnung, Lena. Ich weiß ja, wie wichtig dir der Fall ist.« Er sah auf die Uhr. »Du musst jetzt sofort packen, um die Fähre noch zu erreichen.«
»Es tut mir leid, Erck. Wirklich. Wenn der Fall …«
»Ich weiß doch, Lena. Und jetzt pack deine Sachen. Hopp, hopp!«
Lena warf Erck einen Kussmund zu, griff nach ihrer Reisetasche, die sie auf dem Schrank deponiert hatte, und suchte alles Notwendige zusammen. Der Abschied von Erck fiel ihr schwerer als gedacht. Mit feuchten Augen stieg sie ins Auto und fuhr Richtung Wittdün.
Auf der Fahrt zur Fähre rief Lena Ole Kotten an.
»Du bist auf dem Weg nach Husum?«, fragte Kotten.
»Wenn alles gut läuft, bin ich gegen ein Uhr vor Ort. Was genau ist passiert?«
»Enno Brunken hat Thomsen als vermisst gemeldet. Er ist seit gestern nicht mehr auf Hooge gesehen worden.«
»Nicht sehr ungewöhnlich, wenn ein erwachsener Mann sich für ein paar Tage abseilt. Er wird irgendwo auf dem Festland sein und …«
»Dann muss er geflogen sein. Auf einer der Fähren war er definitiv nicht. Ich habe es persönlich kontrolliert. Außerdem wollten sich Brunken und Thomsen am Dienstag für dringende Reparaturarbeiten an der Segeljacht treffen. Er ist aber schon am Abend zuvor, als sie im Friesenpesel verabredet waren, nicht gekommen. Auf dem Handy war und ist er nicht zu erreichen. Das Gerät ist nicht zu orten. Wahrscheinlich ausgestellt oder der Akku ist leer.«
»Okay, das ist wirklich merkwürdig. Wie hast du übrigens Warnke so schnell herumbekommen? Der hat mir vorhin ja fast einen roten Teppich ausgerollt.«
Kotten lachte. »Sieh an! Ehrlich gesagt, habe ich zwar darüber nachgedacht, dich anzufordern, aber dein werter Chef ist mir zuvorgekommen. Er hat mich angerufen und vorgeschlagen, Unterstützung zu schicken. Offiziell soll die Anfrage natürlich von uns kommen.«
»Was ist denn da passiert?«, murmelte sie.
»Wie bitte?«, fragte Ole Kotten.
»Entschuldige, eines meiner vielen Selbstgespräche. Ich bin jetzt kurz vor der Fähre. Wenn ich in Dagebüll losfahre, melde ich mich noch mal. Mein Kollege Johann Grasmann setzt sich auch gleich in Bewegung. Wahrscheinlich ist er eher da als ich.«
»Alles klar, ich bin hier.«
Lena reihte sich in die Schlange der Fahrzeuge ein, die auf dem Kai warteten, und fuhr kurz darauf auf die Fähre.
Auf dem Oberdeck suchte sie sich eine ruhige Ecke und rief Johann an. »Hast du schon mit Warnke gesprochen?«
»Kurz. Was ist eigentlich los? Er sagte mir nur, dass du mich ins Bild setzen würdest.«
Lena erklärte ihm die Lage.
»Klingt tatsächlich etwas merkwürdig«, sagte Johann.
»Ich bin auf der Fähre. Wann bist du in Husum?«
»Mit Übernachtung?«
»Am besten, du nimmst deine Sachen mit. Wir müssen vor Ort besprechen, wie wir vorgehen.«
»Alles gut! Ich breche in einer halben Stunde auf. Kotten weiß Bescheid?«
»Ja. Er erwartet dich. Frag dich einfach durch.«
»Bis später!«, verabschiedete sich Johann.
Lena verließ ihren windgeschützten Platz auf dem hinteren Teil des Oberdecks und trat an die Reling.
Warnke war von allein aktiv geworden. Warum? Lena war davon ausgegangen, dass er froh über die Entwicklung war und darüber, dass er die Verantwortung für den Fall hatte abgeben können. Waren wieder mal eigene Interessen im Spiel? Hatte der Generalstaatsanwalt ihn auflaufen lassen und kaltgestellt? Hatte er Angst um seinen Posten beim LKA? Das alles war Lena letztlich vollkommen egal, solange sie sich auf Warnkes Rückendeckung verlassen konnte. Und genau in diesem Punkt war sie sich nicht sicher. Warnke war ein Karrierist, der zuallererst seine persönlichen Interessen im Blick hatte. Lena würde aufpassen müssen, da sie ihre Ermittlungen kaum vor Groll geheim halten konnte.
Sie verließ das Oberdeck und suchte sich einen ruhigen Platz am Fenster, um einen heißen Milchkaffee zu trinken.
»Kotten!«
»Lena hier! Ich bin jetzt auf dem Festland. Wenn die Straßen weiter so leer sind, bin ich in einer halben Stunde in Husum.«
»Gut! Dein Kollege ist übrigens schon da, hat sich aber gerade auf die Suche nach einem Kaffee verabschiedet.«
»Dann ist unser Team ja komplett. Bis später, Ole.«
Lena fuhr parallel zum Nordseedeich auf der L 191 Richtung Süden. Diese Straße würde Erck in Zukunft zwei- oder dreimal in der Woche auf dem Weg nach Dagebüll fahren müssen. Insgesamt über zwei Stunden inklusive Fährfahrt. Ihre Strecke nach Kiel würde nur halb so lange dauern, dafür musste sie sie fast jeden Tag zurücklegen. Sie beide würden viele Stunden auf der Straße verbringen, um die wenigen Stunden am Abend und in der Nacht zusammen zu sein. Ein hoher Preis. Lena war klar, dass es keine optimalen Bedingungen waren, um ein neues Leben zu beginnen, aber dies war momentan der einzige Weg, das Experiment starten zu können.
Sie erschrak über ihre eigenen Gedanken. Experiment klang nicht nach einem Neuanfang. Nein, das Leben war nicht planbar, aber auch kein Experiment. Dieses Mal würde sie ihre ewigen Vorbehalte zurückstellen, darum kämpfen, dass Erck und sie eine Zukunft hatten. Selbst eine berufliche Veränderung schloss sie nicht mehr aus. Kiel und das LKA waren ersetzbar und nicht ihre Familie.