SIEBENUNDZWANZIG
»Also konzentrieren wir uns auf Großprojekte und Großkunden«, sagte Ole Kotten, als sie wieder in seinem Büro angekommen waren.
Lena klappte ihren Laptop auf. »Genau! Du schaust bei der Flensburger Firma nach, Johann schaut bei dem Bauunternehmen und ich durchleuchte unseren Ex-Innenminister.«
»Wer übernimmt die Bank?«, fragte Johann. »Und streng genommen auch noch die Uni?«
»Die Uni lassen wir erst mal außen vor. Mit der Bank beschäftige ich mich«, antwortete Lena. Sie sah auf die Uhr. »Zwanzig Uhr. Spätestens um Mitternacht machen wir Schluss. Wenn jemand eine Vermutung hat, kann er sie auf die Flipchart schreiben.« Sie stand wieder auf, notierte die vier Bereiche oben auf der Seite und zog senkrechte Linien zwischen den Blöcken. »Auf geht’s!«
Lena suchte systematisch das Netz nach Informationen zu Joswig von Gotenberg ab. Als Innenminister hatte er lange für einen eigenen zivilen Flughafen in Schleswig-Holstein geworben, der aber nie verwirklicht wurde. Trotzdem schrieb Lena
Flughafen Kiel (geplant)
auf die Liste.
Der Bau der Autobahn A 23 fiel in seine Amtszeit. Lena recherchierte eine halbe Stunde dazu, fand aber nur wenige
Informationen, die im Zusammenhang mit von Gotenberg standen. Für die A 215, die die A 7 mit der Landeshauptstadt Kiel verband, galt das Gleiche, ebenso wie für die A 21 und weitere Autobahnteilstücke. Sie notierte alle auf der Flipchart.
Die Uni Kiel wurde in den Siebzigerjahren verschiedenfach baulich erweitert, wobei alle Baumaßnahmen zusammen als Großprojekt bezeichnet werden konnten. Lena fügte die Uni zur Liste hinzu.
Die Fehmarnsundbrücke, die die Insel Fehmarn mit dem Festland verband, schloss Lena aus, da sie vor der Amtszeit des Ex-Innenministers gebaut wurde.
Die Atomkraftwerke Brunsbüttel und Brokdorf wurden in den Sechziger- beziehungsweise Siebzigerjahren geplant und gebaut. Das Kraftwerk Krümmel ein Jahrzehnt später, die Planungsphase ging aber weit in die Siebzigerjahre zurück. Lena notierte alle drei Kraftwerke in der Liste.
Weitere kleinere Projekte folgten, bis sie sich gegen elf Uhr abends auf die Bank konzentrierte. Hier war die Recherche erheblich komplizierter, da dieses Gewerbe mit Angaben über Kunden viel zurückhaltender umging. Sie scrollte sich eine Stunde durch etliche Seiten, fand aber keine direkten Hinweise. Erschöpft klappte sie schließlich den Laptop zu.
Auf der Flipchart waren auch in den anderen beiden Spalten mehrere Einträge von ihren Kollegen hinzugefügt worden. Sie ging die Liste kurz durch, schlug dann aber vor, sich morgens um halb acht zum Frühstück zu treffen.
Lena schreckte aus dem Schlaf hoch. Langsam setzte sie sich aufrecht im Bett hin und versuchte, sich an den Traum zu erinnern.
Jan Thomsen trieb leblos auf dem Wasser, Lena stand an der Reling eines kleinen Bootes und sprang, nachdem sie ihn entdeckt hatte, kopfüber ins Wasser. Als sie ihn endlich
im Schleppgriff hatte, schlug er plötzlich um sich und schrie laut, dass sie ihn in Ruhe lassen solle. Sie befreite ihn aus der Rückenlage, er strampelte und versuchte, sich krampfhaft über Wasser zu halten. Sie starrte fassungslos auf das Schauspiel und fragte sich, ob er nicht schwimmen könne. Schließlich schrie er sie an, dass sie ihn gefälligst retten solle, das sei schließlich ihre Aufgabe als Polizistin. Sie zog ihre Waffe, drehte sich im Wasser herum und zielte im gleichen Augenblick auf eine Person, die sich unbemerkt in einem zweiten Boot genähert hatte. Als die Waffe versagte, ließ sie sich vom Wasser in die Tiefe ziehen, tauchte unter dem Boot durch und zog sich an der anderen Seite an einem Tau hoch. Schließlich stand sie vor einem Mann, der sie lachend fragte, was sie von ihm wolle. Sie stürzte sich auf ihn und legte ihm Handschellen an. Als Lena wieder aufsah, bemerkte sie, wie Thomsen im Wasser versank. Sie sprang auf und stürzte sich ein zweites Mal in die Fluten, aber Thomsen war in der Tiefe der Nordsee verschwunden.
Der Traum war schmerzhaft realistisch gewesen, Lena spürte immer noch die Kälte der Nordsee und hatte Thomsens Schreie in den Ohren. Sie stand auf, um das Fenster ihres Zimmers zu schließen. Zurück im Bett, fiel ihr Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sechs.
Konnte Jan Thomsen, wenn er nicht aus eigenen Stücken verschwunden war, tatsächlich noch am Leben sein? Gab es überhaupt eine Chance, ihn zu finden? Die nächsten zwei Tage würden entscheidend sein. Jede Stunde länger verringerte die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn finden würden. Bis jetzt war jede ihrer Recherchen ins Leere gelaufen.
»Guten Morgen! Gut geschlafen?« Johann hatte im Foyer des Hotels auf sie gewartet.
»Moin, Johann. Frag lieber nicht. Die Ermittlungen haben mich bis in die Träume verfolgt.«
Sie verließen das Hotel und fanden nach kurzer Suche das Café, das Ole Kotten vorgeschlagen hatte. Er winkte ihnen zu, als sie die Gaststube betraten.
»Guten Morgen, Kollegen«, sprach er sie herzlich lächelnd an. »Ich hoffe, das Hotel ist so gut wie sein Ruf.«
»Alles perfekt, Ole«, antwortete Lena und setzte sich zu ihm an den Tisch. »Hast du schon bestellt?«
Ole Kotten verneinte und hob die Hand, als eine der jungen Frauen, die im Café bedienten, an ihrem Tisch vorbeilief. Sie bestellten und bekamen kurz darauf den Kaffee serviert. Ihr Frühstück hatten sie sich bereits am Büfett zusammengestellt.
»Guten Appetit«, wünschte Ole Kotten und belegte ein Vollkornbrötchen mit Käse und Wurst.
Lena biss in ihr Croissant und aß Rührei mit Speck, während Johann sich ein Müsli genommen hatte. Zwanzig Minuten später machten sie sich zu Fuß auf den Weg in die Polizeidirektion. Bis dahin hatten sie in ihren Gesprächen die Ermittlungen umschifft.
»Meint ihr, dass Jan Thomsen noch lebt?«, stellte Lena die Frage, die ihr seit dem Aufwachen durch den Kopf ging.
»Mein Gefühl sagt mir, ja, mein Kopf ist da eher skeptisch«, antwortete Ole Kotten. »Wir brauchen dringend konkrete Anhaltspunkte, denen wir nachgehen können, ansonsten sehe ich schwarz.«
»Ich denke, er hat was mit dem Tod von Rieckert zu tun und ist abgetaucht, nachdem die SoKo ihn zum zweiten Mal in die Mangel genommen hatte«, warf Johann ein.
Sie überquerten eine Straße, bogen nach links ab und liefen direkt auf das Polizeigebäude zu.
»Ihr seid auch der Meinung, dass wir mit den Recherchen zu Klaas Rieckert weitermachen sollten?«
»Solange sich nichts Neues zu Thomsen ergibt, auf jeden Fall«, antwortete Ole Kotten. Johann nickte zustimmend.
»Als Innenminister hatte von Gotenberg natürlich mit fast allen Großprojekten im Land auf die eine oder andere Weise zu tun«, schloss Lena ihren kleinen Vortrag ab. Sie war an der Flipchart die einzelnen Punkte durchgegangen. »Auf jeden Fall schien er ein Freund der Industrie zu sein. Als konservativer Hardliner ist das natürlich wenig verwunderlich.«
Johann tauschte den Platz mit ihr und zeigte auf seine Spalte, die die Projekte des Hamburger Bauunternehmens aufführte.
»Eines ist auf jeden Fall klar: Das Unternehmen war und ist viel in Schleswig-Holstein tätig. Walter Reinstedt ist in Kiel aufgewachsen und hatte schon von daher einen Bezug zum hohen Norden.« Er tippte auf die ersten fünf Notizen in seiner Spalte. »Soweit ich das im Internet recherchieren konnte, war seine Firma in den Siebziger- und Achtzigerjahren im großen Stil am Autobahnbau beteiligt. Logischerweise läuft das über Ausschreibungen, aber nach meinen Recherchen waren sie auf die eine oder andere Weise bei jedem Projekt dabei. Wie sie das geschafft haben, lassen wir mal dahingestellt. Auf jeden Fall habe ich den Autobahnbau ganz oben notiert.« Er zeigte auf den nächsten Eintrag. »Kraftwerksbau. Das scheint ein weiterer Schwerpunkt der Firma zu sein. In Brokdorf und Brunsbüttel war sie die treibende Kraft in einem Konsortium von Firmen. In einer Festschrift zu einem Firmenjubiläum habe ich dazu ein ganzes Kapitel gefunden. Deshalb habe ich es an die zweite Stelle gesetzt.« Er tippte auf die nächsten fünf Punkte. »Wie ihr seht, ist die Firma sehr aktiv in Schleswig-Holstein. Sie war Hauptbauunternehmen beim Ausbau der Uni Kiel, hat die Aufträge für mehrere Regierungsneubauten erhalten und zwei Sporthäfen an der Nordseeküste gebaut. Die weiteren Punkte hier unten …« Er fuhr mit der Hand über eine lange Liste von Namen. »… sind eher Projekte, die keine jahrelangen Arbeiten nach sich gezogen haben. Ich habe sie
nur vollständigkeitshalber aufgeführt.« Er kreiste die Punkte
Autobahnbau
und
Kraftwerksbau
ein. »Hier liegen die entscheidenden Überschneidungen mit Lenas Punkten.«
Ole Kotten nahm seinen Platz ein. »So, jetzt zum Flensburger Unternehmen. Ganz so auskunftsfreudig wie bei euch sind meine Unternehmensberater nicht. Ein Schwerpunkt der Firma liegt und lag in der Beratung mittelständischer Unternehmen, von denen es in Schleswig-Holstein eine ganze Reihe gibt: in den Bereichen Autoindustriezulieferung, Schiffbau und Pharmaindustrie. Die habe ich hier aufgeführt. Konkrete Firmennamen werden selten genannt, die Wirtschaftszweige schon eher. Allerdings gibt es hier offensichtlich keine Überschneidung mit euren Punkten. Ein weiteres Standbein der Firma ist, wie ich gestern schon gesagt habe, die PR-Arbeit. Hier ist das Unternehmen mit Auskünften noch zurückhaltender. Ich gehe aber davon aus, dass es die Partei vom Ex-Innenminister über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, betreut hat. Hier gäbe es also eine Verbindung.«
»Könnte der Bauunternehmer nicht auch die Partei unterstützt haben?«, fragte Johann. »Finanziell, meine ich. Und die Berliner Bank …« Er brach ab. »Nein, die hat, wenn überhaupt, an die Partei in der Hauptstadt gespendet. Dürfen öffentliche Banken überhaupt Parteien unterstützen?«
Ole Kotten grinste. »Nicht nur das. Sie sind mit die größten Parteifinanziers. Allerdings spenden sie häufig querbeet, verstärkt allerdings eher im konservativen Bereich. Gut, das könnte eine Verbindung sein, aber das würde auf ein politisches Motiv von Klaas Rieckert hindeuten. Ist das realistisch?«
»Zumindest gibt es bisher keinerlei Anzeichen dafür«, warf Lena ein. »Niemand hat erwähnt, dass er politisch aktiv war oder gar extreme Ansichten vertreten hat. Wir sollten das zurückstellen.«
»Gut«, übernahm wieder Ole Kotten das Wort. »Wenn ich jetzt eure Schnittmengen sehe, läuft es auf Autobahnen und Kraftwerke hinaus. Im Bereich Autobahnbau habe ich nichts Relevantes gefunden, aber, und das habe ich gerade noch einmal gegoogelt, die Firma hat wohl über Jahre für einen der Großbetreiber der schleswig-holsteinischen Kraftwerke gearbeitet, möglicherweise bis heute. Ich habe Pressefotos gefunden, auf denen Joachim von Brockdorf, also der Vater von Maximilian und Alexander, mit den Vorstandschefs einer der Betreiberfirmen abgelichtet ist. Zusätzlich gibt es Hinweise auf deren Website, dass sie Verbindungen zu von Brockdorfs Firma haben.«
Während Ole Kotten gesprochen hatte, war Lena neben ihn getreten. »Atomkraftwerke«, murmelte sie. »Was hat das zu bedeuten?«
»Und die Berliner Bank«, warf Johann ein. »Was hat sie damit zu tun?«
»Du hast doch mit der Schwester des Berliner Opfers gesprochen. Kannst du versuchen, sie zu erreichen?«, schlug Lena vor.
Johann nickte und griff nach seinem Handy. Als er anfing zu sprechen, stand er auf und ging im Büro auf und ab. Hin und wieder stellte er eine Frage und hörte lange Thomas Solingers Schwester zu. Schließlich verabschiedete er sich und sah Lena und Ole Kotten triumphierend an. »Wir sind auf der richtigen Spur.«