DREIUNDZWANZIG
Kaum hatte Lena das Haus betreten und Rikas Mann begrüßt, klingelte ihr Handy. Die Nummer auf dem Display gehörte Kriminalrat Groll. Sie stellte das Handy auf lautlos und folgte Rika und ihrem Mann in die Küche.
»Hunger?«, fragte Lenas Freundin und musterte sie kritisch. »So dünn, wie du bist, isst du doch sicher selten etwas Warmes. Wie wäre es mit Bratkartoffeln und Matjes?« Als Lena zustimmend nickte, holte Rika eine große gusseiserne Pfanne aus dem Schrank und griff nach einer Schüssel, in der bereits geschnittene Kartoffeln lagen. Kurz darauf breitete sich in der Küche der köstliche Duft von gebratenen Kartoffeln und Zwiebeln aus. Hauke öffnete die Flasche Weißwein und stellte Gläser auf den Tisch.
»Hooge scheint ja inzwischen von der Hälfte aller schleswig-holsteinischen Polizisten bevölkert zu werden«, sagte Hauke mit einem Augenzwinkern.
»Tut mir leid, Hauke, die Invasion konnte ich leider nicht verhindern.«
»Und was der gute Klaas gemacht haben soll, darfst du uns sicher nicht verraten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht.« Sie atmete innerlich auf. Anscheinend hatte Rika nicht mal ihrem Mann von den Morden erzählt.
»Muss ja ein ziemliches Ding gewesen sein, wenn hier eine ganze Busladung Polizisten auftaucht.« Er schenkte Wein ein und reichte seiner Frau am Herd ein Glas. »Dann sollten wir darauf trinken, dass auf Hooge bald wieder Ruhe einkehrt.«
Lena hob ihr Glas. »Prost!«
Rika hatte ihr einen verstohlenen Blick zugeworfen. Ihr war klar, dass Haukes Wunsch so schnell nicht in Erfüllung gehen würde.
Das Vibrieren ihres Handys zeigte Lena, dass eine Nachricht eingetroffen war. Johann fragte an, ob sie noch telefonieren könnten. Sie schrieb zurück, dass sie sich in einer Stunde melden würde.
»Immer noch bei der Arbeit?«, fragte Rika, als sie die große Pfanne auf den Tisch stellte.
»Mein Kollege. Er will später noch mit mir sprechen. Ich mach’s dann aber kurz. Versprochen!«
Rika griff nach Lenas Teller und legte neben den Matjes eine große Portion Bratkartoffeln. »Guten Appetit!«
»Hallo, Lena!«, begrüßte Johann sie. »Bist du morgen wieder in Husum?«
»Ich werde wohl die erste Fähre nehmen. Im Moment kann ich hier nichts weiter machen. Und bei dir und Ole?«
»Der Kollege Kotten ist bei der Schwester gewesen und wird uns morgen wohl berichten. Ich habe Björn Preischel erreicht. Viel ist da nicht rausgekommen, aber ich berichte dann morgen ausführlich. Die Listen des Amrumer Hafens habe ich durch. Bis auf ein Boot habe ich alle Eigner ausfindig gemacht und auch schon mit dreien sprechen können. An den Preis für die Thomsen-Jacht war nicht so einfach ranzukommen, aber ich
habe es geschafft. Das Teil ist doch tatsächlich in Kiel gebaut worden und war nagelneu. Der Prokurist der Werft wollte mir den genauen Preis nicht nennen, aber er meinte, dass sie häufig Boote anbieten würden, die zwischen hundertsiebzig- und hundertachtzigtausend Euro liegen würden. Also gehe ich einmal davon aus, dass der Preis irgendwo dazwischenliegt. Wenn man das durch drei teilt, kommen wir auf fast sechzigtausend für Thomsen.«
»Die eine Hälfte muss er von seinem Vater geerbt haben, die andere hat ihm Eike Knudsen geliehen.«
»So viel Geld hatte sein Vater gespart? Ich meine, die Tochter wird ja auch etwas bekommen haben, und den Hof hat er zusätzlich übernommen?«
»Lass uns das morgen besprechen, Johann. Ich kann gegen zehn in Husum sein.«
»Okay!«
Johann zögerte einen Moment zu lange. Lena ahnte, dass er noch etwas mitteilen wollte, und fragte: »Du hast noch was?«
»Morgen! Ich zieh mich dann mal in mein Hotelzimmer zurück. Gute Nacht, Chefin.«
Ehe Lena etwas antworten konnte, hatte er aufgelegt. Normalerweise war Johann nicht so kurz angebunden, wenn es um den Austausch von Ermittlungsergebnissen ging. Lena seufzte leise. Vielleicht gab es morgen endlich eine Gelegenheit, mit ihm unter vier Augen zu sprechen.
»Alles geregelt?«, fragte Rika, als sie in die Küche zurückkehrte.
»Morgen geht’s weiter. Ich nehme gleich die erste Fähre.«
»Schade! Ich dachte, wir könnten noch einen ausgiebigen Spaziergang machen.«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, antwortete Lena und küsste ihre Freundin auf die Wange. »Hatte ich mich eigentlich
schon bei dir bedankt für die ganzen Übernachtungen, die ganze Fahrerei und die Bewirtung?«
»Nicht nötig! Das weißt du doch. Außerdem kommen wir euch bald in Husum besuchen.«
»So sieht’s aus!«, warf Hauke ein, der kurz einmal ums Haus gelaufen war, um nachzusehen, ob die Schuppentür geschlossen war.
»Wir bestehen sogar darauf!«, sagte Lena lachend. »Erck will in den nächsten Tagen mit der Renovierung anfangen. Spätestens Mitte Juni wollen wir Einweihung feiern. Ihr müsst unbedingt kommen.«
Hauke setzte sich zu den Frauen an den Tisch. »Keine Frage! Wir sind dabei. Und sagt Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht beim Umzug.«
Rika fuhr Lena nach einem schnellen Frühstück zur Anlegerstelle und winkte ihr zu, als die Fähre ablegte. Auf der Fahrt hatten sie kurz über Klaas Rieckert gesprochen. Lenas Freundin hoffte weiterhin, dass Klaas’ Verbrechen nicht öffentlich würden, weil die Situation für Maike Holzer schon jetzt kaum zu ertragen war. Rika befürchtete, dass Maike es ansonsten nicht mehr lange auf der Hallig aushalten würde. Lena versprach ihr, sie sofort zu informieren, wenn sie davon hören würde, dass Einzelheiten des Falles bekannt gegeben würden.
Die Autofahrt nach Husum verlief reibungslos. Lena betrat kurz vor zehn Ole Kottens Büro, in dem die beiden Kommissare bereits auf sie warteten. Nach kurzer Begrüßung setzten sie sich zusammen und berichteten von ihren Recherche-Ergebnissen.
Ole Kotten hatte Jan Thomsens Schwester, Hilka Reimers, befragt. Seit die Mutter der beiden Geschwister vor sieben Jahren gestorben war, hatte sich der Kontakt zwischen ihnen auf kurze Telefonanrufe in unregelmäßigen Abständen beschränkt. Hilka Reimers hatte den Thomsen-Hof zur Hälfte geerbt, war
aber damit einverstanden gewesen, dass ihr Bruder ihn weiter bewirtschaftete und dort lebte. Allerdings hatte sie ihn vor fast zwei Jahren gebeten, ihr in absehbarer Zeit ihr Erbe auszubezahlen. Jan Thomsen hatte ablehnend reagiert und gemeint, dass er in dem Fall Hooge verlassen müsse. Die Schwester hatte daraufhin zunächst ihre Pläne verschoben, war aber in einem der letzten Telefongespräche darauf zurückgekommen. Thomsen hatte versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern.
»Was wird der Hof wert sein?«, fragte Johann.
»Schwer zu sagen. Ich habe Frau Reimers danach gefragt und sie meinte, dass es sich schon um zwei- bis dreihunderttausend Euro handeln würde.«
»Das würde aber für Thomsen zu einem Problem werden. Selbst wenn er seinen Anteil an der Jacht verkaufen würde, käme er auf keinen grünen Zweig«, sagte Johann mit Blick auf Lena.
»Ich habe gestern erfahren, dass er die Hälfte seines Anteils an der Jacht seinerzeit aus eigener Tasche bezahlt hat«, ergänzte Lena. »Das sind vermutlich dreißigtausend gewesen. Die andere Hälfte hat er sich von Knudsen geliehen. Aber gleich dazu noch mehr.«
Kotten nickte und fuhr fort.
Hilka Reimers hatte in den letzten drei Wochen keinen Kontakt zu ihrem Bruder gehabt und wusste auch nicht, wo er sich aufhielt. Weitere nahe Verwandte gab es nicht, von guten Freunden, die er eventuell auf dem Festland besuchen würde, hatte sie nie etwas gehört.
»Du hast nicht zufällig mit ihr über das Erbe des Vaters gesprochen?«, fragte Lena.
»Nicht direkt, aber sie erwähnte in einem Nebensatz, dass ihr Vater keinen gut geführten Hof hinterlassen habe.«
Lena erklärte kurz den Hintergrund ihrer Frage. »Woher hatte er dann die dreißigtausend Euro?«
»Lebensversicherung?«, schlug Johann vor.
»Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Lena, während Ole Kotten bereits zum Telefon griff und Hilka Reimers anrief. Nach einem kurzen Gespräch legte er wieder auf.
»Sie weiß nichts von einem Geldbetrag, den ihr Vater vererbt hat.«
»Wie soll das denn gehen?«, fragte Johann verwundert. »Das wird doch alles offiziell geregelt. Niemand kommt einfach so an die Konten des Verstorbenen ran und kann mal eben schnell etwas abheben. Entweder hatte er es unter seinem Kopfkissen versteckt oder …« Johann zuckte mit den Schultern. »Nichts oder. Entweder hat Thomsen nicht die Wahrheit über die Herkunft des Geldes gesagt oder ich übersehe gerade etwas.«
»Wie wäre es mit einem Nummernkonto in der Schweiz?«, warf Lena ein. »Er könnte davon gewusst oder nach dem Tod des Vaters entsprechende Unterlagen gefunden haben.«
Ole Kotten nickte. »Durchaus möglich. Und damit es nicht auffällt, hat er ein paar Jahre gewartet, bevor er das Geld benutzt hat.«
»Oder er hat vorher nur kleinere Beträge abgehoben«, schlug Lena vor. »Auf jeden Fall scheint es sich hier um Schwarzgeld zu handeln.«
Johann räusperte sich. »Euch ist schon klar, dass wir hier von einem Halligbauern sprechen? Seit wann haben die ein Nummernkonto in der Schweiz?«
»Schweiz oder nicht, wichtig ist doch, dass das Geld ganz offensichtlich nicht normal auf einem Konto lag«, warf Lena ein. »Und dass Thomsen senior das Geld mal eben so übrig hatte, ist auch mehr als unwahrscheinlich. Solange nicht geklärt ist, wie und woher das Geld kam, müssen wir da dranbleiben.«
»Sehe ich auch so, zumal wir kaum Anhaltspunkte haben«, stimmte ihr Ole Kotten zu.
»Gut, sehe ich ein«, sagte Johann. »Nur wen wollen wir da befragen? Die Mutter ist tot, die Schwester weiß nichts von
einem hohen Geldbetrag, an die Schweizer Bank – oder wo immer das Geld auch lag – kommen wir definitiv nicht ran.«
»Bekommen wir einen Durchsuchungsbeschluss?«, fragte Ole Kotten.
Lena schüttelte den Kopf. »Im Moment sicher nicht. Es ist schon außergewöhnlich, dass wir zu dritt an dieser Vermisstensache dran sind, aber zum jetzigen Zeitpunkt wird uns kein Richter einen Beschluss ausstellen.«
»Ja, vermutlich hast du recht. Und bevor wir die Pferde scheu machen und Groll auf uns aufmerksam wird, lassen wir es lieber.«
Lena stöhnte leise. »Apropos Groll.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und spielte die letzte Mailbox-Nachricht ab. Grolls wütende Stimme war zu hören.
Lorenzen! Nehmen Sie gefälligst das Gespräch an! Verdammt, was fällt Ihnen ein, weiter auf Hooge zu ermitteln. Sind Sie komplett durchgedreht? Das ist nicht mehr Ihr Fall. Haben Sie immer noch nicht kapiert, was die Stunde geschlagen hat?
Die Kommissare hörten Groll geräuschvoll schnauben.
Sie sind tot! Und zwar so was von tot!
Ole Kotten rollte mit den Augen. »Da hat sich aber jemand überhaupt nicht mehr unter Kontrolle.«
»Er steht gewaltig unter Erfolgsdruck, würde ich mal vermuten«, kommentierte Lena die Mailbox-Nachricht. »Leider macht ihn das noch gefährlicher.«
»Trotzdem«, konterte Ole Kotten. »Damit hat er eine rote Linie weit überschritten. Druck hin, Druck her. Ich kann dir nur raten, die Aufzeichnung gut aufzuheben. Es könnte sein, dass du sie noch mal brauchst.«
Lena nickte nachdenklich. »Ja, das könnte sein.«
»Wollen wir uns nicht lieber mit unserem Fall beschäftigen und diesen unfähigen Menschen ignorieren?«, warf Johann sichtlich genervt ein.
»Schon gut, Johann«, sagte Lena. »Ole hat recht, wenn er zur Vorsicht mahnt. Aber wir sollten wirklich weitermachen.«
Ole Kotten fuhr mit seinem Bericht fort. Er hatte noch einmal alle Petersens in Husum kontrolliert und einige von ihnen angerufen. Als er nichts gefunden hatte, erweiterte er den Radius um Hude und fand drei Männer mit dem gesuchten Namen.
»Petersen ist einer der häufigsten Nachnamen in Schleswig-Holstein. Die Chance, den Mann ohne weitere Daten, wie zum Beispiel Geburtstag und -ort, zu finden, ist relativ gering. Deshalb habe ich mich auch auf ein Umfeld von vierzig Kilometern um Husum konzentriert. Bei den drei Männern könnte das angenommene Alter von vierzig bis fünfzig passen.«
»Hat Frau Husmann eigentlich die beiden Namen an die SoKo weitergegeben, Lena?«, fragte Johann.
»Ich habe nicht direkt danach gefragt, aber nach allem, was sie mir von der Befragung erzählt hat, glaube ich das nicht.«
»Ich denke, ich hätte schon davon gehört, wenn hier in Husum nach Petersen gesucht würde«, warf Ole Kotten ein.
»Okay, dann bin ich wohl dran.« Johann blätterte in seinen Notizen. »Zuerst der Hafencheck. Sieben Boote musste ich identifizieren und mit den Eignern sprechen. Bis auf einen habe ich alle erreicht. Drei kannten Thomsen und seine Freunde von kurzen Besuchen, drei nur vom Grüßen. Ich habe die Aussagen erst mal so aufgenommen und müsste sie beim Hafenmeister noch gegenchecken. Sie klangen alle schlüssig, keiner der Angerufenen schien besonders aufgeregt zu sein oder verfing sich in Widersprüchen.«
»Was ist mit dem letzten Boot?«, fragte Lena.
»Schwierig. Das ist auf eine Firma angemeldet, die ihren Sitz auf Malta hat. Mein Versuch, im Internet etwas über sie zu erfahren, ist kläglich gescheitert.«
»Ich rufe Tamme Ohlsen an und frage ihn«, schlug Lena vor. »Findet sich das Boot auch auf den Listen wieder, die die zwei Wochen vor dem Tod von Klaas Rieckert umfassen?«
»Nein, das Boot war nur an dem Samstag im Hafen. Meint ihr, wir haben eine Chance, die Firma zu durchleuchten?«
Ole Kotten und Lena schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Das könnte Monate dauern und zuvor müssten wir einen Gerichtsbeschluss haben, der wiederum auf Grundlage des momentanen Ermittlungsstands sicher nicht ausgestellt würde«, erklärte Lena.
»Okay, dann mache ich mal weiter. Ich habe endlich Björn Preischel in Hannover erreicht. Zunächst das Positive: Er ist der von uns Gesuchte und kennt die beiden anderen. Allerdings behauptet er, dass er seit mindestens vier Jahren keinen Kontakt mehr zu Klaas Rieckert und auch nicht zu Christian Petersen hat. Die Bekanntschaft zu Thomsen war ohnehin über Petersen entstanden. Er war nach seiner Erinnerung zwei- oder dreimal auf Hallig Hooge, jedes Mal mit dem Schiff von Petersen, sozusagen im Rahmen einer Tour. An das besagte Schleusenfest kann er sich erinnern. Er hat damals versucht, die Streithähne auseinanderzubringen, ist dann allerdings mit in die Auseinandersetzung reingezogen worden. Genau dieses Erlebnis hat ihn auch dazu bewogen, mehr Abstand zu Petersen und dadurch auch zu Thomsen zu halten, was letztlich zu einem Abbruch der Kontakte geführt hat.«
»Weiß er, wo Petersen wohnt?«, fragte Ole Kotten.
»Das habe ich ihn natürlich auch gefragt. Er hat ihn mal in Husum besucht und auch bei ihm in der Wohnung geschlafen, weiß aber nicht, ob die wirklich Petersen gehörte oder jemand anders. An die Adresse konnte er sich auch nicht erinnern. Dann habe ich ihn zum Verhältnis von Rieckert und Petersen befragt. Die beiden waren sehr gut befreundet, meint er, und hätten häufiger zusammen gesegelt.«
»Was ist Petersen von Beruf?«
»Ingenieur. Mehr wusste Preischel auch nicht.«
»Hatte er sonst noch Informationen, die uns weiterbringen?«, fragte Lena, die sich mehr von der Befragung erhofft hatte.
»Ich erspare euch mal die Details, aber da war nichts mehr. Leider.«
Lena sah Johann an, dass er noch weitere Informationen hatte. Anscheinend überlegte er, ob er sie preisgeben sollte.
»So weit meine Aufträge. Allerdings …« Er legte eine kurze Pause ein. »… habe ich mich noch weiter in die Recherche wegen der Schusswunde reingekniet.« Er warf einen abschätzenden Blick zu Lena und fuhr fort: »Ich weiß, das ist nicht mehr unsere Baustelle, und ja, ich war vorsichtig.«
»Geht es um die Schusswunde von Klaas Rieckert?«, fragte Ole Kotten.
Johann nickte. »Genau die! Der Zeitraum ist ja durch die Aussage der Lebensgefährtin relativ gut eingrenzbar geworden. Ich habe trotzdem ein Zeitfenster von sechs Monaten angesetzt und alle Schusswaffenvorfälle in dieser Zeit unter die Lupe genommen. In allen Bundesländern im Norden einschließlich Berlin. In den meisten Fällen ist geklärt worden, wer auf wen geschossen hat und ob es Verwundete gab. Übrig geblieben sind zwei Fälle, die passen könnten.«
Lena warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Das muss eine Menge Arbeit gewesen sein.«
»Ich sitze da schon länger dran«, sagte Johann ausweichend. »Also gut. Der erste Vorfall war ein Schusswaffengebrauch bei einer Routine-Fahrzeugkontrolle. Der Fahrer zog unerwartet eine Waffe, schoss auf einen Kollegen und flüchtete. Der Kollege wurde an der Schulter getroffen, konnte aber noch das Feuer erwidern. Das Auto wurde später ausgebrannt in einer Kiesgrube bei Flensburg gefunden, ein Mietwagen. Von dem
Fahrer und Schützen fehlte jede Spur. Die Ermittlungen sind nach drei Monaten eingestellt worden.«
»Klingt nicht unbedingt nach unserem Mann, oder?«, fragte Ole Kotten.
»Immerhin haben wir es bei Rieckert mit jemandem zu tun, der mindestens drei Morde auf seinem Konto hat«, entgegnete Johann. »Das muss einiges an Vorbereitung mit sich gebracht haben. Die Ausführung war in allen drei Fällen brutal und skrupellos. Warum sollte Rieckert nicht in dem Wagen gesessen haben?«
»Auszuschließen ist es nicht«, mischte sich Lena in die Diskussion ein. »Wenn man allerdings das Auto so entsorgt, müssen wir wohl von Helfern ausgehen. Der Täter wird wohl kaum zu Fuß weitergegangen sein. Dass Rieckert über solche Kontakte, die er auch kurzfristig aktivieren konnte, verfügt hat, ist bisher nicht nachweisbar.«
»Schon klar. Trotzdem, ich möchte nicht ausschließen, dass hier unser Mann am Werk war. Nun gut, komme ich zum zweiten Vorfall.« Er holte tief Luft und sprach weiter. »Joswig von Gotenberg, Innenminister von Schleswig-Holstein von 1966 bis 1979. Auf ihn ist mutmaßlich 2009 ein Anschlag verübt worden. Also dreißig Jahre nach seiner Zeit als Innenminister.«
»Davon habe ich überhaupt nichts mitbekommen«, sagte Ole Kotten mit überraschter Miene.
»Von Gotenberg war auch nicht unmittelbar betroffen. Ich fang mal von vorne an. Der gute Mann schien – er ist übrigens 2012 verstorben – etwas übervorsichtig zu sein, um nicht zu sagen leicht paranoid. Wie jeder Politiker in hoher Position war er tendenziell von Anschlägen aus der terroristischen Szene, sprich RAF, bedroht. Er soll in seiner aktiven Zeit auch tatsächlich auf einer der Todeslisten gestanden haben, ist aber nie Opfer eines Anschlags geworden. Nachdem er sich aus der Politik verabschiedet hatte, wurde sein Haus auf Staatskosten
zu einem Hochsicherheitsgebäude umgebaut. Ich erspare euch auch hier mal die Einzelheiten. In seinem Haus wird er sich sicher gefühlt haben, aber sobald er in der Öffentlichkeit auftauchte, hatte er einen Leibwächter an seiner Seite.«
»Selbst noch 2009?«, fragte Ole Kotten.
»Ja, so scheint es gewesen zu sein. Dieser besagte Leibwächter hatte nun einen Schusswechsel mit einem potenziellen Attentäter. So wurde es zumindest von ihm dargestellt. Die Kollegen, die den Vorfall untersucht haben, waren sich da wohl nicht so sicher. Obwohl Jens Vogt, das ist der Name des Security-Mannes, behauptet hat, es wäre auf ihn geschossen worden, wurden keine Kugeln gefunden. Aber eins nach dem anderen. Joswig von Gotenberg war zu der Eröffnung eines neuen Museums eingeladen worden. Während dieser Veranstaltung und auf dem Rückweg ist nichts passiert, doch als Vogt den Ex-Innenminister sicher abgeliefert hatte und sich auf den Rückweg machen wollte, ist ihm ein Mann aufgefallen. Er hat ihn angesprochen, der Mann zog eine Waffe und schoss auf ihn. Vogt hat das Feuer sofort erwidert und ist der Meinung, dass er den Mann getroffen hat. Allerdings haben die Kollegen keine Spuren gefunden, die Vogts Version bestätigen. Kein Blut, keine Kugel, keine weiteren Zeugen. Allerdings hatte es während des angeblichen Vorfalls stark geregnet. Von daher war es wohl schwierig, Fußabdrücke, aber auch Blut oder andere DNA-Spuren zu finden.«
»Aber geschossen wurde schon?«
»Ja, das hat nicht nur Joswig von Gotenberg bezeugt, sondern auch sein Nachbar. Beide haben mehrere Schüsse gehört. Unsere Kollegen haben dann vermutet, dass der Leibwächter darauf aus war, die Dringlichkeit seiner Anwesenheit zu unterstreichen.«
»Schön formuliert«, sagte Ole Kotten schmunzelnd.
»Danke!« Johann grinste breit. »Nachweisen konnten sie Vogt das natürlich nicht, trotzdem wurde ein Verfahren eingeleitet mit dem Ziel, ihm die Waffenerlaubnis abzuerkennen. Es ist allerdings weder die Kugel, die der Angreifer abgefeuert hat, noch Vogts Kugel gefunden worden. Merkwürdig ist das schon. Aber gut, zurück zum Verfahren. Nur der Intervention des Ex-Innenministers hatte er es dann zu verdanken, dass es – zumindest vorerst – nicht dazu gekommen ist.«
»Und wie lautet das Ende der Geschichte?«, fragte Lena, die sich vorstellen konnte, was passiert war.
»Joswig von Gotenberg ist, wie schon erwähnt, 2012 verstorben, Vogt stand bis zu dem Zeitpunkt in seinen Diensten, anschließend ist das Verfahren gegen ihn wieder aufgenommen worden und er durfte in der Folge keine Waffe mehr tragen. Ich vermute mal, dass sich das beruflich für ihn nicht unbedingt positiv ausgewirkt hat.«
Lena hatte Johanns Ausführungen mit Spannung zugehört. Hatte er hier tatsächlich einen neuen Ansatzpunkt im Fall Klaas Rieckert aufgetan? Würde der Leibwächter Rieckert wiedererkennen? Und wenn, was würde das für Erkenntnisse nach sich ziehen?
»Kann man den Typ erreichen?«, fragte Ole Kotten, der ebenfalls die Brisanz der neuen Information erkannt zu haben schien. Er hatte sich nach vorne gebeugt und sah Johann gespannt an.
»Zumindest habe ich die Adresse, bei der er gemeldet ist.«
»Jetzt wird’s schwierig«, warf Lena sofort ein. »Wenn die SoKo auch schon auf seiner Spur ist, müssen wir passen. Das wäre zu gefährlich.«
Ole Kotten stand auf. »Ich führe mal kurz ein Gespräch mit Frank. Vielleicht bekomme ich ja was heraus.« Er verließ das Büro.
»Würdest du wirklich …«, begann Johann und brach mitten im Satz ab.
»Das war gute Arbeit, Johann. Entschuldige, dass ich das nicht gleich erwähnt habe. Wirklich gute Arbeit.«
»Danke!« Er sah zur Tür und wandte sich dann wieder an Lena. »Selbst wenn die SoKo schon so weit ist, wir können das doch nicht einfach ignorieren. Wenn das wirklich Rieckert war, wirft das ein komplett anderes Licht auf den Fall.«
»Dir ist schon klar, was passiert, wenn wir dabei erwischt werden, im Fall Rieckert herumzustochern?«
Johann schwieg eine Weile, bevor er sie direkt ansah. »Vor einem Jahr hättest du anders reagiert. Was ist mit dir los? Bisher haben wir uns einen Dreck darum geschert, was die da oben meinen.«
»Bisher hatten wir es auch nicht mit dem Generalstaatsanwalt und Kriminalrat Groll zu tun. Der Letztere wartet nur auf eine Gelegenheit, mich in hohem Bogen zu feuern.«
»Und warum? Du bist da ganz schön … Ich meine, ein paar Infos wären vielleicht nicht schlecht.«
Dieses Mal sah Lena zur Tür. Ihr war klar, dass dies die letzte Gelegenheit war, Johann von dem Zwischenfall zu erzählen. »Groll …«, begann sie. »Also damals in der SoKo bin ich nicht freiwillig ausgeschieden. Es ist da …« Wieder brach sie ab. Johann sah sie auffordernd an und wartete. »Um es kurz zu machen, Groll hätte mich um ein Haar vergewaltigt, wenn ich ihn nicht mit der Waffe gestoppt hätte.«
Johann starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Und dann?«
In diesem Augenblick kehrte Ole Kotten zurück und blieb vor dem Tisch stehen. »Entschuldigung, hat eine Weile gedauert. Frank musste sich erst eine ruhige Ecke suchen.« Sein Blick wanderte zwischen Lena und Johann hin und her. »Ist etwas passiert?«
»Alles gut«, wich Lena ihm aus. »Was sagt Frank?«
Ole Kotten zögerte kurz, bevor er antwortete: »Im Morgen-Meeting, wie Frank es nannte, gab es keine neuen Erkenntnisse. Zwei Kollegen kümmern sich um die Sache, und Frank meinte, dass sie sicher eine Weile brauchen werden.« Er grinste. »Vermutlich sind sie nicht die Schnellsten unter der Sonne.«
»Super! Dann können wir ja Vogt auf die Pelle rücken«, schlug Johann vor. Er schien sich halbwegs von dem Schock erholt zu haben.
»Die Gefahr, erwischt zu werden, ist vielleicht etwas kleiner geworden, aber irgendwann werden die Kollegen auf die gleiche Spur stoßen.«
»Glaube ich nicht«, entgegnete ihr Johann. »In den Protokollen, die ich eingesehen habe, ist Vogt als Spinner abgetan worden. Ich bin mir nicht mal sicher, dass sie ihn in die engere Wahl nehmen.«
»Wenn überhaupt jemand mit Vogt spricht, dann bin ich das«, sagte Lena und der Klang ihrer Stimme ließ keinen Widerspruch zu. »Und ihr beide haltet euch bedeckt.«