FÜNFUNDZWANZIG
Auf dem Rückweg nach Husum fuhr Lena über Kiel, tauschte ihre Kleidung gegen frisch gewaschene und brachte Leon die Festplatte vorbei. Während der weiteren Stunde Autofahrt versuchte sie, die neuen Informationen einzuordnen. Joswig von Gotenberg passte weder vom Alter noch von seinem beruflichen Werdegang her in die Reihe der Opfer. War das ein Hinweis auf Rieckert als Auftragsmörder? Oder war das geplante vierte Opfer das fehlende Puzzlestück zu den Hintergründen der Morde? Was hatte von Gotenberg mit den drei anderen Männern zu tun? Als er Innenminister von Schleswig-Holstein wurde, waren Maximilian von Brockdorf und Thomas Solinger noch Kinder gewesen. Allenfalls Walter Reinstedt konnte eine persönliche oder geschäftliche Verbindung zu von Gotenberg gehabt haben. Trotzdem war sich Lena sicher, dass das geplante Attentat in Verbindung mit den anderen Morden stehen musste. Jens Vogts Einschätzung von Rieckert hatte sie darin bestätigt, dass sie es nicht mit einem eiskalten Auftragsmörder zu tun hatten.
Ihr Handy machte sich bemerkbar. Sie schaute auf das Display und nahm das Gespräch an.
»Guten Tag, Herr Kriminaldirektor.«
»Guten Tag!«, hörte sie Warnkes Stimme. »Wie laufen die Ermittlungen?«
»Sie wissen schon, dass wir erst seit ein paar Stunden am Ball sind?«
Sie hörte Warnke schwer atmen. »Selbstverständlich. Gibt es trotzdem Neuigkeiten?«
»Wir kommen gut voran«, antwortete Lena und fügte dann hinzu: »In jeder Hinsicht.«
»Sehr gut. Wenn Sie Substanzielles haben, bitte zuerst zu mir. Sie verstehen mich?«
»Absolut, Herr Kriminaldirektor.«
»Hat Groll sich bei Ihnen gemeldet?«
»Ich habe das Gespräch nicht angenommen. Seine Nachricht auf dem AB war mehr als deutlich. Es könnte sein, dass ich Ihre Hilfe benötige, wenn der Kollege es übertreibt.«
»Ich werde mein Möglichstes tun, Frau Hauptkommissarin.«
»Sie hören von mir, sobald wir Ergebnisse vorweisen können.«
»Danke. Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann.«
Warnke beendete das Gespräch mit einem kurzen Abschiedsgruß.
Lenas Eindruck hatte sich bestätigt. Warnke hatte ein persönliches Interesse daran, die SoKo vorzuführen. War er mit dem Generalstaatsanwalt aneinandergeraten oder hatte es mit Kriminalrat Groll zu tun? Dessen Bemerkung lag ihr noch in den Ohren. Er hatte angedeutet, dass Warnke nicht immer ihr Chef bleiben würde. Hatte Groll sich auf Warnkes Stelle beworben? War es Warnkes Ziel, Grolls Erfolg zu verhindern? Eines war Lena klar: Würde Groll Warnkes Posten übernehmen, wäre es das Aus für sie beim LKA.
Sie wählte Johanns Nummer.
»Bist du schon auf dem Rückweg?«, fragte Lena.
»In ein paar Minuten. Ich trinke noch eine Tasse Kaffee. Wie war’s bei dir?«
»Du hattest den richtigen Riecher! Gratulation! Klaas Rieckert war tatsächlich der Mann, den Jens Vogt angeschossen hat.«
»Verrückt! Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet. Und nun?«
»Lass uns das in Husum besprechen.«
»Ich mach mich gleich auf den Weg. Bis später.«
Lena berichtete in allen Einzelheiten von dem Gespräch mit Jens Vogt. Ole Kotten und Johann stellten zwischendurch Fragen, die Lena, soweit sie selbst über die Informationen verfügte, beantwortete.
»Jetzt sind wir der SoKo einen großen Schritt voraus«, meinte Ole. »Nur, ich sehe noch kein Licht am Horizont. Im Gegenteil, der Anschlag auf von Gotenberg macht die ganze Angelegenheit doch nur noch verworrener.«
»Es muss einen verfluchten Zusammenhang zwischen den Taten geben«, sagte Johann.
»Sehe ich auch so«, pflichtete ihm Lena bei. »Wir sollten uns später auf die Suche machen. Wollt ihr erst mal berichten?«
Kotten nickte. »Ich habe meine Petersens durch. Einer ist übrig und der ist heute nicht zu erreichen. Morgen, sagte mir die Putzfrau, die ich glücklicherweise ans Telefon bekommen habe. Er ist wohl geschäftlich viel unterwegs. Zumindest konnte mir seine Putzfrau bestätigen, dass er eine Segeljacht besitzt und ihr von den Nordfriesischen Inseln erzählt hat. Das Alter stimmt und die Beschreibung, die die Putzfrau mir gegeben hat, ebenso.«
»Wo wohnt er?«
»Stedesand. Das liegt an der B 5. Eine halbe Stunde Fahrt. Das war gerade noch in meinem Radius.«
»Also morgen.« Lena wandte sich an Johann. »Und bei dir?«
»Eike Knudsen. Geschäftsführer und Gesellschafter eines mittelständischen Unternehmens, das Werkbänke für Apotheken und Labore herstellt und noch weitere Kleinstartikel liefert. Er hat mich in seinem Büro empfangen, in das dieser Raum …« Er schaute sich um. »… dreimal reinpassen würde. Die wichtigste Info vorweg: Er weiß nicht, wo Jan Thomsen sich aufhalten könnte, und hatte auch schon seit letzter Woche keinen Kontakt mehr zu ihm. Sein Freund Enno Brunken hat ihn erst gestern erreicht und von Thomsens spurlosem Verschwinden berichtet.«
»Klang das glaubwürdig?«, wollte Lena wissen.
»Ich denke schon. Er war zwar alles in allem etwas kurz angebunden, aber hat sich nicht verweigert oder gar widersprochen. Ich habe ihn zu Thomsen befragt und auch da hat er bereitwillig Auskunft gegeben. Sie sind zusammen auf Hooge aufgewachsen und seit jeher gute Freunde. Er selbst behauptet, keine Fehde mit Rieckert gehabt zu haben. Was uns Brunken vom Schleusenfest-Streit berichtet hat, wurde von ihm im Großen und Ganzen bestätigt. Auch er vermutet, dass die Auseinandersetzung etwas mit den Vätern der beiden zu tun hatte, konnte mir aber nicht mehr darüber sagen. Thomsen hat sich wohl sehr bedeckt gehalten, was die Sache anging.«
»Was ist mit der Segeljacht?«
»Sie gehört ihnen zu dritt. Vor sechs Jahren hatte Knudsen wohl nicht so viel Geld flüssig wie heute und hat sich deshalb auf den Gemeinschaftskauf eingelassen. Zumindest habe ich seine Worte so interpretiert. Er sagte, dass er Thomsen vor ein paar Wochen vorgeschlagen habe, ihm seinen Teil der Jacht abzukaufen. Eine Hälfte davon stand ihm ja ohnehin zu, weil er Thomsen einen Kredit gegeben hatte. Na ja, Thomsen war wohl nicht so begeistert von dem Vorschlag und hat auch kurz danach die erste Rate für die fehlenden dreißigtausend an Knudsen gezahlt.«
»Wann?«, fragte Ole Kotten.
»Das ist ungefähr vier Wochen her, müsste also kurz nach diesem Amrum-Wochenende gewesen sein. Den Rest des Geldes sollte Knudsen in diesen Tagen bekommen.«
»Wie hat er bezahlt? Per Überweisung?«, fragte Lena.
»Gute Frage. Als ich sie gestellt habe, hat Knudsen rumgedruckst und ist schließlich darüber hinweggegangen. Ich gehe davon aus, dass er das Geld in bar bekommen hat.«
»Das war alles?«
»Die eine oder andere Frage habe ich natürlich noch gestellt, aber nichts Relevantes erfahren.«
Lena stand auf und stellte sich an die Flipchart, auf der sie das Blatt der letzten Besprechung umdrehte. »Wie machen wir weiter?«
»Wir müssen eine Verbindung zwischen den drei Morden und dem ehemaligen Innenminister herstellen«, schlug Ole Kotten vor, während Lena bereits die Namen der drei ersten Opfer untereinanderschrieb und mit Joswig von Gotenberg, dessen Namen sie auf der anderen Seite notiert hatte, verband.
»Wir sollten die Sekretärin des Bauunternehmers Reinstedt noch einmal befragen«, schlug sie vor und schrieb den Namen Ursula Rotenburg auf. Als sich Kotten anschickte, etwas anzumerken, kam sie ihm zuvor. »Ich weiß, die SoKo. Aber ich versuche es mit einer Nachfrage. Schließlich hat Groll über unsere Protokolle gemeckert, die ich jetzt ja wohl ergänzen muss.«
Ole Kotten wiegte den Kopf hin und her. »Damit kommst du im Ernstfall nicht durch, Lena.«
Sie ging nicht auf seinen Einwand ein und wandte sich an Johann. »Kannst du versuchen rauszufinden, ob Reinstedts Firma Projekte durchgeführt hat, die etwas mit dem Land Schleswig-Holstein zu tun haben?«
Johann nickte. »Werden sie garantiert gemacht haben, ich kümmere mich drum. Auf welchen Zeitraum soll ich mich konzentrieren?«
»Schwer zu sagen. Zehn Jahre vor dem Tod der drei?«
Wieder nickte Johann und machte sich eine Notiz.
»Die beiden anderen Opfer können wir wohl ausschließen?«, fragte Ole Kotten. »Von Brockdorf könnte natürlich über seine Organisation etwas mit dem Land zu tun gehabt haben, aber zwischen der Amtszeit von Gotenbergs und der beruflichen Laufbahn von Brockdorfs liegen zu viele Jahre.«
Lena starrte ihn an. Ihr war gerade ein Gedanke gekommen. »Aber die Firma seines Vaters hatte ganz bestimmt geschäftliche Kontakte zum Land.«
»Du meinst …« Ole Kotten sprang auf und zeigte auf den Namen von Thomas Solinger, dem Professor aus Berlin. »Hatte seine Familie nicht auch ein Unternehmen?«
»Nein. Sein Vater war Vorstandsvorsitzender einer großen Bank. Die gehörte ihm aber nicht«, sagte Johann.
»Egal, vielleicht haben sie Geschäfte mit dem Land Schleswig-Holstein gemacht.« Er rieb sich das Kinn. »Aber ein Innenminister hat mit den Finanzen wohl eher wenig zu tun, oder?«
»Eher nicht so viel«, pflichtete ihm Lena bei. »Das läuft alles über den Haushalt, der wiederum vom Finanzministerium aufgestellt und vom ganzen Kabinett verabschiedet wird.«
»Trotzdem!«, beharrte Ole Kotten. »Fangen wir doch erst mal mit dem Bauunternehmen und dem Innenministerium an. Vielleicht gibt es da Verbindungen. Und dann prüfen wir die Firma der Familie von Brockdorf.«
Lena griff nach dem Handy. »Johann kümmert sich um das Hamburger Bauunternehmen, du, Ole, um die Unternehmensberatung in Flensburg. Und ich versuche, die Sekretärin zu erreichen.«