EINUNDZWANZIG
Mit Mühe erreichte Lena die letzte Fähre nach Hallig Hooge. Johann hatte dankend abgelehnt, als sie vorschlug, dass er mitkommen solle. Schließlich beschlossen sie, sich alle einzeln in die Ermittlungsarbeit zu stürzen. Johann würde sich intensiv mit den Listen des Seglerhafens auseinandersetzen und gleichzeitig versuchen, Björn Preischel in Hannover zu erreichen. Zusätzlich übernahm er die Recherche zum Preis von Thomsens Segeljacht. Ole Kotten würde sich derweil mit Jan Thomsens Schwester treffen und sie befragen. Die Suche nach Christian Petersen hatte er ebenfalls auf dem Zettel. Lena wiederum würde Gesine Husmann und Enno Brunken befragen und am Donnerstagvormittag zurück nach Husum kommen.
»Hallo, Lena!«, begrüßte Rika de Boer sie am Telefon.
»Moin, Rika. Ich bin auf dem Weg nach Hooge. Darf ich noch einmal deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen?«
»Klar, kein Problem. Ich hole dich am Anleger ab.« Sie hielt kurz inne. »Kommst du wegen Jan Thomsen? Der soll angeblich verschwunden sein.«
»Ja, er wurde als vermisst gemeldet. Deshalb muss ich noch einmal mit Enno Brunken und Gesine sprechen.«
Rika stöhnte leise. »Die Hallig steht Kopf. Zwar sind die meisten Polizisten wieder verschwunden, aber ein paar von ihnen laufen hier noch rum. Sogar Hauke und ich wurden befragt – oder sollte ich lieber sagen: regelrecht verhört. Als wenn wir alle Klaas’ Komplizen gewesen wären.«
»Tut mir leid, Rika.«
»Du kannst doch nichts dafür. Glaubst du denn, dass Jan Thomsen etwas mit der ganzen Sache …« Sie brach ab. »Klar, du darfst mir nichts sagen. Dann mal bis gleich. Ich stell schon mal eine Flasche Weißwein kalt. Hauke wird sich freuen, dich zu sehen.«
»Bis später, Rika!«
Lena verließ das Oberdeck und suchte sich eine Etage tiefer einen ruhigen Platz. Erst jetzt konnte sie ihre Gedanken auf Jan Thomsen konzentrieren. Normalerweise hatte sie, egal in welcher Phase der Ermittlungen, verschiedene Theorien im Kopf. Dieses Mal war es anders. Thomsen hatte sich bei ihren Befragungen zwar unkooperativ verhalten, aber tragfähige Verdachtsmomente hatte Lena nicht gefunden. Warum war er gerade jetzt verschwunden, und dazu auf so mysteriöse Weise? Wäre er ganz normal mit der Fähre aufs Festland gefahren, hätte es trotz der Vermisstenanzeige keine weitergehende Untersuchung gegeben. Er war volljährig und zurechnungsfähig und konnte sich frei bewegen. Trotzdem war die zeitliche Nähe zu Klaas Rieckerts Tod Grund genug, Ermittlungen anzustellen. Sie holte ihren Laptop aus der Tasche und ging noch einmal die Notizen der Befragung durch. Auch beim zweiten Durchlesen fand sie keine Ungereimtheiten, bei denen sie ansetzen konnte. Sie würde ganz von vorne anfangen müssen.
Als Lena gegen fünf Uhr nachmittags Hooge erreichte, wartete Rika am Anleger. Sie begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung, Lena warf ihre Tasche in den Kofferraum und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Kannst du mich direkt zu Enno Brunken fahren? Er wartet auf mich.«
Fünf Minuten später saß sie in Brunkens Büro und ließ sich von ihm den Ablauf der letzten zwei Tage schildern.
»Haben Sie, nachdem Ihr Freund von den Kollegen befragt wurde, noch einmal mit ihm gesprochen?«
»Befragt?« Er hob mit empörtem Gesichtsausdruck die Arme. »Verhört! In die Zange genommen! Eine Unverschämtheit! Was die alles von uns wissen wollten. Als wären wir … Egal.« Er warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Ja, ich habe noch mit ihm telefoniert. Warum fragen Sie danach?«
»War er genauso empört über die Befragung wie Sie?«
»Klar! Und das mit Recht. Jan musste sogar gleich zweimal antanzen. Er war stinksauer, das sag ich Ihnen.«
»Er hat bei Ihrem letzten Gespräch nicht angedeutet, dass er vorhat, aufs Festland zu fahren?«
»Nein, natürlich nicht. Wir waren ja auch fest verabredet. Jan muss etwas zugestoßen sein.«
»An was genau denken Sie da?«
Enno Brunken stand auf und schob dabei seinen Stuhl nach hinten. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sonst hätte ich ja wohl kaum die …« Er schluckte das Wort hinunter, das ihm offenbar auf der Zunge lag. »… Polizei angerufen. Aber Rieckert ist ja offensichtlich auch nicht nur ertrunken, oder? Läuft hier etwa ein Mörder auf Hooge herum und …«
»Setzen Sie sich doch, Herr Brunken.«
Widerwillig kam er der Aufforderung nach. »Was unternehmen Sie denn jetzt? Warum fliegt hier kein Hubschrauber die Gegend und das Watt ab? Mit Wärmebildkamera oder was weiß ich.«
»Das ist bereits passiert, Herr Brunken. Mein Kollege Kotten aus Husum hat das veranlasst, aber leider hat der zweistündige Flug keine Ergebnisse gebracht. Bei der momentanen Faktenlage ist es schwierig, weitere Flüge bewilligt zu bekommen. Wir können bisher nicht ausschließen, dass Ihr Freund nicht für ein paar Tage freiwillig abgetaucht ist. Er ist erwachsen und sicherlich auch nicht orientierungslos oder dement.«
»Darum geht es doch gar nicht!«, fauchte Brunken Lena an.
»Ich würde vorschlagen, Sie beruhigen sich erst mal. Wenn Sie Ihrem Freund helfen wollen, brauche ich Informationen«, sagte sie kühl.
»Ist ja gut! Fragen Sie!«
»Herr Thomsen hat mir erzählt, dass er vor fünf Jahren mit Rieckert auf dem Schleusenfest aneinandergeraten ist. Sie erinnern sich daran?«
Brunken schnaubte verächtlich. »Das schon wieder.« Er zögerte, entschied sich dann aber zu antworten. »Rieckert … also Klaas war mit zwei anderen Typen dort. Wenn ich mich richtig entsinne, hatten die ein recht stattliches Boot, und ich meine auch, Jan hätte gesagt, dass sie nicht zum ersten Mal auf Hooge waren.«
»Wissen Sie noch, wie das Boot hieß?«
»Gott, das ist fünf Jahre her. Nein, ich glaube kaum, dass ich mich daran noch erinnere. Aber an das Boot schon. Es war an die zwanzig Meter lang. Alles vom Feinsten. Da hatte jemand Geld.« Er grinste. »Oder einen Papa mit Geld.«
»Wie ist es zu dem Streit gekommen?«
»Sie kennen das doch! Ein Wort gibt das andere und ratzfatz hat man eine handfeste Auseinandersetzung.«
»Man schlägt sich in Ihrem Alter doch nicht wegen Nichtigkeiten. Um was ging es tatsächlich?«
Brunken griff nach einem Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch und drehte ihn unruhig in der Hand herum. »Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, was diese Fragen sollen. Das ist ewig her.« Er wirkte sichtlich genervt. »Aber gut, wenn es unbedingt sein muss. Ich war damals nicht von Anfang an dabei. Aber Jan meinte später, das wäre eine alte Geschichte zwischen den beiden.«
»Rieckert und Ihr Freund waren also allein, als der Streit anfing?«
»Habe ich das nicht schon gesagt?« Brunken rollte verächtlich mit den Augen. »Ja, sie waren allein. Keine Ahnung, warum Jan sich abseits des Festes mit ihm getroffen hat.«
»Es war Ihrer Meinung nach kein zufälliges Aufeinandertreffen?«
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Hat Jan das so gesagt?«
»Nein, das hat er nicht. Er hat sich nicht weiter zum Ort der Auseinandersetzung geäußert.«
»Warum auch! Das Ergebnis ist doch das gleiche. Und keine Ahnung, wie es zu dem Treffen kam.« Er stutzte. »Wenn es denn überhaupt ein Treffen war.«
»Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden?«
»Na ja, Eike und ich haben Jan gesucht und ihn dann ja auch jenseits der Schleuse gefunden. Wir hatten unser gemeinsames Boot damals noch nicht so lange und er hatte eigentlich zugesagt, um die Zeit, also genau da, wo wir ihn dann gesucht haben, auf dem Boot zu sein. Das ist schon besser bei so einem Fest, bevor einem die Leute auf der Jacht herumtrampeln. Ich bin also los und habe die beiden, wie gesagt, gefunden. Zu dem Zeitpunkt war die Stimmung schon am Gefrierpunkt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dann kam auch noch einer von Rieckerts Freunden dazu …« Er zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, eines kam zum anderen und plötzlich flogen die Fäuste. Sozusagen.«
»Sie haben aber schon noch mitbekommen, über was die beiden sich gestritten haben?«
Brunken stöhnte theatralisch. »Das ist ewig her!«
»Trotzdem! Es könnte wichtig sein.«
»Ehrlich gesagt, das kann ich ganz und gar nicht erkennen. Warum sollte das wichtig sein?«
»Herr Brunken, glauben Sie mir, bei solchen Ermittlungen weiß man erst am Schluss, was wichtig und was unwichtig war.« Sie hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Sie verstehen, was ich damit meine?«
»Sie nerven! Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
Lena unterdrückte den Impuls, Brunken zusammenzustauchen, und lächelte ihn an. »Was haben Sie damals mitbekommen?«
»Geld! Was sonst! Meistens geht es doch ums Geld. Oder um Frauen. Rieckert war außer sich und hat Jan angebrüllt, dass er es bereuen wird. Und dass er alles bezahlen muss.« Brunken fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. »So ein Zeugs halt. Und Jan hat dagegengehalten und …« Er grinste. »… und mindestens genauso laut geschrien.«
»Was hat Ihr Freund gesagt?«
»Dass das alles kalter Kaffee ist und er sich nicht so haben soll. Das brachte dann Rieckert noch mehr auf die Palme und es hat dann auch ziemlich schnell geknallt. Ich bin dazwischengegangen, dieser Kumpel von Rieckert auch … Und so weiter und so fort. Am Schluss sind die Fäuste geflogen und genützt hat es einen Scheißdreck.«
»Und Jan Thomsen hat nie wieder mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nee, nicht wirklich. Was sollte man auch da groß reden. Es war, wie es war. Ende.«
»Gut, kommen wir noch mal auf die letzten Tage zu sprechen. Was hatten Sie für einen Eindruck von Ihrem Freund?«
»Eindruck? Was meinen Sie?«
»War Thomsen nervöser als sonst? Hat er sich anders verhalten? Hat er davon gesprochen, dass er bedroht wurde?«
»Bedroht? Natürlich nicht! Das hätte ich Ihnen ja wohl als Erstes erzählt. Er war nicht anders als sonst.« Brunken stand wieder auf und lief zum Fenster, um es kurz zu öffnen und wieder zu schließen. Zurück am Schreibtisch, blieb er stehen. »Na ja, vielleicht war er doch etwas anders.«
»Inwiefern?«
»Wie soll ich das sagen? Gereizt, schlecht gelaunt, eben alles in allem etwas neben der Spur.«
»Ich habe mir Ihre Segeljacht am Hafen angeschaut. Ein wirklich schönes Schiff. Sie haben sie zu dritt gekauft?«
»Ja, so ein Teil kostet eine Stange Geld. Und jeden Tag hat man ohnehin keine Zeit, mit dem Teil rauszufahren. Da ist es ’ne tolle Sache, das zu dritt zu machen.«
»Hundertfünfzigtausend?«, wagte Lena einen Schuss ins Blaue.
»Dafür kriegen Sie ein solches Schmuckstück nicht«, antwortete Brunken mit stolzer Miene. »Teures Hobby, aber wenn man draußen auf See ist, bereut man die Investition nicht. Im Gegenteil. Schöner als Fliegen.«
»Woher hatte Ihr Freund so viel Geld?«
»Ach, darauf wollen Sie hinaus. Die Antwort ist ganz einfach: Er hatte es nicht. Die erste Hälfte hatte Jan von seinem Vater geerbt, den Rest hat Eike ihm geliehen. Ohne Zinsen und so. Ein Freundschaftsdienst halt.«
»Ich dachte, Jan Thomsen hat den Hof von seinem Vater übernommen.«
»Richtig, aber sein Alter hatte noch Geld auf der hohen Kante. Jan hat das erst zurückgelegt. Sozusagen für schlechte Zeiten, aber dann …« Brunken setzte sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl. »Jan war selbst überrascht, dass sein alter Herr so viel gespart hatte. Aber okay, er konnte es gut gebrauchen.«
Lena schaute auf ihre Notizen. »Noch einmal zu Jan Thomsens Verfassung in den letzten Wochen. Sie sagten, er wäre etwas neben der Spur gewesen. Wie genau hat sich das geäußert?«
Brunken wiegte den Kopf hin und her. »Ein Hansdampf in allen Gassen ist Jan sowieso nicht, aber eigentlich ist er immer ganz gut drauf. Man kann Spaß mit ihm haben, er macht alles mit, was so kommt.«
»Aber?«
»In den letzten Wochen … sagen wir, seit Beginn des Jahres, war er nur schwer zu etwas zu bewegen. Als wir die zwei Tage auf Amrum waren, Eike, Jan und ich, hatten wir echt Probleme, ihn mit ins 54° Nord zu bekommen. Er ist dann auch recht früh mit dem Taxi zurück aufs Boot. So was ist vorher nie vorgekommen. Verstehen Sie jetzt, was ich meine? Eike und ich haben uns schon Sorgen gemacht, ob er ernsthaft krank ist. Man hört ja immer wieder davon, dass Leute in unserem Alter schon Krebs bekommen.«
»Haben Sie ihn danach gefragt?«
Wieder rollte Brunken mit den Augen. »Fragen Sie doch mal Ihren Mann, ob er mit seinen Kumpels über solche Sachen quatscht.«
»Mag sein. Ich werde ihn bei Gelegenheit mal fragen.« Lena konnte sich lebhaft vorstellen, über was sich die drei Freunde unterhielten, wenn sie auf Tour waren. An tiefschürfende Gespräche dachte sie dabei nicht. Zu diesem Punkt war von Brunken nichts mehr zu erfahren. »Machen Sie häufiger auf Amrum Station?«
»Je nachdem. Wir machen auch längere Touren, aber Amrum oder Sylt sind natürlich ein gutes Ziel, wenn man nicht tagelang unterwegs sein will.«
»Haben Sie da auch Kontakt zu anderen Seglern? Zum Beispiel auf Amrum?«
Brunken raufte sich die Haare und musterte Lena, als sähe er sie gerade zum ersten Mal. »Ihre Fragen werden immer merkwürdiger. Geht es Ihnen wirklich darum, meinen Freund zu finden?«
»Zum Spaß sitze ich hier nicht. Sie sind einer der wenigen, der recht intensiven Kontakt zu Jan Thomsen hatte. Wie gesagt, es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ob eine Ihrer Antworten uns weiterbringt, kann man im Vorfeld nicht sagen.« Lena wunderte sich über sich selbst. So diplomatisch und vorsichtig war sie schon lange nicht mehr mit Zeugen umgegangen, denen man jedes Wort aus der Nase ziehen musste.
»Sei’s drum! Klar, man lernt schon mal den einen oder anderen Seglerfreund kennen. Aber bitte schön, was sollen die mit Jans Verschwinden zu tun haben?«
»Gab es an dem letzten Amrum-Wochenende einen solchen Kontakt?«, bohrte Lena weiter, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Mag sein.« Wieder raufte er sich die Haare. »Am Sonntag haben wir, also Eike und ich, lange geschlafen, und als wir frühstücken wollten, sagte Jan, er hätte schon.«
»Was daran war ungewöhnlich?«
»Auf unserem Schiff hat er auf jeden Fall nicht gefrühstückt. Keine Ahnung, ob er überhaupt über Nacht da war.« Brunken grinste schief. »Sie wissen schon, was ich meine.«
»Eine Frau? Auf einem der anderen Boote?«
»Wie gesagt, keine Ahnung.« Er stand auf und reckte sich. »Haben Sie noch Fragen? Ich muss beim Abendessen für die Kinderbande helfen.«
Lena stand auch auf und reichte ihm ihre Visitenkarte. »Falls Sie die andere verloren haben. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«