EINUNDDREISSIG
Ein weiterer Anruf bei Helene von Brockdorf ergab, dass die Segeljacht abwechselnd in Flensburg und in Hörnum auf Sylt lag. In der Firma hatte sich Alexander von Brockdorf bereits am Montag für die ganze Woche abgemeldet, seine Mutter konnte Lena nicht sagen, wo er sich im Moment aufhielt.
Ole Kotten und Johann setzten sich ans Telefon und riefen in den Häfen von Flensburg und Sylt an, um nach der Jacht zu fragen, während Lena Kriminaldirektor Warnke Bericht erstattete.
»Da stecken Sie ja in einer sehr komplizierten Lage«, kommentierte Warnke.
»Mit Verlaub,
wir
stecken in einer komplizierten Situation!«
Eisiges Schweigen in der Leitung. »Wie wollen Sie weiter vorgehen?«
»Die Aufgabe unseres Teams ist, Jan Thomsen zu finden, und das möglichst lebend. Nichts anderes haben wir die ganze Zeit gemacht. Unser Ermittlungsansatz war und ist, dass die drei Fälle zusammenhängen und wir hier nicht isoliert vorgehen können. Und genau das hat sich ja bis jetzt auch im Detail bewahrheitet. Natürlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass sich Jan Thomsen auf der Jacht aufhält, aber bisher spricht einiges dafür.«
»Die Familie von Brockdorf ist nicht irgendwer. Ich hoffe, dass …«
»Selbstverständlich ist mir das klar, Herr Kriminaldirektor. Und natürlich gehen wir wie üblich vorsichtig und diskret vor. Allerdings sehe ich keinen anderen Weg, als die Segeljacht ausfindig zu machen und unseren Verdacht zu verifizieren.«
»Was bedeutet das konkret?«
»Ich benötige einen Durchsuchungsbeschluss für die Segeljacht.«
»Wie soll ich das dem Richter erklären? Ihre Intention in allen Ehren, aber es spricht mehr dagegen als dafür, dass dieser Thomsen dort auf dem Schiff ist. Der Oberstaatsanwalt wird …«
»Ich bin bisher davon ausgegangen, dass Oberstaatsanwalt Kern sozusagen auf unserer Seite steht. Er wird schon einen Richter finden, der sich nicht von dem Namen von Brockdorf blenden lässt.«
»Lorenzen, Sie haben doch immer ein gutes Gespür für das Machbare gehabt. Sie müssen doch sehen, dass wir hier keine Chance haben, einen Beschluss zu bekommen.«
Lena zögerte kurz, setzte dann aber alles auf eine Karte. »Okay, ordnen Sie hier und jetzt an, dass wir die Ermittlungen nicht auf die Jacht ausweiten. Ich würde nur darum bitten, es schriftlich zu bekommen. Sie verstehen sicher, dass ich, falls sich unsere Vermutungen später als richtig herausstellen, nicht die Verantwortung dafür übernehmen möchte, wenn Jan Thomsen das gleiche Schicksal widerfährt wie Klaas Rieckert.«
Es dauerte nicht lange, bis Lena die zerknirschte Stimme von Warnke hörte. »Ich spreche mit dem Oberstaatsanwalt. Aber …«
»Wann?«
»Ich melde mich.«
Er beendete grußlos das Gespräch.
Lena, die auf dem am Samstagvormittag verwaisten Flur telefoniert hatte, kehrte in Ole Kottens Büro zurück.
»Und?«, fragte Johann, noch bevor sie die Tür wieder geschlossen hatte.
»Sieht schlecht aus, aber zumindest versucht er es. Und bei euch?«
»Die Jacht lag in Hörnum und ist am Montag ausgelaufen«, antwortete Ole Kotten. »Über Nacht lag sie im Amrumer Seglerhafen, wohin sie am Dienstagabend wieder zurückgekehrt ist. Danach verliert sich die Spur.«
»In welchem Umkreis habt ihr gesucht?«
»Wir haben fast die ganze nordfriesische Küste durch. Hooge einmal ausgenommen, aber ich habe das Gemeindebüro erreicht und darum gebeten, dass jemand dort hingeschickt wird. Ich erwarte jeden Moment eine Antwort.«
»Eher unwahrscheinlich, dass die Jacht dort liegt. Wir müssen den Radius auf alle Häfen an der deutschen Nordseeküste ausweiten.«
Zu dritt machten sie sich daran, die Telefonnummern zu recherchieren und anschließend die Häfen anzurufen. Ole Kotten hatte eine Karte von Norddeutschland besorgt, auf der sie nach und nach die Häfen markierten, die die
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in den letzten Tagen nicht angelaufen hatte. Nach fast zwei Stunden hatten sie bis auf vier Häfen überall jemanden erreicht und keinen weiteren Treffer gelandet.
Johann trat an die Karte und markierte den Hafen von Norddeich. »Nichts. Das Boot ist da nicht einmal bekannt.« Er wollte sich gerade von der Karte abwenden, als sein Blick auf Helgoland fiel. »Haben die da nicht auch einen Hafen?«
Ole Kotten tippte etwas in seinen Laptop. »Hafen auf jeden Fall. Die Telefonnummer suche ich noch.«
Kurz darauf griff er zum Handy, wartete die Ansage ab und sprach aufs Band.
»Was bleibt noch?«, fragte Lena, die gerade ihr letztes Telefongespräch mit dem Hafenmeister auf Juist beendet hatte.
»Jetzt stehen noch zwei aus«, antwortete Johann.
»Drei mit Helgoland«, korrigierte ihn Ole Kotten.
»Pause!«, schlug Johann vor. »Ich besorg uns mal Kaffee.«
Als er das Büro verlassen hatte, rollte Ole Kotten mit seinem Bürostuhl zu Lena an den Tisch. »Hast du eine Idee, was wir machen, wenn unsere Anfragen alle ins Leere laufen?«
»Küstenwache. Kannst du nachfragen, ob ein Schiff in Husum liegt?«
Ole Kotten telefonierte ein paar Minuten und legte schließlich den Hörer wieder auf. »Wir haben Glück. Ein Patrouillenboot der Bad-Bramstedt-Klasse, das eigentlich in Cuxhaven stationiert ist, liegt hier in Husum. Ich habe mit dem Kapitän gesprochen. Wenn wir die Freigabe von oben bekommen, wären sie in etwa zwei Stunden einsatzbereit.«
Kottens Telefon klingelte, er nahm das Gespräch an. An Lena gewandt formte er mit den Lippen das Wort »Helgoland«. Sie nickte und verließ das Büro, um sich auf die Suche nach einer Toilette zu machen.
Als sie zurück ins Büro kam, spürte sie sofort die Spannung im Raum. Ole Kotten und Johann standen an der Karte und unterhielten sich aufgeregt.
»Das Boot lag im Hafen auf Helgoland«, sagte Ole Kotten. »Von Donnerstag auf Freitag. Gestern am späten Vormittag ist es wieder ausgelaufen.«
»Hat der Hafenmeister mit jemandem von der Jacht gesprochen?«, fragte Lena.
»Nur kurz bei der Anmeldung. Er kennt Alexander von Brockdorf und meinte, dass er allein an Bord war. Zumindest hat er keine weitere Person angegeben. Auf seine Frage, wo es dieses Mal hingehen würde, hat er geantwortet, dass er bis Esbjerg hochwolle und dann zurück nach Sylt.«
»Esbjerg?«, fragte Johann.
Ole Kotten trat an die Karte und zeigte oberhalb von Sylt auf die Tafel, an der die Karte befestigt war. »Das ist in Dänemark. Siebzig Kilometer Luftlinie von List auf Sylt, würde ich sagen. Ich ruf da gleich mal an, ein klein wenig Dänisch spreche ich ja.«
Er ging zu seinem Platz zurück und suchte im Internet nach einer Nummer, die er gleich darauf anrief. Nach einem kurzen Gespräch legte er wieder auf.
»Das war ein Kollege von der örtlichen Polizei. Er hat mir zugesagt, jemanden zum Seglerhafen zu schicken und mich wieder anzurufen. Eine halbe Stunde wird es wohl dauern, meinte er.«
Lena rief eine Karte auf ihrem Laptop auf. »Das sind mehr als hundertsechzig Kilometer bis nach Esbjerg. Was geht schneller? Segeln oder mit dem Motor?«
»Motor, denke ich. Und es ist besser zu berechnen. Wenn er einen vernünftigen Motor hat, sollte er bis zu zehn Kilometer pro Stunde schaffen. Wahrscheinlich hängt es dann auch noch vom Wind ab. Ich vermute mal, wenn der von hinten kommt, wird es schneller gehen.«
»Das wären ungefähr sechzehn Stunden. Er könnte also schon da sein.«
»In Dänemark haben wir keine Zugriffsberechtigung. Bevor das geregelt ist, vergehen Tage«, sagte Johann. »Ich kenne das noch aus Flensburg. Wir hatten das häufiger, dass die Leute über die offene Grenze verschwunden sind.«
»Also müssen wir warten«, meinte Ole Kotten.
Lenas Handy machte sich bemerkbar. Kriminaldirektor Warnke.
»Herr Warnke!«
»Ich habe jetzt mit Oberstaatsanwalt Kern gesprochen. Er sieht bei der Beweislage keine Chance, einen Beschluss für die Segeljacht zu bekommen. Wir brauchen mehr, Frau Lorenzen.«
»Schwierig bis unmöglich. Und es muss schnell gehen.«
»Versuchen Sie es. Der Oberstaatsanwalt hat bestimmt, dass Sie die Ermittlungsergebnisse Montagfrüh hier in Kiel der SoKo übergeben. Tut mir leid, mehr war nicht drin.«
»Ich melde mich«, sagte Lena und beendete das Gespräch.
Johann und Ole Kotten sahen sie fragend an. Lena schüttelte den Kopf. »Wir brauchen mehr! Verflucht!« Sie lief zur Tür, wandte sich dann aber wieder zu den Kollegen um. »Ich gehe kurz an die frische Luft. Bin gleich wieder da.«
Sie lief ohne Ziel die Straße entlang. Fieberhaft dachte sie darüber nach, welche Möglichkeiten sie noch hatten. Mechanisch griff sie nach ihrem Handy und wählte die Nummer von Enno Brunken, die sie vorsorglich abgespeichert hatte.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, begann sie nach einer kurzen Begrüßung. »Ich gehe davon aus, dass Ihr Freund Thomsen entführt wurde, habe aber nicht ausreichend Beweise für meine These.«
»Entführt? Sind Sie sicher? Das ist doch …« Er brach ab. »Er ist immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Ich verstehe das nicht.«
»Die Zeit drängt, Herr Brunken. Die einzige Möglichkeit, Hooge zu verlassen, ist mit einem Boot. Die Fähren haben wir alle durch, also bleibt die Frage: War ein Motor- oder Segelboot im Hafen, das ihn vielleicht mitgenommen hat?« Lena sprach so vage wie möglich über den Sachverhalt, um Brunken nicht zu manipulieren.
»Was soll ich machen?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es niemand bemerkt haben soll, wenn am Montagnachmittag oder -abend ein Boot dort angelegt hat. Versuchen Sie, jemanden zu finden. Wie
gesagt, es eilt. Ich kann von hier aus nichts machen, und bevor ich einen Kollegen nach Hooge bekomme, ist der Tag schon vorbei.«
»Das ist doch sinnlos! Ich habe auch schon auf der ganzen Hallig herumgefragt, glauben Sie mir. Hier weiß inzwischen jedes Kind, dass Tom verschwunden ist. Ich hätte das sofort erfahren. Sofort.«
»Ich weiß, Herr Brunken, aber das ist wirklich die einzige Chance, die ich noch sehe. Wir brauchen konkrete Anhaltspunkte.«
»Sie wissen doch selbst, dass der Hafen weit entfernt ist von den Warften. Wer soll da …« Er brach ab. »Okay, ich mach’s. Vielleicht habe ich ja doch noch eine Idee.«
Lena blieb stehen. Brunken mit in die Ermittlungen einzubeziehen war nicht ohne Risiko, aber letztlich war das ihre einzige Chance. Außerdem würden die Halligleute Enno Brunken vertrauen. Sie verabschiedete sich von Brunken, der versprach, sich sofort zu melden, falls er einen Augenzeugen finden würde.
Lena kehrte um und kam gerade rechtzeitig, um die letzten Worte von Ole Kottens Gespräch mitzubekommen. Da er dänisch gesprochen hatte, vermutete sie, dass die Kollegen aus Esbjerg sich gemeldet hatten.
»Die Jacht ist tatsächlich vor drei Stunden dort eingelaufen, aber inzwischen schon wieder weg. Der dänische Kollege hat erfahren, dass der Eigner, also vermutlich Alexander von Brockdorf, aufgetankt und unter Umständen auch Proviant an Bord genommen hat.«
Lena stöhnte. »Ist er weiter die dänische Küste hoch oder zurück nach Sylt? Was ist das für eine komische Tour? Der ist doch niemals gesegelt, sondern tuckert einmal so über die Nordsee.«
»Was nicht gegen das Gesetz verstößt«, fügte Johann trocken hinzu.
»Verdammt!« Lena stieß mit dem Fuß gegen die Tür. »Sind wir komplett auf der falschen Fährte?« Sie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor eins. Wenn sich nicht bald etwas ergeben würde, würden sie nichts mehr ausrichten können.
»Pizza?«, schlug Johann vor. Als Lena und Ole Kotten nickten, nahm er ihre Wünsche auf und verließ das Büro.
»Sollte nicht jemand von uns nach Hooge fahren und dort noch einmal nach Zeugen suchen?«, fragte Ole Kotten.
»Ich habe vorhin mit Enno Brunken gesprochen und ihn gebeten, sich noch mal umzuhören. Ich weiß, du hast schon am Dienstag nach Zeugen gesucht, aber ich dachte …« Sie brach ab.
Ole Kotten zog die Augenbrauen hoch. »Brunken? Du weißt schon …«
»Ja!«, fiel Lena ihm ins Wort. »Mir ist klar, dass das nicht gerade der sauberste Weg ist. Ich nehme das auf meine Kappe.«
»Darum geht es doch nicht, Lena. Wir sind hier ein Team und sollten so etwas zusammen besprechen.«
»Die Zeit …«, begann Lena, brach aber gleich wieder ab. Ole Kotten hatte natürlich recht. »Tut mir leid. Ich spreche mit Johann.«
»Okay, Schwamm drüber. Ich versuche jetzt, die beiden letzten Häfen zu erreichen. Der Vollständigkeit halber.«