VIERUNDZWANZIG
Nachdem Lena von ihren beiden Befragungen auf Hooge berichtet hatte, besprachen sie ihr weiteres Vorgehen. Ole Kotten wollte sich weiter um die Suche nach Christian Petersen kümmern, Johann würde nach Schleswig fahren, um mit Thomsens Freund Eike Knudsen zu sprechen, während Lena sich in Bad Segeberg um Jens Vogt kümmern würde.
Auf dem Weg zum Parkplatz hielt Lena Johann zurück. »Die Geschichte mit Groll bleibt unter uns, okay?«
Johann antwortete nicht gleich. »Warum hast du damals nichts gegen ihn unternommen?«
»Ich hatte nicht die Kraft und auch keine Unterstützung. Und ich hatte Angst, bei einer Anzeige den Kürzeren zu ziehen. Mir war schon damals klar, dass Groll gefährlich ist. Er hat sich Zeugen unter den Kollegen besorgt, die ausgesagt hätten, dass ich der aktive Part an dem Abend gewesen wäre. Meine Chancen standen schlecht …« Lena schluckte. »… aber ich hätte es trotzdem versuchen müssen.«
Johann schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das wäre beruflicher Selbstmord gewesen. Der Typ scheint wirklich gefährlich zu sein. Wie konnte er sich so lange halten?«
»Er kennt die richtigen Leute, ist bestens vernetzt. Allerdings hat ein ähnlicher Vorfall wie meiner seine Karriere
ausgebremst. Vor vier Jahren hat ihn eine Kollegin wegen Belästigung angezeigt.«
»Und?«
»Es gab eine Untersuchung, er hat einen Eintrag in die Personalakte bekommen und seine Beförderung zum Kriminaloberrat ist ausgesetzt worden. Wie ich gehört habe, war der Fall wohl bei Weitem nicht so schwerwiegend wie meiner. Er hat ihr Avancen gemacht, und als sie deutlich abgelehnt hat, wurde sie massiv von ihm benachteiligt. Sie hat sich versetzen lassen und gleichzeitig die Angelegenheit bei der Polizeiführung angezeigt.«
»Also kann Groll gut einen Erfolg mit der SoKo gebrauchen.«
»Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber das macht ihn nicht gerade ungefährlicher. Wenn du später Eike Knudsen befragst, erwähne Klaas Rieckert am besten gar nicht.«
»Hey, ich krieg das schon hin«, antwortete Johann leicht säuerlich. »Es gab Zeiten, da hast du mir mehr zugetraut als im Moment.«
»Nein, Johann. Ganz sicher nicht. Ich arbeite ausgesprochen gerne mit dir zusammen, weil ich weiß, dass ich mich hundertprozentig auf dich verlassen kann. Und dass du ein exzellenter Ermittler bist, habe ich dir nicht nur einmal gesagt.«
Johann legte den Kopf in den Nacken und sog tief die frische Luft ein. »Dieser Fall bringt mich an meine Grenzen. Vielleicht liegen meine Nerven zu blank.« Er lächelte verzagt. »Entschuldige, wenn ich übers Ziel hinausgeschossen sein sollte.«
»Alles gut, Johann.« Sie setzten den Weg fort und blieben noch einmal auf dem Parkplatz vor ihren Autos stehen.
»Bis später, Lena. Ich melde mich bei dir.«
Sie nickte ihm zu und öffnete die Autotür.
»Moin, schöne Frau!«, grüßte Tamme Ohlsen.
»Versuchst du schon wieder, mit mir zu flirten?«, fragte Lena lachend.
»Ich weiß ja, dass ich keine Chance habe. Was kann ich heute für dich tun?«
»Auf deiner Liste des besagten Wochenendes stand ein Schiff, dessen Eigner wir nicht so ohne Weiteres herausbekommen konnten.«
»Welchen Namen hat die Jacht?«
»
Sunshine-Boy
. Lag das Boot schon häufiger bei dir im Hafen?«
»Zwei- oder dreimal vielleicht. Aber das über einen längeren Zeitraum von ein paar Jahren. Beschwören kann ich es aber nicht, Lena.«
»Kennst du den Eigner?«
»Nicht wirklich. Als er bei mir bezahlt hat, habe ich gerade telefoniert. Er hat mir den Schiffsnamen aufgeschrieben und das Geld hingelegt. Ganz ehrlich, ich könnte dir den Typ nicht mal richtig beschreiben.«
»Versuch’s mal.«
»Wie gesagt, ein Mann, groß, die üblichen Seglerklamotten, Allerweltsgesicht, würde ich sagen. Vermute ich richtig, dass du damit nichts anfangen kannst?«
»Würdest du ihn identifizieren können?«
»Eher nicht. Nein, das würde ich nicht wagen, schon gar nicht, wenn da eine Menge dranhängt. Übrigens: Von Weitem habe ich noch einen Mann auf der Jacht gesehen. Aber frag mich jetzt bitte nicht, wie der ausgesehen hat. Das war zu weit entfernt.«
»Schade, aber da kann man nichts machen.«
»Sind das denn jetzt die gesuchten Verbrecher?«
Lena musste unwillkürlich schmunzeln. »Wer weiß. Ich würde mich an deiner Stelle vorsehen. Amrum scheint inzwischen wirklich ein gefährliches Pflaster zu sein.«
»Lena Lorenzen! Deinen merkwürdigen Humor mochte ich schon zur Schulzeit nicht.«
Lena lachte. »Echt jetzt? Das hast du mir nie gesagt.« Sie wurde ernst. »Danke für die Info, Tamme. Wenn dir noch was zu dem Boot einfällt, ruf mich doch bitte an.«
»Wird gemacht, Frau Hauptkommissarin.«
Lena war inzwischen kurz vor Schleswig und fuhr auf die A 7 auf. Sie überlegte, ob sich weitere Recherchen zur maltesischen Segeljacht lohnten, und entschied sich, Leon mit ins Boot zu holen, der andere Möglichkeiten hatte als die Polizei. Leon war ein begnadeter Hacker und stand in Lenas Schuld, seit sie ihn bei einem Fall vor mehreren Jahren Gefängnis bewahrt hatte. Hin und wieder bat sie ihn um einen Gefallen.
»Ja?«, hörte sie seine Stimme.
»Moin, Leon. Lena hier.«
»Ob ich deine verdammte Nummer wohl auswendig kenne?«
»Vermutlich schon, ich finde es trotzdem nett, sich zu begrüßen.«
»Was willst du?«, hörte sie seine genervte Stimme.
»Ein klitzekleiner Gefallen. Nichts Aufwendiges, vermute ich zumindest.«
»Klar, deine Aufträge sind ja nie aufwendig.«
Lena nannte ihm den Namen der Firma. »Die ist auf Malta gemeldet und ich komme da sonst nur über zeitraubende Anträge und ewiges Warten ran. Kannst du mir helfen?«
»Warte kurz, ich schau eben nach, wer hinter der Firma steckt.«
»Leon, bitte! Ich brauche wirklich deine Hilfe.« Als er nicht antwortete, sagte sie erneut: »Bitte!«
»Keine Ahnung, wie ich das machen soll. Das kann dauern.«
»Also morgen?«
»Deine Scherze werden immer schlechter. Sonst noch was?«
In diesem Augenblick fielen Lena die Daten von Klaas Rieckerts Laptop ein. »Ich habe da noch Daten von einem Rechner. Kannst du die untersuchen, ob etwas gelöscht wurde?«
»Hast du die Kopien so gemacht, wie ich’s dir gesagt habe?«
Leon hatte ihr bereits vor zwei Jahren ein Programm geschickt, mit dem sie eine Festplatte Byte für Byte kopieren konnte – und nicht nur die sichtbaren Daten. »Natürlich.«
»Dann sieh zu, wie du die Platte zu mir bekommst. Online ist mir das zu stressig.«
»Okay. Mache ich.« Sie horchte, aber Leon hatte bereits aufgelegt.
Als Lena die A 7 verließ und Richtung Osten auf der B 205 nach Bad Segeberg fuhr, musste sie an Winnetou und Old Shatterhand denken. Wie alt war sie gewesen, als sie mit ihren Eltern zu den Karl-May-Spielen gefahren war? Neun Jahre oder schon zehn? Die große Freilichtbühne, die vielen Menschen, die Pferde, die über die abgesperrten Gänge durch die Zuschauerränge galoppierten. Der Schatz im Silbersee. Winnetou und Old Shatterhand.
Waren sie damals noch eine Familie gewesen? Sie versuchte, sich zu erinnern, konnte aber keine Bilder in ihrem Kopf abrufen. Sie waren mit der ersten Fähre aufs Festland gefahren und hatten in Bad Segeberg ein Hotelzimmer bezogen, bevor sie zu Fuß zur Freilichtbühne gegangen waren.
Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie war so aufgeregt gewesen, dass sie die Hand ihrer Mutter gehalten hatte. Ihr Vater hatte gelächelt und sie beruhigt. Ein strahlender Sommertag. Die Sonne schien, es war warm. Die Karten hatte sie zu Weihnachten von ihren Eltern geschenkt bekommen. Erst nach der Vorführung in Bad Segeberg hatte sie den dritten Band der Winnetou-Trilogie zu Ende gelesen, in dem der
Indianerhäuptling starb. Das Buch hatte schon ein Jahr in ihrem Regal gestanden, weil sie nicht begreifen konnte, dass das Gute zum Schluss nicht die Oberhand behielt.
Das Navi leitete sie durch Bad Segeberg und führte sie in eine Straße mit viergeschossigen Mietshäusern, die vermutlich in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts gebaut worden waren. Sie suchte sich einen Parkplatz und ging auf das Haus mit der Nummer fünf zu. Bereits von Husum aus hatte sie Jens Vogt telefonisch erreicht. Widerwillig hatte er sich zu einem Treffen bereit erklärt.
»Lena Lorenzen«, sagte sie in die Gegensprechanlage.
Der Türöffner summte. Sie trat ein und lief drei Stockwerke die Treppe hinauf. In der Tür stand ein bulliger Mann um die sechzig, Glatze, nur wenig größer als sie. Lena reichte ihm die Hand, die er jedoch nicht beachtete.
»Ausweis!«
Lena reichte ihm das Dokument und wartete, bis er es ausgiebig studiert hatte. »LKA? Lustig.«
»Können wir uns in der Wohnung unterhalten?«, fragte Lena mit einem freundlichen Lächeln.
»Ungern. Um was geht’s?«
»Ich benötige Ihre Hilfe.«
Er lachte höhnisch auf. »Sagen Sie das noch mal!«
»Es könnte sein, dass Sie mir entscheidende Hinweise in einem Mordfall geben können.«
»Warum sollte ich das tun? Ich mag Ihren Verein nicht. Ganz und gar nicht.«
»Das kann ich durchaus nachvollziehen, Herr Vogt. Nach allem, was ich in den Akten gelesen habe, sind Sie zu Unrecht beschuldigt worden.«
Er schüttelte missmutig den Kopf. »Bisschen spät, oder?«
»Das ist mir durchaus bewusst. Aber vielleicht ergibt sich durch meine Recherchen eine Möglichkeit, Sie zu rehabilitieren.«
Vogt zog seine Augenbrauen zusammen und musterte Lena. »Ein Trick, Gnädigste?«
»Ganz sicher nicht. Geben Sie mir fünf Minuten.«
»Ganz schön tough, junge Frau.« Er trat zur Seite und ließ Lena in die Wohnung. Er führte sie in ein kleines Wohnzimmer, dem man ansah, wie lange es nicht mehr gestrichen worden war. Das Sofa war durchgesessen und mit einer dunklen Decke bezogen.
»Die Zeit läuft!«, sagte Vogt mit Blick auf seine Armbanduhr.
Lena zog ihr Smartphone aus der Tasche und rief das Foto von Klaas Rieckert auf. »Erkennen Sie den Mann wieder?«
Jens Vogt warf einen Blick auf das Foto und erstarrte. »Wo haben Sie das her?«
»Ist das der Mann, der damals vor dem Haus von Joswig von Gotenberg auf Sie geschossen hat?«
»Wer ist das?« Sein Blick haftete immer noch am Foto.
»Der Mann ist vor Kurzem selbst Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?«
Er sah auf. »Wie meinen Sie das jetzt?«
»Eigentlich ist das nicht mehr mein Fall und es könnte sein, dass in Kürze die Kollegen, die den Fall übernommen haben, bei Ihnen auftauchen.«
»Habe ich das gerade richtig verstanden? Sie sind hier quasi privat?«
»Privat ist nicht das richtige Wort. Ich ermittle schon im Umfeld des Opfers, da ein Bekannter von diesem Mann hier vor ein paar Tagen spurlos verschwunden ist.«
Jens Vogt stand auf und drehte eine Runde im kleinen Zimmer. »So ganz verstehe ich nicht, was Sie mir sagen wollen. Aber lassen wir das mal so stehen.« Er zeigte auf Lenas Smartphone. »Das ist definitiv der Mann, der auf mich
geschossen hat. Definitiv.« Er stutzte. »Ich habe ihn also doch getroffen?«
Lena nickte. »Durchschuss. An der Schulter. Über diese Spur bin ich zu Ihnen gelangt.«
Er setzte sich wieder in seinen Sessel, lächelte. »Wow! Gute Arbeit! Kann ich nicht anders sagen.«
»Ich brauche Ihre Hilfe«, wiederholte Lena.
Jens Vogt nickte nachdenklich. »Ja, das ist mir inzwischen klar.«
Eine Stunde später verließ Lena Jens Vogts Wohnung. Mehrfach war sie mit Vogt die damalige Situation vor dem Haus des Ex-Innenministers durchgegangen. Vogt war sich nach wie vor sicher, dass Klaas Rieckert einen Anschlag auf Joswig von Gotenberg geplant und sich aus diesem Grund in der Nähe des Hauses aufgehalten hatte. Rieckerts Reaktion, nachdem er ihn angesprochen hatte, bezeichnete er als ausgesprochen nervös, und auch deshalb war Vogt die ganzen Jahre nicht davon ausgegangen, dass er einem Profikiller gegenübergestanden hatte. Weder war Rieckert auf Vogt als Leibwächter vorbereitet noch wäre es nötig gewesen, die Waffe zu ziehen. Nach Vogts Ansicht hätten ein einfaches Schulterzucken und eine halbwegs plausible Ausrede gereicht, um sich aus der Affäre zu ziehen. Er war daher der festen Ansicht, dass Rieckert niemals die Sicherheitsvorkehrungen des Hauses überwunden hätte.
Über die Frage, warum keine der Kugeln gefunden wurde, hatte sich Jens Vogt seinerzeit viele Gedanken gemacht. Die Kugel, die für ihn bestimmt war, ging weit über seinen Kopf schräg nach oben. Er schätzte die mögliche Weite auf bis zu tausendfünfhundert Meter, und da er nicht genau sagen konnte, welche Richtung die Kugel genommen hatte, war die Suche in den umliegenden Gärten nach zwei Stunden abgebrochen worden. Seine eigene Kugel, die den Angreifer in die Schulter
getroffen hatte, war von den ermittelnden Beamten nicht gefunden worden und man ging davon aus, dass, falls an Vogts Geschichte überhaupt etwas dran war, die Kugel im Körper des Angreifers verblieben war. Als Lena ihm vom Durchschuss erzählte, berichtete er von dem schlechten Wetter an diesem Tag und dem matschigen Weg zum Haus. Er vermutete, dass die Kugel in einer der großen Pfützen gelegen hatte, die nicht ausreichend abgesucht wurden.
Lena hatte sich bereits auf der Fahrt nach Bad Segeberg Gedanken darüber gemacht, inwieweit sie Jens Vogt in die Umstände der Ermittlungen einweihen konnte und wollte. Letztendlich hatte sie spontan entschieden und alles auf eine Karte gesetzt. Wie sich im Gespräch herausstellte, hatte der Generalstaatsanwalt seine Finger im Spiel gehabt, als Vogt nachträglich die Waffenerlaubnis entzogen worden war. Vogt war erfahren genug, seine Chance auf Rehabilitierung unter diesem Juristen realistisch einzuschätzen, und entschied sich noch während des Gesprächs für Lenas Seite. Falls sich Rieckerts Anschlagsabsichten nachweisen lassen würden, würde auch der Generalstaatsanwalt sich einer Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Vogt nicht verweigern können.
Der Abschied von Vogt war erheblich herzlicher ausgefallen als die Begrüßung. Lena versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten, er sagte ihr zu, sie über eine eventuelle Befragung durch die SoKo-Leute zu informieren.