ZWEIUNDZWANZIG
Rika hielt am Fuße der Warft, Lena stieg ein.
»Hatten Sie ein Taxi bestellt, meine Dame?«, fragte Rika mit gespielt ernstem Gesicht. »Wohin kann ich Sie bringen?«
»Wenn ich es mir aussuchen darf, bitte direkt nach Amrum. Luftlinie zehn Kilometer, würde ich mal schätzen. Oder fliegt Ihr Gefährt nicht?«
Rika lachte. »Leider nein, die Flügel sind mir abhandengekommen. Wohin also?«
»Meinst du, dass Gesine zu Hause ist?«
»Ich denke schon.« Sie legte den ersten Gang ein und beschleunigte langsam den alten Golf.
»Wie geht es ihr?«
Rika schaltete in den nächsten Gang. »Ich war gestern bei ihr. Sie ist niemand, der schnell jammert. Du weißt ja, die Menschen auf der Hallig sind hart im Nehmen. Und ihre Familie lebt schon seit vielen Generationen hier. Ich glaube, sie ahnt, dass Klaas noch eine andere Seite hatte als die, die wir alle kennengelernt haben.«
»Du hast ihr aber nichts gesagt?«
Rika warf ihr einen empörten Blick zu. »Nein, natürlich nicht. Aber du hast doch gesagt … Was meinst du, wann das mit Klaas rauskommt?«
»Das hängt davon ab, ob die SoKo das aus – wie es immer so schön heißt – ermittlungstaktischen Gründen weiter geheim halten will. Allerdings wissen inzwischen so viele Kollegen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass nicht bald etwas durchsickert.«
»Verstehe!« Rika stoppte den Golf. »Wir sind da. Du kennst ja den Weg. Ruf mich an, wenn ich dich abholen soll.«
»Danke, Rika.« Lena stieg aus und lief die letzten Meter die Husmannswarft hoch. Am Fenster des Hauses wurde eine Gardine kurz zur Seite geschoben. Lena meinte, Gesine Husmann erkannt zu haben. Als sie anklopfte, musste sie eine Weile warten, bevor die alte Dame ihr die Tür öffnete.
»Moin, Frau Husmann. Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?«
Wortlos trat Gesine Husmann zur Seite und führte Lena in die Küche. »Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich habe gerade welchen aufgesetzt.«
Lena nahm am Tisch Platz und wartete, bis Frau Husmann ihr den Tee servierte und sich zu ihr setzte.
Bevor Lena ihre erste Frage stellen konnte, wandte sich Gesine Husmann an sie. »Hat eine Mutter nicht das Recht zu erfahren, was ihrem Sohn vorgeworfen wird?«
Lena hatte zwar mit der Frage gerechnet, aber nicht unbedingt zu Beginn des Gesprächs. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort und überlegte fieberhaft, wie weit sie gehen konnte.
»Mir ist der Fall entzogen worden«, sagte sie schließlich. »Nicht weil ich einen Fehler gemacht habe, sondern weil der Leiter der SoKo einen persönlichen Groll gegen mich hegt.«
Gesine Husmann schmunzelte. »Bei seinem Namen kann das vielleicht nicht anders sein.«
»Sie kennen Kriminalrat Groll?«
»Er war persönlich hier und hat seine unverschämten Fragen gestellt. Ich kann mir vorstellen, warum dieser Mann Sie nicht mag.«
Lena leistete der alten Dame in Gedanken Abbitte. Sie schien klüger zu sein, als Lena zunächst gedacht hatte.
»Wenn ich das richtig beurteile …«, fuhr Gesine Husmann fort, »… hat er Probleme mit uns Frauen.«
Lena lächelte zustimmend. »Ja, so könnte man das formulieren.«
»Darf ich Sie noch einmal fragen, ob eine Mutter nicht das Recht hat, alles zu erfahren? Jetzt und nicht aus der Zeitung.«
»Ich setze meinen Job aufs Spiel, wenn herauskommt, dass ich interne Informationen weitergegeben habe.«
»Das weiß ich durchaus, Lena.«
Zum ersten Mal hatte Frau Husmann sie mit dem Vornamen angesprochen. Lena wog die Risiken ab und entschied sich.
»Ihrem Sohn Klaas wird vorgeworfen, drei Männer in drei verschiedenen Städten getötet zu haben.«
Die Stille im Raum wurde mit jeder weiteren Sekunde unerträglicher. Gesine Husmann starrte über Minuten auf ihre Teetasse, vollkommen bewegungslos und ohne ein Wort zu sagen. Lena wagte es nicht, eine Frage zu stellen oder sich anderweitig zu äußern. Schließlich richtete sich Gesine Husmann auf und atmete tief durch.
»Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob die Polizei Beweise hat?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kollegen aus der Forensik geirrt haben, ist verschwindend gering.«
Gesine Husmann nickte mit sorgenvoller Miene. »Warum?«
Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortete Lena ihr: »Das liegt noch vollkommen im Dunkeln. Ich weiß, Sie können sich nicht vorstellen, dass Ihr Sohn dazu fähig wäre, einem anderen Menschen so etwas anzutun. Alles, was ich bisher von Klaas erfahren habe, spricht nicht für einen …« Lena brach ab.
»… einen eiskalten Killer?«, ergänzte Gesine Husmann mit gebrochener Stimme.
»Ich würde es schon anders formulieren.«
»Und wie?«
»Spricht nicht für einen planmäßig vorgehenden Auftragsmörder.«
»Klaas hätte so etwas niemals für Geld gemacht. Niemals.«
»Das Gleiche vermute ich auch. Aber es muss einen Grund gegeben haben oder eigentlich mindestens drei Gründe.«
Gesine Husmann sah Lena flehend an. »Werden das bald alle hier auf der Hallig wissen?«
»Auch das kann ich Ihnen nicht sagen. Einen Prozess wird es nicht geben, aber es könnte sein, dass die SoKo mit den bisherigen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit geht, um dadurch an weitere Zeugenaussagen zu gelangen.«
»Die arme Maike«, murmelte Gesine Husmann mit weit aufgerissenen Augen. »Sie wird daran zerbrechen.«
Lena sog die frische Luft tief ein. Soeben hatte sie das Haus von Gesine Husmann verlassen. Nachdem sich Klaas Rieckerts Mutter wieder halbwegs gefangen hatte, konnte Lena ihr weitere Fragen stellen. Klaas Rieckert wurde von ihr als sensibler Junge beschrieben, der sehr an seinem Vater gehangen hatte. Dessen plötzlicher und unerwarteter Tod hatte Klaas in eine tiefe Krise gestürzt, die er nach Ansicht der Mutter erst als junger Erwachsener überwunden hatte. Gesine Husmann sah in dieser Verbundenheit zum toten Vater auch den Grund, weshalb sich Klaas mit Jan Thomsen nicht verstanden habe. Er habe sich verpflichtet gefühlt, die alten Streitigkeiten zwischen den Vätern fortzuführen. Warum die Väter verfeindet waren, konnte Gesine Husmann wie schon bei den vorherigen Befragungen nicht mit Sicherheit benennen. Das ursprünglich freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Männern hätte sich mit einem Mal schlagartig verschlechtert. Gesine Husmann vermutete, dass es sich bei dem Streit um Geld handelte, das ihr Mann Thomsen geliehen und nicht oder nur teilweise zurückbekommen hatte. Während der kurzen Krankheit hätten die Querelen keine Rolle mehr gespielt. Erst Klaas habe den Konflikt viele Jahre später ausgegraben und ihn sich zu eigen gemacht.
Gesine Husmann bezweifelte während des Gesprächs immer wieder, dass Klaas der Mörder der drei Männer sei, schwankte zwischen Wut und Verzweiflung und fragte Lena mehrfach nach den Gründen der Tat.
Gegen Ende der Befragung sprach die alte Dame ausschließlich über ihren Sohn. Darüber, wie Maike und er sich gefunden hatten, über die ersten glücklichen Jahre, in denen seine – auch wenn Gesine Husmann es nicht so nannte – Depressionen nicht mehr auftraten, sowie den plötzlichen Absturz und die folgenden schweren Zeiten, die erst vor neun Jahren geendet hatten.
Frau Husmann zeichnete das Bild eines Mannes, der sich nach dem frühen Tod seines Vaters langsam wieder ins Leben gekämpft hatte, der zwar widersprüchliche Seiten an sich hatte, aber eher zurückhaltend und empathisch gewesen war.
Zum Abschied umarmte Gesine Husmann Lena und dankte ihr für die Zeit, die sie sich für das Gespräch genommen hatte. Lena schickte Rika eine Nachricht, dass sie zu Fuß zurückgehen würde. Als sie gerade von der Warft hinuntergehen wollte, sah sie zwei Männer, die schon von Weitem als Polizisten zu erkennen waren. Weder war ihre Kleidung der Umgebung angepasst noch verhielten sie sich wie Halliggäste. Sie schienen nicht im Geringsten an der Natur interessiert zu sein. Lena trat einen Schritt zurück und wartete, bis die beiden außer Sicht waren, bevor sie sich auf den Weg machte.
Die Ruhe, die hier draußen über der Hallig lag, wirkte auf sie wie das Kontrastprogramm zu den letzten eineinhalb Stunden bei Gesine Husmann, die sie emotional aufgewühlt hatten.
Die Tagesgäste der Hallig fuhren zu dieser Zeit mit der Fähre zurück aufs Festland, die meisten Halligbewohner saßen zu Hause mit der Familie am Küchentisch oder erledigten die letzten Arbeiten des Tages auf dem Hof. Die Dämmerung hatte eingesetzt und würde in spätestens zwei Stunden den Sternenhimmel über der Hallig preisgeben. Selbst die zahlreichen Vogelarten schienen sich auf die Nacht vorzubereiten und ließen sich scharenweise auf den Wiesen rechts und links des Weges nieder.
Lena genoss die Stille der Natur, während ihre Gedanken zu den beiden unterschiedlichen Befragungen zurückkehrten. Zwar hatte Enno Brunken ihre Fragen weitaus bereitwilliger beantwortet als beim ersten Mal, aber der Nutzen schien ihr gering zu sein. Zumindest hatte sie jetzt die Bestätigung, dass Thomsen in den Wochen vor seinem Verschwinden unter Stress gestanden hatte. Inwieweit dies mit dem Tod von Klaas Rieckert zu tun hatte, würden sie weiter recherchieren müssen. Auf jeden Fall schien Lenas Intuition sie auch dieses Mal nicht im Stich gelassen zu haben. Schon beim ersten Gespräch mit Jan Thomsen hatte sie vermutet, dass er ihr etwas verschwieg. Würde es in den nächsten zwei bis drei Tagen kein Lebenszeichen von ihm geben, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Fälle zusammenhingen. War Thomsen das gleiche Schicksal widerfahren wie Rieckert? Hatte er doch etwas mit den Morden in Flensburg, Hamburg und Berlin zu tun?
Das zweite Gespräch mit Gesine Husmann lag Lena schwer auf dem Magen. Konnte sie in ähnlich gelagerten Fällen eine professionelle Distanz zum Leid der Angehörigen halten, so fiel ihr das bei Klaas Rieckerts Mutter von Mal zu Mal schwerer. Es tat ihr leid, dass Gesine Husmann zusätzlich zum schweren Verlust ihres Sohnes mit der öffentlichen Meinung konfrontiert werden würde, sobald die Morde an die Öffentlichkeit drangen. Dabei hatte sie nicht zuerst an sich gedacht, sondern an die Lebensgefährtin ihres verstorbenen Sohnes. Maikes Wohl schien ihr mehr am Herzen zu liegen als ihr eigenes.
Welche Erkenntnisse die letzten eineinhalb Stunden gebracht hatten, konnte Lena im Moment noch nicht übersehen. Ohnehin war es besser, die Sache langsam anzugehen, um nach und nach das Wesentliche herauszufiltern. Dieser Prozess lief bei Lena meistens in mehreren Phasen ab. In der ersten ließ sie Informationen und Eindrücke auf sich wirken und versuchte, sie nicht voreilig zu beurteilen. In der zweiten schälten sich einzelne Szenen der Befragung in ihrem Bewusstsein heraus. In aller Regel hatten sich Widersprüche aufgetan, die erst beim zweiten Hinsehen deutlich wurden. In der dritten Phase ging sie die Notizen systematisch durch und versuchte, die bisher intuitiv erfassten Knackpunkte der Aussagen zu hinterfragen. Dieser dreistufige Ablauf konnte zwischen wenigen Minuten und mehreren Tagen dauern.
Als Rikas Haus in Sicht kam, spürte Lena zum ersten Mal die Kälte der beginnenden Nacht. Sie lief schneller, bis sie den Fuß der Warft erreichte. Dort drehte sie sich noch einmal um und ließ die Halliglandschaft auf sich wirken. Das Rauschen des auflaufenden Wassers, der kräftiger wehende Wind, die Wiesen, die inzwischen im Grau der Dämmerung lagen und deren fliegende Bewohner nur noch schemenhaft wahrzunehmen waren. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss für ein paar Sekunden die Augen.