SECHSUNDZWANZIG
»Ich sitze hier über meinem Protokoll von unserem Gespräch und habe noch eine Nachfrage, Frau Rotenburg.«
Lena hatte die ehemalige Sekretärin von Walter Reinstedt beim ersten Anruf erreicht.
»Fragen Sie, Frau Hauptkommissarin.«
Ursula Rotenburg schien ein gutes Gedächtnis zu haben, da sie sich sofort an Lenas Dienstgrad erinnerte.
»Wir haben eine Spur, die zum ehemaligen Innenminister von Schleswig-Holstein führt, Joswig von Gotenberg. Kannten Sie den Herrn?«
»Nicht persönlich, wenn Sie das meinen. Aber ansonsten ist er mir schon bekannt.«
»Gab es einen freundschaftlichen oder geschäftlichen Kontakt zwischen Ihrem Chef und Herrn von Gotenberg?«
»Weder noch. Zumindest nicht zu meiner Zeit. Wie Sie wissen, habe ich auch die privaten Termine von Herrn Reinstedt verwaltet. Nein, es gab keinen Kontakt. Allenfalls auf irgendeinem Empfang oder Ähnlichem, auf dem sich beide aufgehalten haben. Das kann ich natürlich nicht ausschließen.«
»Gilt das Gleiche für die Unternehmensberatung der Familie von Brockdorf?«
»Die Firma kenne ich nicht, aber mein Chef hielt nichts von dieser Art von Beratern. Ich kann definitiv ausschließen, dass dieses oder ein anderes Beratungsunternehmen für unseren Betrieb tätig war.«
»Einen persönlichen Kontakt zwischen Joachim von Brockdorf und Herrn Reinstedt gab es auch nicht?«
»Ist das der Vater oder Bruder des Herrn, der in Flensburg ermordet wurde?«
»Der Vater. Der Bruder trägt den Vornamen Alexander.«
»Tut mir leid. Ich kenne weder einen Joachim von Brockdorf noch einen Alexander. Wenn dem so gewesen wäre, hätte ich das natürlich schon seinerzeit mitgeteilt. Es wäre ja durchaus von Belang gewesen, vermute ich mal.«
»Danke, Frau Rotenburg. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Gerne, Frau Lorenzen. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, melden Sie sich bei mir. Ihre Kollegen waren übrigens gestern persönlich bei mir. Aber das wissen Sie sicher.«
»Ja, Frau Rotenburg. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Lena legte das Handy auf den Tisch. Die Spur war kalt. Frau Rotenburg schien ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu haben. Es war nutzlos, in diese Richtung weiter zu recherchieren. Sie informierte Johann und Ole Kotten und verabschiedete sich für eine halbe Stunde.
Als sie vor der Polizeidirektion stand, hörte sie ihren Magen knurren. Seit dem Morgen auf Hallig Hooge hatte sie nichts mehr gegessen. Sie lief durch die Straßen von Husum und kaufte sich in einer Bäckerei ein Croissant und einen Becher Milchkaffee. Am Stehtisch vor dem Geschäft biss sie in das köstlich duftende Gebäck und trank dazu den heißen Kaffee. Langsam kehrten ihre Gedanken wieder zum Fall zurück. Damit, dass die Sekretärin von Walter Reinstedt ihr keinerlei Anhaltspunkte für eine Verbindung liefern konnte, hatte sie nicht gerechnet. Ihr
hätte klar sein müssen, dass ein solch direkter Zusammenhang zwischen den Familien der drei bekannten Opfer schon in der damaligen SoKo aufgefallen wäre. Der neu hinzugekommene Ex-Innenminister schien ihr im ersten Moment als eine Art Mittler zwischen den drei anderen Opferfamilien bestens geeignet. Es war abzuwarten, ob Ole Kotten oder Johann mehr Erfolg in Bezug auf die anderen beiden Opfer haben würden.
Sie biss erneut in das Croissant und überlegte, an welcher Stelle der Ermittlungen sie falsch abgebogen sein konnten. War es möglich, dass es noch ein fünftes Opfer oder Anschlagsziel gegeben hatte und hier der gemeinsame Nenner für die Taten zu finden war? Hatten die drei Opfer und der Ex-Innenminister alle Kontakt über eine noch unbekannte Person miteinander gehabt? Oder über ein gemeinsames Projekt? Waren nicht die Verbindungen untereinander wichtig, sondern zu einer weiteren ihnen bisher fremden Person oder Organisation?
Als ihr Handy klingelte, nahm sie das Gespräch nach einem Blick aufs Display an.
»Erck! Tut mir leid, dass ich mich noch nicht bei dir gemeldet habe.«
»Alles gut! Ich wollte dir auch nur sagen, dass ich morgen in Husum anfange. Ich fahre mit der ersten Fähre rüber und treffe mich um zehn Uhr mit unserer Vermieterin am Haus.«
»Aha! Dann sollte ich vielleicht auch kommen«, antwortete Lena mit gespielt ernster Stimme.
Erck lachte. »Eifersüchtig? Das kenne ich ja gar nicht von dir.«
Lena stimmte in Ercks Lachen ein. »Vielleicht ist es ja auch besser, wenn ich nicht sehe, wie alt sie ist und wie sie aussieht.«
»Keine Sorge. Ich habe meine Traumfrau gefunden und suche allenfalls noch eine Traumküche. Aber mal im Ernst. Bist du noch in Husum?«
»Ja, Ole Kotten hat uns ein Hotelzimmer besorgt. Ich fürchte, morgen wird ein anstrengender Tag. Zu viele Fäden, die sich überhaupt nicht zusammenfügen wollen.«
»Kein Problem, Lena. Zuerst bin ich im Baumarkt einkaufen und danach im Haus arbeiten. Ich bringe übrigens eine große Luftmatratze mit. Vielleicht hast du ja Lust auf ein bisschen Camping-Feeling?«
»Klingt doch gut. Halt schon mal einen Platz für mich frei.«
»Das mach ich, Lena.« Er hielt einen Augenblick inne. »Und pass auf dich auf, versprochen?«
Lena schluckte. Da war sie wieder, Ercks Angst. Sie würde lernen müssen, damit umzugehen. »Bis später, Erck!«
Sie stellte ihre leere Tasse auf das dafür vorgesehene Tablett und verließ die Bäckerei. Auf dem Weg zurück ging sie noch einmal die bisher bekannten Fakten beider Fälle durch. Wo überschnitt sich das Verschwinden von Jan Thomsen mit dem Mord an Klaas Rieckert? Hatte sie sich zu sehr auf einen Ermittlungsansatz konzentriert?
Der Entzug des Falles und die Nichtberücksichtigung in der SoKo hatten ihr mehr zugesetzt, als sie gedacht hatte. Ganz tief in sich spürte sie den schnell wachsenden Hass auf Groll, Oberstaatsanwalt Kern und letztlich auch Warnke. Alle schienen ihr eigenes Spiel zu spielen, bei dem sie allenfalls ein austauschbarer Bauer auf dem Schachbrett war.
Lena betrat die Polizeidirektion und fand die beiden Kollegen konzentriert an ihren Laptops arbeitend.
Sie startete ihren eigenen Rechner und begann mit ihrer Recherche zu Joswig von Gotenberg. Geboren 1922 in Schleswig, in vierter Generation verarmter Adel, Vater hoher Offizier im Ersten Weltkrieg und General seit Anfang der Dreißigerjahre. Joswig von Gotenberg wurde als Achtzehnjähriger mitten im laufenden Abitur eingezogen und war ab 1940 in Polen und Russland im Einsatz. Rechtzeitig vor dem Vormarsch der Roten
Armee wurde er an die Westfront versetzt und kam 1944 in amerikanische Gefangenschaft, aus der er im November 1945 entlassen wurde. Er holte sein Abitur nach, studierte Jura und kehrte nach Schleswig zurück, wo er eine Anwaltspraxis eröffnete. Anfang der Sechzigerjahre wurde er erstmals in den Landtag gewählt. Er konzentrierte sich auf die Innenpolitik und übernahm nach einem rasanten Aufstieg in der Partei, den er nach unbestätigten Gerüchten alten Seilschaften seines Vaters zu verdanken hatte, im Jahr 1969 das Innenministerium. Als strammer Konservativer vertrat er einen harten Kurs gegen die aufbegehrenden Studenten der Achtundsechziger-Generation. Gleichzeitig war er ein vehementer Verfechter des freien Marktes und setzte sich für die Ansiedlung neuer Industriezweige im Land ein.
Als sich Johann auf seinem Stuhl regte, stand Lena auf und fragte, ob sie eine gemeinsame Pause einlegen und etwas essen wollten.
»Gute Idee!«, meinte Johann und sprang auf. »Mein Magen hängt mir in den Kniekehlen.«
Ole Kotten klappte seinen Laptop zu und schloss sich ihnen an. In einer nahe gelegenen Pizzeria fanden sie einen ruhigen Platz am Fenster. Nachdem sie bestellt hatten, fragte Lena, ob sie weitergekommen wären.
»Mit dem Hamburger Bauunternehmen ist das nicht so einfach«, antwortete Johann. »Die haben diverse Abteilungen. Großprojekte wie Flughäfen und öffentliche Gebäude, Brücken- und Straßenbau. Eine Verbindung zur Flensburger Firma habe ich nicht gefunden, ebenso wenig zur Bank nach Berlin. Da die AG nur Großprojekte übernimmt, gehe ich nicht davon aus, dass sie irgendwo ein Hospiz gebaut hat. Die Wahrscheinlichkeit ist wohl eher gering und diese Informationen lassen sich sicher auch nicht so einfach im Internet finden. Zu der Universität von unserem Professor konnte ich auch keinen Zusammenhang herstellen. Auf den Punkt gebracht: Ich habe bisher nichts gefunden.«
»Geht mir ähnlich«, fuhr Ole Kotten fort. »Das Unternehmen der Familie Brockdorf berät Firmen nicht nur im klassischen Sinn, sprich hilft ihnen aus Krisen oder arbeitet mit den Managern der Firmen neue Geschäftsmodelle aus, sondern ist auch stark im Bereich der Public Relations. Lobbyarbeit im weitesten Sinne, würde ich mal sagen. Verbindungen zur Hamburger Baufirma habe ich nicht gefunden, zur Uni in Berlin auch nicht.«
»Vielleicht müssen wir weiter zurückgehen«, schlug Lena vor.
»Wie weit?«, fragte Johann kopfschüttelnd. »Zwanzig Jahre, dreißig? Oder noch mehr? Je weiter es in die Vergangenheit geht, desto weniger finden wir das in öffentlich zugänglichen Quellen.«
Ihre Pizzen wurden serviert, sie unterbrachen ihr Gespräch und aßen schweigend. Als der Kellner den Tisch abgeräumt hatte, knüpfte Lena wieder am letzten Punkt an.
»Was verbindet eine Unternehmensberatung mit einem Bauunternehmen und dem Innenministerium? Im Allgemeinen, meine ich.«
Johann raufte sich die Haare. »Nichts, so weit waren wir doch schon.«
»Großprojekte«, sagte Lena. »Alle drei geben sich nicht mit kleinen Sachen ab. Und als Vorstandsvorsitzender einer überregionalen Bank wird sich Solingers Vater auch nicht um den kleinen Häuslebauer gekümmert haben.«
»Wir haben aber keine Geschäftsbeziehung zwischen den Firmen beziehungsweise dem Ministerium gefunden«, warf Ole Kotten ein.
»Vielleicht gibt es auch keine, sondern nur indirekt. These: Alle haben für ein und dasselbe Großprojekt gearbeitet.«
»Das wäre natürlich eine Möglichkeit«, sagte Johann mit nachdenklicher Miene. »Aber das ist die Nadel im Heuhaufen. Das ist dir doch wohl klar, oder?«