NEUNUNDZWANZIG
Christian Petersen hatte Klaas Rieckert auf die Idee gebracht, dass die Krankheit des Vaters und ihr schneller Verlauf auf einen Kontakt mit radioaktivem Material zurückzuführen sein könnten. Gemeinsam hatten sie in der Vergangenheit von Tjark Rieckert recherchiert und als einzig mögliche Quelle seine Arbeit auf den Containerschiffen ausgemacht. Als Tom Thomsen, der mit Rieckert auf den gleichen Schiffen angeheuert hatte, ausgesprochen zurückhaltend mit seinen Informationen war, hatte sich Petersen auf die Suche gemacht. Nach umfangreichen Recherchen war er auf einen Kernkraftunfall gestoßen, der zunächst nicht offiziell angezeigt worden war und von dem die Öffentlichkeit erst viele Jahre später erfuhr. Er nahm an, dass das radioaktive Material von diesem Unfall herrührte und später per Schiff abtransportiert worden sei.
»Es gab zu der Zeit tatsächlich einige Unfälle in Atomkraftwerken«, erklärte Petersen. »Dass dabei radioaktive Abfälle entstanden sind, hatte ich schon einige Jahre vorher vermutet und lange dazu recherchiert. Allerdings war ich trotz weiterer Nachforschungen nicht der Ansicht, dass meine Beweise für einen illegalen Abtransport per Schiff reichen würden, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen.«
Petersen führte weiter aus, dass die Reederei zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünfzehn Jahren aufgelöst und der Eigentümer inzwischen verstorben war. Trotzdem recherchierte Klaas Rieckert über viele Monate auf eigene Faust weiter, wer für den Tod seines Vaters verantwortlich gewesen sein könnte, und zog die Kreise immer weiter. Petersen warnte ihn davor, sich zu sehr in die ganze Sache hineinzusteigern und sein Leben durch den Hass dominieren zu lassen. Von daher war er froh, als sein Freund nach etwa einem Jahr anscheinend mit den Geschehnissen abgeschlossen hatte. Er wurde erst stutzig, als er von einem Bekannten, der bei der Polizei arbeitete, von dem missglückten Anschlag auf den Ex-Innenminister erfuhr. Petersen stellte Rieckert zur Rede – der aber schwor, dass er mit der Sache nichts zu tun habe. Petersen glaubte ihm, auch weil er den Eindruck hatte, dass sein Freund zu dem Zeitpunkt tatsächlich über den Tod seines Vaters hinweggekommen sei.
»Ja, aber dann kam das Schleusenfest«, sagte Petersen.
Erst der Streit auf diesem Fest, bei dem er einen Teil der Auseinandersetzung mitbekommen hatte, ließ erneut Zweifel in ihm aufkommen. Rieckert hatte Thomsen vorgeworfen, dass er sich die Segeljacht mit dem dreckigen Geld seines Vaters gekauft habe. Zu dem Zeitpunkt kam Petersen zunehmend der Verdacht, dass Klaas Rieckert etwas mit dem Unfalltod von Thomsen senior zu tun haben könnte und mehr von ihm erfahren hatte, als Rieckert ihm gegenüber zugegeben hatte. Einige Wochen später kam es wegen dieser Frage zum Streit zwischen den beiden Freunden. In der Folge sahen sie sich über zwei Jahre nicht mehr, bis Rieckert sich wieder bei Petersen meldete. Bei einem Treffen gab Rieckert schließlich zu, dass Thomsen senior ihm im alkoholisierten Zustand von einer gefährlichen Fracht und einem Unfall berichtet hatte. Aus den wirren Reden des alten Mannes hatte Rieckert geschlussfolgert, dass Thomsen senior vom Reeder eine Art Schweigegeld bekommen hatte.
Die Freunde versöhnten sich wieder. Laut Petersen war die Beziehung der beiden allerdings nicht mehr so intensiv und ihre Treffen wurden seltener. Schließlich zeigte Petersen den Kommissaren eine SMS, die ihm Rieckert nur wenige Tage vor seinem Tod geschickt hatte.
Kann dich nicht erreichen. Ich muss dringend mit dir sprechen. Es hat sich etwas in der alten Geschichte ergeben. Klaas
Petersen erklärte sich bereit, sein Handy der Polizei für weitere Untersuchungen zu überlassen, Lena schrieb noch vor Ort ein Protokoll der Befragung, das sie auf Petersens Drucker ausdruckten und von ihm unterschreiben ließen.
»Eine verrückte Geschichte«, kommentierte Ole Kotten, als sie nach Husum zurückfuhren.
»Petersen scheint glaubwürdig zu sein. Ich habe keine Widersprüche in seiner Aussage entdecken können.«
»Dem kann ich zustimmen«, sagte Ole Kotten. »Rieckert muss sich vollkommen verrannt haben. Nach Petersens Aussage war es doch nicht einmal klar, dass das radioaktive Material aus einem der schleswig-holsteinischen AKWs kam. Lediglich Thomsen senior hat ihm bestätigt, dass sie gefährliche Güter transportiert hätten und es zu einem Unfall gekommen sei.«
»Rieckert wird psychisch krank gewesen sein. Aber das lässt sich heute nicht mehr sicher feststellen. Da soll sich gefälligst die SoKo dran abarbeiten.«
Ole Kotten grinste breit. »Sehe ich auch so. Wenn wir schon die ganze Arbeit für sie gemacht haben.«
Eine Viertelstunde später stellte Kotten den Wagen auf seinem markierten Parkplatz ab. Lena hatte Johann bereits
per Handy eine kurze Zusammenfassung gegeben und ihre Rückkehr angekündigt.
»Wer Klaas Rieckert getötet hat, wissen wir leider immer noch nicht«, sagte Johann, nachdem Lena noch einmal ausführlich von der Befragung berichtet hatte.
»Ich frage mich, was Rieckerts SMS zu bedeuten hat«, warf Ole Kotten ein. »Es hatte auf jeden Fall mit ›der alten Geschichte‹ zu tun, wie Rieckert es ausgedrückt hat.«
»Was spricht gegen Jan Thomsen?«, fragte Johann. »Angenommen, er hat herausbekommen, dass Rieckert seinen Vater auf dem Gewissen hatte, und sich dann an ihm gerächt.«
»Das ist neun Jahre her«, warf Lena ein. »Unabhängig davon, dass die Kollegen bei Thomsen senior keine Hinweise für ein Gewaltverbrechen gefunden haben, ist mir nicht klar, wie Thomsen junior das in Erfahrung gebracht haben sollte. Die Frage ist eher: Woher hatte Thomsen das Geld, mit dem er die erste Hälfte des Darlehens an seinen Freund abbezahlt hat, und woher hätte er den angekündigten Rest bekommen?«
»Uns fehlen noch einige Puzzleteile«, fasste Ole Kotten zusammen.
»Dann sollten wir jetzt eine Pause machen und anschließend noch einmal alle bisherigen Fakten durchgehen.«
»Gute Idee!«, sagten Johann und Ole Kotten fast gleichzeitig.
»Je mehr wir darüber diskutieren, desto mehr scheint sich abzuzeichnen, dass Thomsen senior und junior eine wesentliche Rolle in den drei Fällen spielen«, fasste Lena die letzten zwei Stunden zusammen, in denen sie mit ihren beiden Kollegen noch einmal sämtliche Fakten durchgegangen war. »Rieckert senior stirbt an Krebs, nachdem er mutmaßlich mit radioaktivem Material in Berührung gekommen ist. Thomsen senior stirbt bei einem Unfall, von dem wir nicht wissen, ob Rieckert junior seine Finger im Spiel hatte. Der wiederum wird bei auflaufendem
Wasser im Watt ausgesetzt und ertrinkt. Schließlich verschwindet Jan Thomsen spurlos. Er hat vermutlich Geld von seinem Vater unterschlagen, das aus einer Erpressung stammt, die wiederum in Zusammenhang mit dem Tod von Tjark Rieckert steht.«
»Klingt fast nach einer griechischen Tragödie«, kommentierte Johann Lenas Zusammenfassung. »Zwei Familien, die sich gegenseitig die Schuld zuweisen, und am Ende lebt keiner mehr. Fehlen nur noch die Götter und …« Er zuckte mit den Schultern. »Wo ist dieser verfluchte Jan Thomsen hin?«
»Was haben wir nur übersehen?«, fragte Ole Kotten zum wiederholten Male. »Was?«
»Was ist mit einer Hausdurchsuchung bei Thomsen?«, fragte Johann. »Wenn er mit drinsteckt, werden wir etwas finden.«
»Dafür müssten wir unsere gesamten Ermittlungsergebnisse vorlegen«, sagte Lena. »Im jetzigen Stadium würden wir schneller aus dem Fall gekickt, als wir A sagen könnten. Wollen wir das riskieren?«
»Lange können wir unsere Erkenntnisse sowieso nicht mehr vor der Staatsanwaltschaft zurückhalten«, merkte Ole Kotten an. »Spätestens Montag müssen wir die Akten weiterleiten, sonst kommen wir in Teufels Küche.«
Lena nickte. »Ja, den Termin habe ich mir auch gesetzt. Montagfrüh, würde ich sagen.« Sie sah auf die Uhr. »Schon wieder sechs. Fährst du heute noch nach Kiel, Johann?«
»Ja, das war der Plan. Aber ich kann morgen früh wieder hier sein. Keine Frage.«
»Okay, dann schlag ich vor, dass wir morgen um neun hier weitermachen. Was meinst du, Ole?«
Der Husumer Hauptkommissar stand auf. »Eine Nacht über alles zu schlafen ist eine gute Idee.«
Sie räumten ihre Sachen zusammen und verließen gemeinsam die Polizeidirektion.
Lena saß im Wagen vor ihrem neuen Haus und wartete auf Erck, der, wie er ihr am Telefon gesagt hatte, bereits auf dem Rückweg vom Baumarkt war. Sie hatte sich fest vorgenommen, für ein paar Stunden Pause von dem verzwickten Fall zu machen, musste sich aber zwingen, nicht an die Erkenntnisse des Tages zu denken. Obwohl sie einen großen Schritt weitergekommen waren, schien sich ein riesiges schwarzes Loch vor ihren Füßen aufzutun. Lena hasste diese Phase der Ermittlungsarbeit, dieses Gefühl, hilflos zu sein und auf einen Zufallstreffer warten zu müssen.
Ein Klopfen am Seitenfenster ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Erck lächelte sie an und trat zurück, als Lena die Fahrertür öffnete.
Er reichte ihr den Haustürschlüssel. »Hast du lange gewartet?«
»Alles gut. Nur ein paar Minuten. Soll ich schon mal aufschließen?«
Er nickte und ging zurück zu seinem Wagen, um die erste Ladung Farben und Abdeckfolien zu holen. Wenig später hatten sie Ercks Kombi entladen. Lena schlug vor, die ersten Zimmer für den Anstrich vorzubereiten, und war froh, als Erck zustimmte. Sie brauchte Zeit zum Abschalten und da kam ihr die monotone Arbeit entgegen.
»Hast du heute eigentlich schon was gegessen?«, fragte Erck, nachdem sie in Flur und Wohnzimmer die Böden und Fenster abgeklebt hatten.
»Eine Kleinigkeit. Und du?«
»Ich habe Hunger! Wie wäre es mit Pizza? Wer holt?«
Lena zog schmunzelnd eine Münze aus der Tasche und warf sie in die Luft. Verdeckt hielt sie sie in den Händen. »Kopf oder Zahl?«
»Zahl.«
Sie hob eine Hand hoch. »Du hast gewonnen. Deine Pizza wie üblich?«
»Schmeckt gut«, sagte Erck kauend. »Die Pizzeria kommt schon mal auf unsere Liste.«
»Der Tipp kommt von Ole.«
»Dein Kollege hier in Husum?«
»Genau! Ich habe ihn und seinen Mann übrigens zu unserer Einweihung eingeladen. Hatte ich dir das schon erzählt?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Sie saßen auf der Luftmatratze, die Erck während ihrer Abwesenheit aufgepumpt hatte. Erck reichte Lena ein Glas Wein und schenkte sich selbst ein.
»Du hast gar nichts von der Arbeit erzählt. Seid ihr weitergekommen?«
Lena stöhnte leise. »Im Prinzip, ja. Wir haben jetzt wohl das Motiv für die drei ersten Morde gefunden.«
»Okay!«
»Väter und Söhne, wohin man auch schaut.«
Erck sah sie fragend an.
»Kannst du dir vorstellen, dass jemand den Tod seines Vaters rächt und dabei, weil die vermeintlichen Schuldigen nicht mehr leben, die Söhne brutal ermordet?«
»Wie alt war der Sohn, als der Vater starb?«
»Fünfzehn.«
»Und wann hat er …«
»Mit vierzig. Also fünfundzwanzig Jahre später.«
»Ich bin kein Psychologe«, sagte Erck. »Aber da muss ja reichlich etwas in seinem Kopf durcheinandergekommen sein.«
»Das absolut Verrückte ist, dass die beiden Söhne nichts mit den Geschäften ihrer Väter zu tun haben wollten. Das heißt, er hat doppelt die Falschen getroffen. Hinzu kommt, dass
nicht mal klar ist, ob er mit seinen Annahmen richtiglag und das radioaktive Material wirklich aus einem AKW in Schleswig-Holstein stammte und nach einem Störfall illegal entsorgt wurde.«
»Und dieser Mann wurde jetzt selbst ermordet?«
»Ja, und zwar mindestens so grausam, wie er seine Opfer getötet hat.«
Erck schwieg eine Weile. »Was für eine Wut, überall Wut.«
Lena schloss die Augen und sah ihren eigenen Vater vor sich. Klaas Rieckert hatte es in den vielen Jahren nicht geschafft, sein Trauma zu überwinden. Letztlich hatte es ihn in den Abgrund gezogen und sein Leben beendet.
Und ich?
, fragte sich Lena.
Wie sehr hat mich meine Wut gegen Vater geprägt? Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich früher meinen Frieden mit ihm gemacht hätte? Selbst nach den vielen Jahren kann ich keine zwei Sätze mit ihm sprechen, ohne ausfallend zu werden. Ist es an der Zeit, auf ihn zuzugehen?
»Stehe ich mir bei Werner selbst im Weg?«, fragte sie leise.
»Wie wir alle immer mal wieder«, antwortete Erck.
»Kommst du mit, wenn ich mich mit ihm treffe?«
»Ja, natürlich.«
»Aber nicht hier, nicht in unserem Haus«, flüsterte Lena. »Zumindest noch nicht.«
»Wir könnten deinen Vater nach Husum in ein Restaurant oder Café einladen. Er wird auf jeden Fall kommen.«
»Allein?«
»Wenn du es so möchtest. Sicher.«
»Vielleicht ist es besser, wenn sie gleich mitkommt.« Lena verschlug es den Atem. Hatte sie das gerade gesagt?
»Soll ich Werner anrufen?«
»Nein, das muss ich schon selbst schaffen.« Sie legte den fast leeren Pizzakarton zur Seite. »Lass uns erst einziehen. Danach … ja, dann lade ich … sie ein.«