ZWANZIG
Ole Kotten schmunzelte und verneigte sich leicht. »Dann begrüße ich die Kollegen aus Kiel noch einmal ganz offiziell.«
Lena war fünf Minuten zuvor in Kottens Büro gekommen und hatte die beiden Männer dabei angetroffen, wie sie einen Tisch in das geräumige Büro trugen.
»Eine SoKo ohne Besprechungstisch geht doch gar nicht«, meinte Johann grinsend und zog sich einen Stuhl heran. Als die drei Kommissare Platz genommen hatten, warf Lena Ole Kotten einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. »Soll ich einen kurzen Abriss der Ereignisse geben? Dann sind wir alle auf dem gleichen Stand.«
Ole Kotten war am Dienstag gegen elf Uhr informiert worden, dass Enno Brunken seinen Freund Jan Thomsen als vermisst gemeldet hatte. Kurz darauf sprach er persönlich mit Brunken und machte sich gegen Mittag auf den Weg nach Hooge. Enno Brunken war offensichtlich am Montagabend mit seinem Freund im Friesenpesel verabredet gewesen, um einen längeren Segeltörn im Juni zu besprechen. Als Thomsen nicht kam, machte Brunken sich auf den Weg zu diesem nach Hause. Auch hier traf Brunken ihn nicht an, Thomsens Handy war abgestellt. Brunken versuchte an diesem Abend mehrmals, seinen Freund zu erreichen, rief diverse Leute auf Hooge an, fand Thomsen aber nicht. Am nächsten Morgen setzte er seine Suche fort und meldete Thomsen dann in Husum als vermisst.
Kotten befragte Brunken erneut auf Hooge, stellte eine kleine Suchmannschaft zusammen, die die Hallig abfuhr, während er selbst sich um die Fähren kümmerte. Nirgendwo fand sich ein Hinweis auf Thomsens Verbleib. Mit der letzten Fähre verließ Kotten die Hallig. Am nächsten Morgen versuchte er, die Schwester von Thomsen zu erreichen, die in Bredstedt wohnte, einem kleinen Ort, der zwanzig Autominuten von Husum entfernt lag. Nur ihr Mann ging ans Telefon, seine Frau sei zum Einkaufen nach Flensburg gefahren und von seinem Schwager hätte er nichts gehört. Kotten informierte die umliegenden Polizeistationen, fragte in Krankenhäusern nach und versuchte mehrfach, Thomsen auf seinem Handy zu erreichen. Alle Versuche, Thomsen zu finden, liefen ins Leere.
Nachdem Ole Kotten seinen kurzen Bericht beendet hatte, sah er Lena auffordernd an. Sie nickte und übernahm die Gesprächsführung.
»Okay! Auch wenn es nur auf einer Nebenspur ist, wir sind wohl wieder im Spiel. Lassen wir mal beiseite, weshalb Warnke uns hier hinbeordert hat …«
»Ich dachte …«, unterbrach Johann erstaunt.
»Stimmt. Du weißt ja noch gar nichts davon. Nicht Ole hat uns angefordert, sondern Warnke hat die Initiative ergriffen und ihn angerufen.«
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, murmelte Johann.
»Erst mal sind Warnke und seine Hintergedanken egal, aber wir müssen uns vorsehen. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich vor uns stellen wird, wenn es Ärger mit der SoKo gibt.«
»Sehe ich genauso«, stimmte ihr Ole Kotten zu. »Was ich bei meinem Bericht gerade noch vergessen habe: Ich habe beim Halligkaufmann einen Zeugenaufruf an das Schwarze Brett geheftet. Allerdings hat sich bisher noch niemand gemeldet.«
»Gibt es keine anderen Möglichkeiten, um von dieser Hallig wegzukommen?«, erkundigte sich Johann.
»Mit dem Helikopter. Aber das können wir definitiv ausschließen, der wäre weithin sichtbar gewesen. Das hätte sich schnell herumgesprochen. Und dann natürlich mit einer Segeljacht oder einem Motorboot. In den Büchern waren an diesem Tag keine Gastboote eingetragen, Thomsens Jacht liegt im Hafen.«
»Warum sollte er auch ein fremdes Schiff nehmen, wenn seine eigene Jacht zur Verfügung stand?«, warf Lena ein.
»Um seine Spuren zu verwischen«, konterte Johann.
Ole Kotten nickte. »Allerdings müsste er einen Grund zur Flucht gehabt haben.«
»Ist er von den SoKo-Leuten befragt worden?«, war Lenas nächste Frage.
»Daran habe ich natürlich auch gleich gedacht und meinen alten Kumpel Frank aus Schleswig angerufen. Um es kurz zu machen: Es sind fast alle Erwachsenen auf Hooge befragt worden. Frank Hansen war nicht in der Gruppe, die Thomsen befragt hat, aber er hat netterweise das Protokoll aufgerufen und mich informiert.«
»Wow! Haben wir sozusagen einen direkten Draht in die große SoKo?«, fragte Johann und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Wenn ich das nicht überstrapaziere, werde ich von Frank schon die eine oder andere Wasserstandsmeldung abrufen können«, bestätigte Ole Kotten.
Lena nickte. »Ist Thomsen hart rangenommen worden?«
»Beim ersten Mal waren es sehr allgemeine Fragen, bei der zweiten Befragung, nachdem wohl inzwischen klar war, dass er nicht unbedingt Klaas Rieckerts Freund war, wurde er lange und ausgiebig befragt.«
»Und?«
»Da ist nichts bei herumgekommen, weil er sich nach kurzer Zeit mehr oder weniger ausgeschwiegen hat. Ihm wurde am Ende eine dritte Befragung in Kiel angedroht. Ich denke, das ist der übliche Vorgang, wenn Zeugen mauern.«
»Er stand also schon unter Druck«, schlussfolgerte Lena.
»Das hängt sicher davon ab, ob er mehr weiß oder unter Umständen sogar in die Sache verstrickt ist.«
»Es gab in der Befragung aber keine Anzeichen, dass er nervös wurde?«, wollte Johann wissen.
»Das Protokoll habe ich natürlich nicht gelesen, darum wollte ich Frank nun nicht bitten, aber nach seiner Auskunft hielt sich alles im Rahmen der üblichen, uns allen bekannten Reaktionen von Zeugen, die uns nicht so wohlgesonnen sind. Aus welchem Grund auch immer.«
Lena griff nach einem breiten Filzstift und stellte sich an die im Büro stehende Flipchart und schrieb oben auf die Seite »Jan Thomsen«.
»Thomsen ist unser Ausgangspunkt.«
Links unter Jan Thomsen platzierte sie seinen Vater Tom, rechts Enno Brunken und Eike Knudsen. Zwischen Jan Thomsen und den beiden Freunden schrieb sie »Segeljacht«.
»Das wäre Thomsen und sein für uns relevantes Umfeld. Die Mutter ist vor fünfzehn Jahren verstorben und bisher noch nicht in unseren Ermittlungen aufgetaucht. Habt ihr weitere Personen?«
Als die beiden Kommissare den Kopf schüttelten, setzte sie ihre Arbeit an der Flipchart fort. Ganz unten auf dem Blatt erhielt Klaas Rieckert seinen Platz. Links in waagerechter Linie zu Tom Thomsen positionierte sie Gesine Husmann und darüber ihren ersten Ehemann und Klaas’ Vater, Tjark Rieckert. Die Mitte war für Maike Holzer reserviert, während auf der rechten Seite, wie bei Thomsen, die beiden Freunde standen, die sie bisher noch nicht gefunden hatten. Christian Petersen und Björn Preischel.
»So, das wäre der Gegenpart, vorausgesetzt, die beiden oder sogar alle drei Fälle haben miteinander zu tun. Letztendlich bleibt uns nur die Chance, die Fäden bei Jan Thomsen aufzunehmen. Wenn wir dann im Rahmen unserer Recherchen zu Klaas Rieckert und seinem Umfeld vorstoßen, lässt sich das nun mal nicht ändern.«
Lena griff wieder nach einem roten Filzstift und verband Tjark Rieckert mit einem kräftigen Strich mit Tom Thomsen.
»Bisher schienen die Konflikte, die Rieckert mit Thomsen ausgetragen hat, immer wieder auf eine alte Feindschaft der beiden Väter zurückzuverweisen.«
»Schön und gut«, kommentierte Johann ihre Ausführungen. »Ich kenne solche Feindschaften, wie du es jetzt genannt hast, aus meiner Heimat nur zu gut. Dort wurden die Streitigkeiten manchmal über Generationen fortgeführt und am Ende konnte keiner mehr so genau sagen, wie es angefangen hatte und vor allem welche Relevanz dieser Urkonflikt überhaupt noch für die Gegenwart hatte. Auf jeder Feier, bei der die Kontrahenten aufeinandertrafen und der Alkohol in Strömen floss, kam es zu handfesten Auseinandersetzungen. Nicht mehr und nicht weniger. Niemand wäre auf die Idee gekommen, jemanden aus der anderen Familie zu ermorden. Ich halte diesen Ansatz für eine Sackgasse. Wir sollten uns lieber auf die letzten Jahre konzentrieren. Was ist da passiert? Was hatte Rieckert mit Thomsen zu tun? Ist er verstrickt in die Morde in Flensburg, Hamburg und Berlin?«
»Wir können das eine machen, ohne das andere zu lassen«, brachte sich Ole Kotten ein. »Wann genau begannen die Streitigkeiten zwischen Rieckert und Thomsen?«
Lena zog eine unterbrochene Linie zwischen Klaas Rieckert und Tom Thomsen. Auf halber Höhe schrieb sie »2013«.
»In diesem Jahr soll es laut Thomsen zu einer Auseinandersetzung auf dem Schleusenfest gekommen sein.«
»Das war also fünf Jahre nach den Morden«, sagte Ole Kotten. »Könnte es sein, dass die beiden sich über den Lohn ihrer gemeinsamen Arbeit gestritten haben? Hat Thomsen nicht genau um diese Zeit gemeinsam mit seinen Freunden die Segeljacht gekauft?«
Lena kontrollierte ihre Notizen. »Ja, das muss kurz zuvor passiert sein.«
Johann warf seinen Kollegen einen ungläubigen Blick zu. »Das ist sehr, sehr weit hergeholt. Thomsen investiert den Lohn für die Auftragsmorde in eine Jacht und Rieckert geht leer aus?«
»Johann! Warum willst du dich unbedingt auf nur einen Ansatz festlegen?« Um ein Haar wäre ihr der Vorwurf herausgerutscht, dass das unprofessionell sei. Johann schien entweder nicht ganz bei der Sache zu sein oder ihm missfiel die neue Konstellation des Teams. Hatte er Bedenken, dass er neben den beiden Hauptkommissaren eine untergeordnete Rolle spielen würde?
Sie trat wieder an die Flipchart. »Wir brauchen also mehr Informationen über die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern. Das Gleiche gilt für die Väter der Männer.«
Dann tippte sie auf die Namen von Brunken und Knudsen. »Was haben die beiden mit dem Streit zu tun? Wissen sie mehr darüber? Knudsen, der in Schleswig lebt, haben wir noch gar nicht befragt.« Sie markierte zuerst die Linie zwischen Klaas Rieckert und Jan Thomsen mit einer Eins, anschließend die Verbindung der Väter mit einer Zwei. Neben Knudsen schrieb sie eine Drei, eine Vier über Brunken.
»Das Gleiche gilt für Rieckerts Freunde.«
»Kommen wir da der SoKo nicht gefährlich nahe?«, fragte Johann, der Lenas nur halb ausgesprochenen Rüffel anscheinend weggesteckt hatte.
»Wenn die SoKo überhaupt von den beiden weiß«, bemerkte Ole Kotten. »Ich werde Frank fragen.«
»Selbst wenn, sie waren damals an dem Streit beim Schleusenfest beteiligt«, warf Lena ein. »Da liegt es nahe, dass wir sie befragen.«
Sie schrieb eine Fünf und eine Sechs neben die beiden Namen.
Ole Kotten griff nach dem Filzstift, den Lena inzwischen wieder auf den Tisch gelegt hatte, und malte eine Sieben neben Gesine Husmann. » Sie müssen wir noch einmal zum alten Streit zwischen den Vätern befragen. Es kann nicht sein, dass sie davon nichts weiß. Vielleicht gibt es ja noch andere auf Hooge, die uns da helfen können.«
»Wenn sie denn ihren Mund mal aufkriegen würden«, murmelte Lena und lauter an Johann gewandt: »Hattest du Preischel jetzt schon erreicht?«
»Leider nein, aber ich versuche es morgen noch einmal.«
»Du hast ihn gefunden?«, fragte Kotten seinen jungen Kollegen.
»Ich glaube es zumindest. Er wohnt in Hannover, war aber bis jetzt nicht dort zu erreichen. Seine Frau erwartet ihn jeden Tag zurück.«
Er nickte. »Ich hatte mit Petersen noch nicht so viel Glück. In Husum, wo wir ihn vermutet haben, ist er definitiv nicht gemeldet.«
»Okay, Vorschläge, wie wir weiter vorgehen?«, fragte Lena.