Es passierte am laufenden Band und traf fast jede zweite Ehe. Und es scherte sich niemand darum. Bilde sich keiner ein, dass ein blutendes Herz irgendjemanden interessierte. Bestenfalls ein mitleidiges Lächeln konnte man von dem einen oder anderen erwarten, was so viel sagte wie: Willkommen im Club.
Paul Flemming versuchte es so abgeklärt wie möglich zu sehen, doch das wollte ihm nicht gelingen, denn die Trennung von seiner Frau Katinka – mochte sie auch nur vorrübergehend sein – ging ihm an die Nieren.
Die Wörter des Briefes, den sie ihm geschrieben und mit denen sie ihre »Auszeit« eingeläutet hatte, hatten sich ihm eingeprägt wie ein ungeliebtes Gedicht, dessen Verse ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten:
»Ich habe auf jede mögliche Art und Weise versucht dir beizubringen, dass es irgendwann geschehen würde, wenn sich nichts ändert. Dass eine Partnerschaft nur dann bestehen kann, wenn man auch partnerschaftlich agiert und gegenseitige Rücksicht nimmt, anstatt sich immer bloß selbst zu verwirklichen. Aber entweder warst du zu dumm, um es zu begreifen, oder es war dir ganz einfach egal. Da ich deine Intelligenz nie in Zweifel gezogen habe, ist ja wohl nur ein Schluss zu ziehen. Fazit jedenfalls: Das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Ich fände es unaufrichtig, sich weiterhin das Gegenteil vorzumachen.«
Mit dieser unmissverständlichen Botschaft, fein säuberlich aufgeschrieben mit dem teuren Montblanc-Stift, den Paul ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, hatte Katinka ihn in die Wüste geschickt: vorläufig ausgeschlossen aus den gemeinsamen vier Wänden an der Kleinweidenmühle, die – der Gütertrennung sei Dank – in Wahrheit einzig und allein Katinka gehörten. Paul durfte sich in sein Fotoatelier am Weinmarkt trollen. Sein Refugium, in dem er seit dem Rausschmiss in der vergangenen Woche mit seinem persönlichen Schicksal und dem Leben allgemein haderte.
Seitdem hatte es Ratschläge en masse geregnet, von echten und von sogenannten Freunden. Keine dieser Belanglosigkeiten hatte Paul weiterhelfen können, denn die wenigsten interessierte es eben wirklich, wie es ihm ging. Den Vogel hatte Victor Blohfeld abgeschossen. Der Reporter wollte Paul trösten, indem er behauptete, Paul sei für Frau Oberstaatsanwältin Katinka Blohm ohnehin nur eine Verlegenheitslösung gewesen. Sie habe ihn sich geangelt, damit sie nicht länger als alleinerziehende Mutter dastehen müsse. Das Beziehungsaus sei für Blohfeld daher schon lange abzusehen gewesen.
»Wissen Sie, Flemming«, hatte Blohfeld gesagt, »bei ihren Liebhabern mögen Frauen wählerisch sein, aber heiraten tun sie ab einem gewissen Alter jeden.« Und dann gab es als Trostpflaster noch einen Tipp des Fachmanns obendrauf: »Wer auch immer sagt, Liebe könne man nicht kaufen, hat nicht genug Geld. Gehen Sie ins Bordell, Flemming. Dort bekommen Sie, was Sie brauchen, und haben anschließend keinen Stress.«
Nun gut. Von Blohfeld konnte Paul nichts anderes erwarten. Er war, wie er war. Als große Enttäuschung hatte sich aber leider auch Jasmin Stahl erwiesen, mit der Paul sich dank jahrelanger Freundschaft stark verbunden fühlte. Statt ihm Trost zu spenden und Geborgenheit zu bieten, wimmelte sie ihn mit Plattitüden ab – wohl weil sie ihrem neuen Freund, dem Stararchitekten, keinen Grund zur Eifersucht bieten wollte. Eine ganz schwache Nummer, wie Paul fand.
So auch heute Morgen: Eigentlich hatten sie sich zu einem gemeinsamen Frühstück beim Bäcker am Weißen Turm verabredet, von wo aus es Jasmin anschließend nicht weit bis zu ihrem Büro im Polizeipräsidium gehabt hätte. Paul war dafür extra früh aufgestanden. Doch gerade als er losgehen wollte, erreichte ihn die Absage. Ihr war schon wieder etwas dazwischengekommen. Angeblich ein neuer Fall. Jasmin hatte etwas von einem Toten auf einem Fahrgastschiff angedeutet, aber so langsam mochte Paul nicht mehr daran glauben, dass sie sich wirklich mit ihm treffen wollte. »Der Tote ist nach unserem Frühstück immer noch tot«, hatte er sie umzustimmen versucht. Vergebens.
Letztendlich landete Paul bei Hannes Fink. Der Pfarrer von St. Sebald, ein guter Freund seit über einem Jahrzehnt, griff seine Sorgen auf. Und er nahm sich Zeit, um mit Paul eine Lösung für seine Probleme zu finden: Im rustikalen Esszimmer des Pfarrhauses saßen sie bei Eiern mit Speck und starkem schwarzen Kaffee beisammen und suchten nach Gründen für Pauls Ehekrise.
»Also, noch einmal von Anfang an«, sagte der Geistliche mit gemütlicher Brummstimme. »Womit genau hast du deine Frau so sehr verärgert, dass sie dir den Koffer vor die Tür gestellt hat?«
»Eigentlich geht es in erster Linie gar nicht um Katinka und mich.«
Fink hob die linke Braue. »Sondern?«
»Um ihre Tochter! Ich habe Hannahs Liebhaber vergrault, woraufhin sie nach Südamerika durchgebrannt ist, was mir ihre Mutter zutiefst verübelt. Und zwar so sehr, dass sie all das, was uns verbindet, in Zweifel stellt und sich von mir zurückzieht«, fasste Paul zusammen, was er für den Auslöser der Misere hielt.
Fink hinterfragte das nicht, merkte jedoch an, dass dies wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs sei und der wahre Kern der Probleme tiefer liege. »Denk an den Brief, den Katinka dir geschrieben hat«, erinnerte er Paul. »Darin ist nicht die Rede von Hannah, sondern nur von dir.« Er riet Paul, an sich zu arbeiten, um offener zu werden für das, was für eine gesunde Beziehung wichtig sei. »Und deshalb empfehle ich dir, den Rauswurf aus eurer gemeinsamen Wohnung als Chance zu begreifen«, schloss Fink und wischte sich mit der Handkante einige Krümel Eigelb vom Schnauzbart. »Nutze die Auszeit, um zu dir selbst zu finden. Wenn du mit dir im Reinen bist, wirst du offener für das sein, was andere von dir erwarten, insbesondere deine Frau.«
Paul neigte den Kopf und sah den Geistlichen zweifelnd an. »Ich soll zu mir selbst finden? Und wie, bitte sehr, soll ich das deiner Meinung nach anstellen?«
»Weißt du Paul, es gibt etliche verborgene Wurzeln, die erst dann ausschlagen, wenn die Menschen in die mittleren Jahre kommen.«
»Wurzeln? Kannst du mir bitte etwas weniger bildlich erklären, was deiner Meinung nach mein Problem ist?«
»Es besteht jedenfalls kein Grund zur Panik, Paul. Das, was du derzeit durchmachst, ist ganz normal. Es entspricht der Maslowschen Bedürfnispyramide, dass man sich eines Tages auf die Sinnsuche begibt. Diese Entwicklung wird meist erst durch eine Krise angestoßen.«
»Die Krise ist definitiv da. Mit der Sinnsuche tue ich mich allerdings schwer. So ganz ohne Anleitung …«
Fink nickte ihm aufmunternd zu. »Du möchtest wissen, wie du zu dir selbst findest? Dann habe ich einen Vorschlag für dich.«
»Ich bin gespannt. Lass mal hören.«
»Geh ins Kloster!«
Paul musste unwillkürlich lachen. Dass Hannes Fink selbst bei einem so existenziellen Thema nicht seinen Sinn für Humor verlor, gefiel ihm. Denn es war ja wohl ein Scherz, dass der Pfarrer ihn in ein Kloster schicken wollte. – Oder?
»Das meine ich durchaus ernst«, sagte Fink, ohne eine Miene zu verziehen. »Im Kloster geht es um Ruhe, um Besinnung und Inspirationen. Um Selbsterkenntnis und eine neue Einstellung zum Leben.«
Pauls Kinnlade klappte nach unten, und er brauchte eine Weile, bis er auf Finks überraschende Idee eingehen konnte: »Sind Klöster nicht katholisch?«, fragte Paul in der Absicht, den Vorschlag als für einen Lutheraner abwegig ausschlagen zu können. »Nehmen die denn überhaupt einen Protestanten wie mich? Wohl nicht, oder?«
»Es gibt auch evangelische Klöster. Trotz Luther«, entgegnete Fink mit einem Augenzwinkern. »Du liegst zwar insofern richtig, als Luther – der bis 1517 ja selbst katholischer Mönch gewesen war – die Institution Kloster abschaffen wollte und in den protestantischen Landesteilen bereitwillige Helfer in Person der Landesfürsten fand. Die haben die reichen Klöster enteignet und als Wirtschaftsbetriebe weitergeführt. Aber etliche blieben eben doch erhalten. Im Übrigen würden dich auch die katholischen Klöster aufnehmen. Davon abgesehen macht es heutzutage kaum noch einen Unterschied, denn die Ökumene ist weit fortgeschritten: Evangelische und katholische Bischöfe pilgern mittlerweile ja sogar zusammen ins Heilige Land.«
Paul merkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, als er einsah, dass ihn der Pfarrer nicht so einfach davonkommen lassen würde: »Was erwartet mich denn dort? Ein Leben wie ein Mönch?«
»Ein Leben ähnlich dem der Mönche«, antwortete Fink vollkommen offen. »Das Ganze hat etwas mit Reduzierung und Entschleunigung zu tun, mit dem Besinnen auf das Wesentliche.« Manchmal seien allein schon die kargen Zimmer Reduktion, die einem beim Loslassen helfen, erläuterte Fink. Im Übrigen werde jedem Gast mit viel Geduld begegnet und es gebe so viel Hilfestellung, wie man brauche. Letztendlich komme es aber darauf an, was man selbst daraus mache. »Wenn du zum Beispiel vier Romane mitnimmst und dort durchliest, kommst du zwar zur Ruhe, fliehst jedoch trotzdem aus der Stille. Denn du lenkst dich ab von der Besinnung.«
»Verstehe«, sagte Paul und kaute nachdenklich auf seinen Lippen. Ob das wirklich etwas für ihn wäre? Er wusste nicht recht, wie er zu der Idee stehen sollte.
Fink schien seine Zweifel zu spüren, denn er sagte: »Die Entscheidung, aus dem Klosteraufenthalt etwas mitzunehmen, kann nur aus dem eigenen Willen heraus entstehen. Entweder man lässt sich darauf ein oder eben nicht. Es liegt bei jedem selbst.«
Paul wusste, dass es der Pfarrer gut mit ihm meinte, doch konnte sich Paul als Kirchenmuffel nur schwer mit dem Gedanken anfreunden. »Gesetzt den Fall, ich würde mich wirklich zu einem Klosteraufenthalt hinreißen lassen: Müsste ich dann etwa auch an deren Gottesdiensten teilnehmen?«, wollte er wissen.
»Nein, es ist meist freiwillig, die Gebetszeiten wahrzunehmen. Wobei diese den Tag strukturieren und begleiten und viele Impulse geben können. Du darfst dir das nicht als brottrockene Angelegenheit vorstellen: Es wird gesungen, und es hat nicht viel mit den herkömmlichen Gottesdiensten, die du aus deiner Konfirmationszeit kennst, zu tun. Glaub mir: Sich eine Zeit darauf einzulassen, öffnet Herz und Seele für Neues.«
Paul ließ diese Auskünfte auf sich wirken und dachte, dass ihm diese gänzlich neuen Erfahrungen vielleicht wirklich guttun könnten. Nun wollte er es genauer wissen: »Welche Rechte und Pflichten habe ich während meines Aufenthalts im Kloster?«
»Das kommt darauf an, welche Form und welche Zeit du wählst. Mitarbeiten in der Gemeinschaft gehört dort immer dazu. Das fordert den Geist und bringt dich auf andere Gedanken.«
»Mmmm.« Paul sah in die großen, dunklen Augen seines Gegenübers. »Du meinst also, dass ich in meiner Lage von einem Klosteraufenthalt profitieren würde?«
»Ich bin fest davon überzeugt! Es hilft dir, die Antworten auf deine Fragen zu finden. Denn diese kannst nur du allein für dich beantworten: Wer bin ich? Was treibt mich bewusst und unbewusst an? Bin ich frei in meinen Entscheidungen? Was beeinflusst mein Verhalten und meine Entscheidungen?« Fink blickte ihn intensiv an. »Du musst Verantwortung für dich und dein Leben übernehmen, Paul. Wenn dir das gelingt, hast du auch die Kraft und Überzeugung, deine Ehe zu retten. Verantwortung kann man im Kloster üben. Man lernt achtsam mit sich und seinem Leben umzugehen und damit auch in seinen Beziehungen mit seinen Mitmenschen.«
So abwegig wie Paul den Gedanken an einen Aufenthalt im Kloster am Beginn ihrer Unterhaltung empfunden hatte, so sehr freundete er sich nun mehr und mehr mit dieser Möglichkeit an. Er erkundigte sich danach, wo es denn Klöster gebe, die bereit seien, Leute wie ihn kurzfristig aufzunehmen. Denn auf die lange Bank schieben wollte er sein Vorhaben nicht. Und zu weit weg sollte es auch nicht sein.
Fink machte ihm mehrere Vorschläge für Adressen in Franken, genauer gesagt in Unterfranken: der Benediktushof, ein Zentrum für Meditation und Achtsamkeit, sei überkonfessionell, unabhängig von Kultur und Religion und dadurch offen für alle. Ein perfekter Ort, um eine Auszeit zu nehmen, zu sich selbst zu kommen und sich auf Wesentliches zu besinnen, meinte Fink. Dabei kämen Zen und Kontemplation zur Anwendung. Eine wichtige Rolle spiele auch Yoga.
»Yoga? Ach nein. Ich möchte mich nicht zu sehr verbiegen«, meinte Paul, woraufhin der Pfarrer mit der nächsten Empfehlung aufwartete.
Schwanberg sei zwar eigentlich ein Kloster für Frauen innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Kirche, nehme aber auch männliche Gäste auf Zeit auf. Diese Ordensgemeinschaft lebe im Geiste der Regeln des heiligen Benedikt.
»Ein Frauenkloster wäre kontraproduktiv, denn von Frauen will ich mich ja gerade erholen«, lehnte Paul ab.
Als Nächstes trug ihm Pfarrer Fink die Abtei Münsterschwarzach an. Dem Klostergast werde die Möglichkeit zu individuellen Seelsorgegesprächen und geistlicher Begleitung geboten.
»Das geht mir zu sehr ins Persönliche«, fand Paul.
Fink stöhnte, bevor er eine weitere Option aus dem Hut zauberte: »Das Jakobus-Kloster bei Würzburg ist genau das, was du suchst. Das Gästehaus steht für Einzelgäste offen, die einige Tage dabei sein möchten, ohne dass sie sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen müssen. Wenn sie mögen, können sie sich dem klösterlichen Tagesrhythmus anschließen und an den Gebetszeiten teilnehmen und werden aus der Klosterküche verpflegt.«
»Klosterküche? Klingt verlockend«, meinte Paul. »Gibst du mir die Adresse?«
»Mache ich gern. – Aber von der Küche versprich dir bitte nicht zu viel …«
Der Europakai am Rhein-Main-Donau-Kanal gegenüber dem Nürnberger Frachthafen war die Adresse, zu der Oberkommissarin Jasmin Stahl beordert wurde.
Der Anruf, mit dem sie unerwartet zur Leiterin einer Sonderkommission berufen worden war, hatte sie beim frühmorgendlichen Joggen durch den Pegnitzgrund erreicht. Kurz vor ihrem Frühstück, zu dem sie sich eigentlich mit ihrem alten Freund Paul Flemming verabredet hatte und das sie leider platzen lassen musste. Es war ein Auftrag, den sie mit gemischten Gefühlen annahm. Denn wie es hieß, würde sie es mit dem Mord an einem Amerikaner zu tun bekommen. Da waren Ärger und Kompetenzgerangel mit der US-Botschaft vorprogrammiert. Aber was sollte sie machen? Es war nun mal ihr Job.
Jasmin fuhr mit ihrem Wagen eine Rampe direkt bis zur Hafenanlage herab, einem Ort, an den es sie nur selten verschlug. Während im Hintergrund Verladekräne, Lagerhallen und Silos für hanseatisches Flair inmitten der Frankenmetropole sorgten, waren diesseits des Kanalufers mehrere elegante Personenschiffe vertäut. Ein jedes war gut und gern hundert Meter lang, mit schneeweißem Rumpf und mehrstöckigen Aufbauten. Kreuzfahrtschiffe im Westentaschenformat, aber nicht minder komfortabel als ihre riesigen Schwestern auf den Meeren.
Als Jasmin aus ihrem Auto gestiegen war und die Parade der Luxuskähne abschritt, staunte sie über die großzügig bemessenen Balkone der Außenkabinen, über Panoramascheiben und chromglänzende Handläufe. Sie hatte sich nie mit dem Thema Flusskreuzfahrt beschäftigt und war umso überraschter, wie edel die Boote ausgestattet waren.
Ihr Ziel war die MS Walküre, ein besonders elegant wirkender Kanalkreuzer. Über eine Gangway gelangte sie an Bord und in eine Art Foyer, wie sie es von vornehmen Hotels kannte. Auch hier viel Chrom, dazu Tropenholzvertäfelungen und üppige Blumendeko. Der hochgewachsenen Dame am Empfang, einer feingliedrigen Blondine mit meerblauen Augen, war nicht im Geringsten anzumerken, dass sich auf dem Schiff ein Verbrechen ereignet hatte. Ebenso wenig wie einem Mann in Uniform, der Jasmin mit einstudiertem Höflichkeitslächeln entgegentrat. Bei dem graumelierten Herrn im tadellos sitzenden dunklen Anzug handelte es sich um den Hotelmanager, wie ihr ein bereitstehender Schutzpolizist mitteilte.
»Willkommen an Bord«, sagte der Manager mit starkem amerikanischem Akzent und stellte sich mit dem Namen Mike Collins vor. »Ich begleite Sie gern zur Kabine von Mr Dexter.«
Wie Jasmin schnell feststellte, sprach offenbar nur ein Teil der Besatzung Deutsch, weshalb auch sie ins Englische wechselte, was ihr nicht schwerfiel. Auf dem Weg durch hell erleuchtete Flure, über plüschige Teppiche und vorbei an teuer aussehenden Kunstobjekten konnte sie dank Collins’ Auskunftsfreude einige Wissenslücken schließen, mit denen sie den neuen Auftrag angetreten hatte.
Denn bisher wusste sie nicht viel mehr, als dass ein Herr namens Bryan Dexter mit tödlichen Schussverletzungen in seiner Kajüte gelegen hatte, dass es die Frau des Toten gewesen war, die ihn aufgefunden und um Hilfe gerufen hatte, und dass ein mitreisender Arzt gegen zwei Uhr früh den Tod festgestellt hatte. Da sich die MS Walküre zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor Nürnberg befand, hatte der Kapitän entschieden, die hiesige Polizei zu verständigen und wie geplant den Nürnberger Hafen anzulaufen. Nun war Jasmin gespannt darauf, was sie vorfinden und in welchem Zustand sich der Tatort befinden würde. Da sie davon ausgehen musste, dass sich neben der Witwe und dem Arzt wahrscheinlich auch andere Helfer, Neugierige und sicher auch der Kapitän oder seine Offiziere in dem Raum aufgehalten hatten, musste sie mit einer diffusen Spurenlage rechnen.
»Können Sie mich bitte kurz ins Bild setzen«, bat Jasmin ihren Begleiter, während sie durch ein gläsernes Treppenhaus in die nächsthöhere Etage gingen. »Ich kenne mich nicht besonders gut aus in Sachen Flusskreuzfahrten. Daher wären ein paar grundlegende Informationen von Vorteil.«
»Selbstverständlich, was möchten Sie wissen?«, erkundigte sich ihr Gegenüber mit höflicher Zuvorkommenheit.
»Wie groß ist Ihr Schiff, wie viele Personen befinden sich an Bord?«
»Die MS Walküre ist einhundertfünfunddreißig Meter lang und vierzehn Meter breit.« Skizzenhaft beschrieb der Manager den Aufbau des Schiffes, angefangen beim Empfang mit Rezeption, Concierge, Shop und dem zentralen Treppenhaus. Es gab einen Businessbereich mit kompletter Büroausstattung und eine Lounge mit Entertainmentareal und Bar. Er zählte zudem Speisesaal, Bibliothek, überdachte Veranda und Sonnendeck auf und erklärte anschließend die Klasseneinteilung der Kabinen: Die günstigste Kategorie Lower Level Room verfügte über Doppelbett und Bad und befand sich knapp über der Wasseroberfläche. Die Upper Level Rooms lagen höher und hatten einen zusätzlichen Wohnraum und Balkon. In dieser Kategorie war auch der Tote untergebracht gewesen, erläuterte der Manager und ergänzte: »Derzeit befördern wir zweihundertzwei Passagiere. Hinzu kommt das Personal.«
»Wer gehört alles dazu?«, wollte Jasmin wissen.
»Grundsätzlich ist der Erste Kapitän in der Hierarchie der Endverantwortliche bei einem Ereignis wie diesem. Innerhalb unserer Reederei ist der Erste Kapitän derjenige, der in einem Notfall die alleinige Befehlsgewalt ausübt. Selbstverständlich wird er dabei von der ganzen Besatzung unterstützt, wobei die bestehende Rangfolge an Bord zum Tragen kommt.«
»Was kann ich mir darunter vorstellen?«
»Das bedeutet, dass mir als Hotelmanager die Hotelbesatzung untersteht, dem Küchenchef sein Küchenteam, dem Barmanager die Barbelegung und dem Housekeeper die Housekeeping-Besatzung. Das alles, wie erwähnt, im Auftrag und beobachtet vom Ersten Kapitän.«
»Eine Menge Menschen«, stellte Jasmin fest und ahnte, dass sie es mit einer Vielzahl von Befragungen zu tun bekommen würde. »Der Arzt, der den Toten untersucht hat, gehörte aber nicht zur Besatzung, richtig?«
»Nein, leider verfügen wir über keinen eigenen Schiffsarzt. Jedoch muss jedes Schiff laut Gesetz mindestens zwei diplomierte Ersthelfer an Bord haben, wir haben sogar drei. Im medizinischen Bedarfsfall wird in der Regel Ersthilfe geleistet und der nächstgelegene Notdienst informiert, woraufhin das Schiff anlegt und ein Notarzt an Bord kommt. In diesem Fall aber war offensichtlich, dass es dafür zu spät war. Daher entschied unser Kapitän, zunächst einen Gast zurate zu ziehen, der in der Passagierliste als Arzt gekennzeichnet ist. Da sich das Schiff noch in Fahrt befand, hat währenddessen der Steuermann das Kommando auf der Brücke übernommen, während der Zweite Kapitän die örtlichen Sicherheitsdienste informierte und unsere Ankunft im Nürnberger Hafen anmeldete.«
Das klang alles überaus professionell, fand Jasmin. Sie wusste bloß nicht, ob diese sorgsam abgestimmten Abläufe ihr bei ihrer Arbeit helfen würden.
Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel. Neben der Tür mit der Kabinennummer 2.12 war ein Polizist postiert. Jasmin zeigte ihm ihren Dienstausweis, woraufhin er den Weg freimachte. Als sie das Innere des Raums erblickte, war sie überrascht von dessen schierer Größe. Eine Schiffskajüte hatte sie sich deutlich überschaubarer vorgestellt: als kleine Kammer mit Bullauge. Diese hier erinnerte eher an eine vornehme Suite inklusive Sitzecke, Spiegelbar und bodentiefen Fenstern mit Aussicht auf den zimmereigenen Balkon.
Doch sie war nicht gekommen, um die Kabine zu bestaunen. Ihre Aufmerksamkeit musste der Tatorterkundung gelten: Das Opfer, ein korpulenter Mann mit speckigem Gesicht und grauem Haarkranz, lag ausgestreckt auf einem Kingsize-Bett. Er wirkte entspannt, und wäre die Wunde auf seiner Brust nicht gewesen, hätte man meinen können, er schliefe.
Jasmin machte diese ersten Beobachtungen aus einer gewissen Entfernung: Sie blieb im Türrahmen stehen, denn im Zimmer hatten sich bereits die Kollegen der Spurensicherung eingerichtet. In ihren weißen Mondanzügen mit Kapuze und Mundschutz sahen sie alle gleich aus, bis auf einen, der wegen seines hünenhaften Körperbaus herausragte.
»Dr. Todt!«, sprach Jasmin den Forensiker an. »Schön, Sie mal wieder zu treffen.«
Todt war Rechtsmediziner der alten Schule, mit dem Jasmin ausgesprochen gern zusammenarbeitete. Denn im Unterschied zu manch jüngerem Kollegen legte er keinerlei Allüren an den Tag und zeigte sich offen für jede ihrer Fragen, seien sie aus der Sicht eines Arztes auch noch so naiv. Todt strahlte zudem eine Ruhe und Gelassenheit aus, die sich auf die Kollegen übertrug und die Tatortarbeit deutlich entspannte. Einzig verwunderlich fand Jasmin Todts Einstellung in Gesundheitsfragen – sich selbst betreffend: er war ja nicht nur groß, sondern ausgesprochen massig. Dass er noch dazu Kettenraucher war, förderte seine Kurzatmigkeit und hinterließ, ganz nebenbei, hässlich gelbe Verfärbungen an seinem grauen Oberlippenbart.
»Willkommen!«, begrüßte der Riese sie mit ausgeprägter Bassstimme. »Ist mir stets ein Vergnügen, Sie zu sehen, Frau Stahl – nur leider sind die Begleitumstände meistens weniger erbaulich.«
»Da haben Sie recht«, pflichtete Jasmin ihm mit Blick auf die Leiche bei. »Können Sie mir etwas über den Tathergang berichten?«
»Habe ich gerade schon Ihrem jungen Kollegen.«
Junger Kollege? Dr. Todt musste Polizeikommissariatsanwärter Timo Schlelein meinen, einen Azubi, der ihrer Soko zugeteilt worden war, folgerte Jasmin. Da sich der junge Mann nicht im Raum aufhielt, fragte sie: »Wo ist Schlelein jetzt?«
»Bei der Witwe«, antwortete Todt. »Er sagte, dass er sie vernehmen will.«
Jasmin ärgerte sich und wäre Schlelein gern zuvorgekommen, denn die Erfahrung hatte gezeigt, dass es sich bei den meisten Tötungsdelikten um Beziehungstaten handelte und somit die Ehefrau des Verstorbenen als Tatverdächtige Nummer eins angesehen werden musste. Aber Schlelein war noch zu grün hinter den Ohren, um diese Erkenntnis zu nutzen und ein Geständnis zu erwirken. Jasmin befürchtete, dass der Jungsporn Jasmin ins Handwerk pfuschen und die Witwe durch unbedachte Fragen kopfscheu machen würde.
Daher hatte sie es eilig, selbst die Hinterbliebene aufzusuchen, um zu verhindern, was noch zu verhindern war. Von Hotelmanager Collins, der im Flur gewartet hatte, ließ sie sich zu einem Besprechungszimmer führen, in dem man Mrs Dexter vorerst untergebracht hatte. Jasmin atmete auf, als sie Schlelein vor der Tür des Konferenzraums vorfand. Der hochgewachsene Polizeianwärter mit athletischer Figur und vollem, heublonden Haar trug lässige Freizeitkleidung: Bluejeans und graues Sweatshirt. Als er sie aus großen, wasserblauen Augen ansah und lächelte, konnte sie ihm schon nicht mehr böse sein.
»Guten Morgen, Kollege«, grüßte sie ihn. »Ich hoffe, Sie haben nicht vorgegriffen und mit der Hinterbliebenen gesprochen.«
»Natürlich nicht«, sagte er mit vollkommen überzeugender Selbstverständlichkeit und zerstreute damit Jasmins Befürchtungen. »Ich passe bloß auf, dass sie bleibt, wo sie ist. Die Dame wollte nämlich von Bord. Sich die Beine vertreten, wie sie sagte. Aber der Kapitän hat es allen untersagt, das Schiff zu verlassen.«
Glück gehabt, dachte Jasmin und nahm sich vor, dem jungen Kerl etwas mehr Verantwortung zuzugestehen. Das musste sie auch. Denn ihre Soko bestand nur aus ihr selbst und Timo Schlelein. Später würden zwar voraussichtlich weitere Kollegen folgen, doch zunächst waren sie auf sich allein gestellt und konnten lediglich auf die Unterstützung einiger Beamter in Uniform zurückgreifen.
»Der Käpt’n hat also so eine Art Quarantäne verhängt, was uns sehr gelegen kommt. Haben Sie sonst etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte sie.
»Ja, ein Vertreter der Hafenbehörde hat mir ein paar aufschlussreiche Zahlen nennen können. Man hat den Nürnberger Hafen normalerweise ja gar nicht so auf dem Schirm. Ich wusste nicht, wie groß die Kaianlagen sind, bis ich hier war.«
»Was hat Ihnen der Hafenmensch denn sagen können?«, erkundigte sich Jasmin.
»Eine ganze Menge! Wussten Sie zum Beispiel, dass Nürnberg Jahr für Jahr von mehr Passagierkähnen angesteuert wird und sich daraus ein regelrechter Schub für den Fremdenverkehr entwickelt hat?«
»Nein«, gestand Jasmin freimütig ein. »Bis vor Kurzem wusste ich nicht einmal, dass Nürnberg einen Anleger für Personenschiffe hat. Ich dachte, es gebe nur den Frachthafen.«
»Eben nicht! Noch interessanter ist, dass es sich bei neunzig Prozent der Passagiere um gut begüterte US-Amerikaner handelt, die meisten im Rentenalter. Daher wird an Deck nur Englisch gesprochen.«
»Hat das auch der Mann von der Hafenbehörde gesagt?«, fragte Jasmin.
»Nein, eine Yogalehrerin, die Fitnesskurse an Bord anbietet«, antwortete Timo Schlelein. Daran, dass sich seine Wangen rosa färbten, las Jasmin ab, dass es sich um eine ziemlich attraktive Animateurin gehandelt hatte.
»Wie gehen wir vor?«, fragte Schlelein schnell, weil er sich wohl ertappt fühlte.
»Der Tote wurde von seiner Frau gefunden. Also vernehmen wir als Erstes die Witwe und fixieren ihre Aussage schriftlich«, spulte Jasmin das übliche Prozedere ab. »Diese legen wir dem Ermittlungsrichter vor, denn vielleicht reicht das schon als Grundlage für einen Haftbefehl.«
»Sie gehen von einer Beziehungstat aus?«
»Es ist das Nächstliegende. Stirbt ein Ehepartner eines gewaltsamen Todes, steckt in den allermeisten Fällen der Mann beziehungsweise die Frau dahinter.«
»Und wenn sie es nicht gewesen ist?«, gab Schlelein zu bedenken. »Immerhin gibt es Zeugen, die aussagen, dass sie sich bis kurz vor Entdeckung des Mordes in der Bar aufgehalten hatte.«
»Woher wissen Sie das? Haben Sie etwa doch schon mit den Befragungen begonnen, Timo?«
»Nein. Der Kapitän hat es mir gesagt.«
Jasmin hob die Brauen. »Ach ja?« Der junge Kollege schien mehr auf Zack zu sein, als sie angenommen hatte. Das gefiel ihr und spornte den eigenen Ehrgeiz an. »Wir stellen selbstverständlich die Personalien aller Passagiere und Besatzungsmitglieder fest. Das ist eine schöne Aufgabe für Sie: Setzen Sie sich mit der Reederei in Verbindung und lassen Sie sich die Listen mit sämtlichen Namen geben, damit Sie Person für Person abhaken können.« Sie zwinkerte ihm zu. »Bei der Gelegenheit können Sie auch einige technische Informationen einholen: etwa die Geschwindigkeit, mit der die MS Walküre auf dem Kanal unterwegs ist.«
»Wozu soll das gut sein?«
»Nun, wahrscheinlich ist die Hinterbliebene die Täterin, oder der Pistolenschütze ist unter den Passagieren beziehungsweise der Besatzung zu finden. Doch wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass der Mörder ebenso gut von außerhalb gekommen sein könnte. Zum Beispiel, indem er ein kleines Motorboot benutzte und nach der Tat wieder verschwand. Man sollte frühzeitig klären, ob dies eine reale Option ist oder wir den Schuldigen definitiv im Kreis derjenigen zu suchen haben, die sich an Bord befinden. Also: Auf ans Werk! Fangen Sie mit dem Check der Gästeliste an.«
Timo Schlelein machte große Augen. »Das kann dauern. Aber so viel Zeit haben wir nicht. Das Schiff läuft doch schon heute Abend wieder aus.«
»Keine Sorge, das wird nicht passieren«, sagte Jasmin mit dem abgeklärten Lächeln einer erfahrenen Kripofrau. »Die Staatsanwaltschaft wird die MS Walküre vorerst an die Kette legen. Trotzdem sollten Sie nicht trödeln, denn wirtschaftliche Interessen können der Polizeiarbeit durchaus in die Quere kommen. Wir werden einen zusätzlichen Tag zur Verfügung haben, allenfalls zwei.«
Nicht viel Zeit, wenn sich der Täterkreis nicht sehr bald einschränken ließe, dachte Jasmin und setzte daher große Hoffnung auf einen Erfolg der Erstbefragung von Dexters Witwe.
»Ich sage es doch: Alles bestens. Mach dir bitte keine Sorgen, Mami!«
Diese Worte, die als Beruhigung dienen sollten, verfehlten ihren Zweck. Katinka Blohm starrte noch immer auf den Bildschirm ihres PCs, obwohl die Skype-Verbindung zu ihrer Tochter schon seit fünf Minuten beendet war. Sie hatten heute ungewöhnlich lange miteinander gesprochen. An sich ein gutes Zeichen, fand Katinka. Denn für gewöhnlich hatte sich Hannah in den letzten Monaten extrem kurz gehalten und kaum den Kontakt zu ihrer Mutter gesucht. Was sie dort drüben in Südamerika trieb, darüber ließ Hannah sie weitgehend im Unklaren. Katinka wusste lediglich, dass sich Hannah mit verschiedenen Hilfsjobs durchschlug, weil ihre Ersparnisse von zu Hause natürlich längst aufgebraucht waren. Ebenso wusste sie, dass Hannah mehrfach die Wohnung gewechselt hatte. Bei ihren Facebook-Freunden, ihrer ersten Anlaufstelle, war sie schon nach kurzer Zeit wieder ausgezogen. Es folgten Aufenthalte in verschiedenen WGs. Aktuell teilte sie sich ein Zimmer mit einer israelischen Studentin.
Aber ob Hannah glücklich war, ob sich ihre Träume im Ausland erfüllten oder ob es gar einen neuen Mann in ihrem Leben gab – all diese Informationen enthielt sie Katinka vor. Besonders kurz angebunden war Hannah, wenn Katinka sich nach ihrer Rückkehr erkundigte. Denn dass sie nicht dauerhaft auf der anderen Seite des Atlantiks bleiben würde, schien für Katinka eine klare Sache zu sein. Schließlich war es Hannah bei ihrer überstürzten Flucht in die Ferne darum gegangen, dass die Wunden heilen, die die geplatzte Verlobung mit dem Mann ihres Herzens, Alexander, hinterlassen hatte. Der Heilungsprozess dürfte nach all den Monaten abgeschlossen sein, fand Katinka, der Rückkehr stand also nichts mehr im Weg.
Doch noch war Hannah offenkundig nicht so weit, sich Katinkas Meinung anzuschließen. Sie konnte oder wollte sich nicht dazu durchringen, ein Rückreisedatum zu nennen. Daher blieb Katinka nichts weiter übrig, als auf die Vernunft ihrer Tochter zu hoffen und darauf zu bauen, dass sie ihr Flugticket bald kaufen würde. Das wünschte sich Katinka nicht nur, um ihr Mutterherz zu beruhigen, sondern es gab auch handfeste monetäre Gründe: Noch konnte Hannah ihren alten Job im Kulturamt der Stadt Nürnberg wiederhaben, da ihr Auslandsaufenthalt als Sabbatjahr eingestuft wurde. Das Sabbatical wurde vom Arbeitgeber wie ein Jahr mit Teilzeitarbeit oder eine komplette Auszeit vom Arbeitsleben betrachtet, also als eine längere Pause mit Rückkehrmöglichkeit. Katinka vertraute auf das Verantwortungsbewusstsein ihrer Tochter und ging davon aus, dass sie die Frist dafür nicht verstreichen lassen würde und bald zurückkäme.
Bis es so weit war, musste Katinka jedoch für Ablenkung für sich selbst sorgen. Denn sie konnte es nicht ertragen, sich in Selbstmitleid zu suhlen und abwechselnd ihrer Tochter und ihrem vor die Tür gesetzten Mann nachzutrauern. Sie vermisste beide schrecklich! Hannah ebenso wie Paul.
Die gewünschte Abwechslung kam in Form einer Leiche: Die Kripo ermittelte am Personenhafen, und wie es aussah, war dies ein Fall für sie als Oberstaatsanwältin, denn bei dem Toten handelte es sich um einen US-Amerikaner. Eine heikle Angelegenheit, die höchstes diplomatisches Geschick erforderte.
Katinka krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und spornte sich an: »An die Arbeit!«
Jasmin sammelte sich, klopfte dann an und öffnete die Tür des Konferenzzimmers. Dort fand sie eine Frau vor, deren erster Eindruck ihr nicht gerade in die Hände spielte. Zwar war sie ausgesprochen hübsch, schlank und mandeläugig und hatte nussbraunes Haar, das ihr fast bis zu den Hüften reichte. Auch war sie deutlich jünger als ihr verstorbener Mann, gewiss dreißig Jahre oder mehr. Beides mögliche Hinweise auf ein Tatmotiv: Mord aus Habgier und Überdruss – sie hatte es auf das Erbe ihres Gatten abgesehen, der ihr lästig gefallen war. Doch etwas Entscheidendes störte dieses klare Täterprofil: es war die Körpersprache dieser Frau, ihre Gestik und Mimik. Dexters Witwe wirkte wie am Boden zerstört. Ihr Gesicht war verheult, ihr Rücken gebeugt. Als wäre sie in sich zusammengefallen. So viel stand für Jasmin schon nach den ersten Sekunden fest: Diese Frau war entweder eine hervorragende Schauspielerin oder ihre Trauer war echt.
Jasmin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich der Witwe gegenüber. Diese trug ein schwarzes Abendkleid und mit Edelsteinen besetzten Silberschmuck. Wahrscheinlich noch das Outfit der vergangenen Nacht, nahm Jasmin an. Die Schminke in ihrem zart geschnittenen Gesicht war verlaufen. Ihre lackschwarzen High Heels hatte sie abgestreift und neben sich auf den Boden gestellt.
Jasmin legitimierte sich auf Englisch als Kommissarin und kündigte an, einige drängende Fragen an sie richten zu müssen. Ob sie sie vorher in die Waschräume begleiten solle, damit sie sich frisch machen könnte? Die Witwe schüttelte den Kopf.
»Nein, es geht schon«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Stellen Sie Ihre Fragen.«
Jasmin nahm zunächst die Personalien auf und erfuhr auf diese Weise das exakte Alter von Bethany Dexter, geboren als Bethany Lewis am 25. März 1986 in Tucson, Arizona.
»Wir haben uns auf einer Messe in Memphis kennengelernt. Eine Fachausstellung der Möbelbranche. Bryan stellte dort aus, ich war eine der Hostessen«, erklärte Bethany ungefragt. Wohl weil sie es gewohnt war, dass sich die Leute danach erkundigten. Des Weiteren berichtete die attraktive Witwe, dass sie seit drei Jahren mit Dexter verheiratet gewesen war. Drei glückliche Jahre, wie sie sagte.
»Erzählen Sie mir genau, was sich letzte Nacht zugetragen hat«, forderte Jasmin sie auf. »Sparen Sie nicht mit Details. Jede Einzelheit könnte wichtig sein.«
Bethany rieb sich die Augen, bevor sie sprach. »Es begann als ganz normaler Abend, entspannt und harmonisch wie schon die Zeit davor, seit wir in Budapest eingecheckt haben.«
»Sie haben die ganze Passage gebucht? Von Ungarn bis in die Niederlande?«, erkundigte sich Jasmin, die sich mit dem Fahrplan des Schiffes inzwischen vertraut gemacht hatte.
»Ja, wir wollten bis Amsterdam an Bord bleiben.«
»Ein langer Trip.«
Bethany zuckte die Achseln. »Die Firma läuft auch ohne uns. Wir haben Zeit fürs Reisen.« Sie schluckte und verbesserte sich: »Wir hatten Zeit …«
»Nun gut, fahren Sie bitte fort. Wie genau ist der gestrige Abend verlaufen? Lassen Sie bitte nichts aus.«
»Wie Sie meinen. Zunächst habe ich an einer Pilatesstunde teilgenommen. Das war um halb sieben.«
»Gemeinsam mit Ihrem Mann?«
»Nein, Bryan wollte sich ausruhen, denn er hatte sich beim Landgang in Regensburg etwas übernommen, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, möglichst keine Sehenswürdigkeit auszulassen. Er genoss die Abenddämmerung auf dem Balkon, ich nehme an, mit einem Gläschen Wein und einer Zigarre.«
»Und weiter?«
»Zurück in unserer Kabine habe ich geduscht und mich zurechtgemacht für das Dinner. Auch Bryan war wieder ausgeruht und munter. Er war bester Laune, als wir in den Speisesaal gingen.«
»Wie lange sind Sie dort geblieben?«
»Ich denke bis gegen zehn. Vielleicht war es auch schon etwas später. Wenn Sie es genau wissen wollen, müssen Sie sich an den Ersten Offizier wenden, der mit uns am Tisch saß.«
Jasmin nickte. »Das werden wir. Wie ging es nach dem Essen weiter?«
»Wir sind dann direkt rüber in die Bar. Dort bieten sie ein recht unterhaltsames Programm: fast jeden Tag ein anderer Künstler. Natürlich nicht zu vergleichen mit den Shows in Vegas, aber für eine Bootsfahrt wirklich hochwertig. Gestern gab es Songs von Elvis Presley.«
»Bis wann haben Sie sich in der Bar aufgehalten?«
»Gemeinsam etwa eineinhalb Stunden. Dann wurde Bryan müde. Das lag wohl auch am Alkohol. Ich habe nicht mitgezählt, aber er hat sich drei oder vier Gläser Wein einschenken lassen.«
»Zuzüglich dem, den er sich auf dem Balkon gegönnt hatte«, addierte Jasmin hinzu und erklärte sich damit das Fehlen jeglicher Kampfspuren am Tatort. Wahrscheinlich war Dexter gar nicht mehr fähig gewesen, sich seinem Mörder zu widersetzen.
»Als Bryan zu Bett ging, bin ich noch geblieben, weil ich mir das Finale der Elvis-Show ansehen wollte.«
»Ihr Mann zog sich also allein in Ihre Kabine zurück, während Sie in der Bar blieben. Mich interessiert, wann das gewesen ist. Können Sie mir da helfen?«
Über Bethanys makellose Stirn zogen sich feine Fältchen. »Es muss nach halb zwölf gewesen sein. Nachdem Bryan gegangen war, folgten nur noch drei Lieder. Die Musik hört um Mitternacht auf, danach herrscht Nachtruhe. Das nehmen sie hier sehr genau.«
Jasmin stutzte. »Aber wie mir berichtet wurde, haben Sie den Tod Ihres Mannes erst um halb zwei gemeldet«, hakte sie ein. »Was geschah in der Zwischenzeit?«
Bethany strich sich eine Strähne ihres Haars aus dem Gesicht. Ein Zeichen von Nervosität, mutmaßte Jasmin.
»Ich bin noch an der Bar sitzen geblieben«, erklärte Bethany und fügte etwas beschämt hinzu: »Es hat sich ein nettes Gespräch ergeben, wobei ich die Zeit aus den Augen verloren habe.«
Dieses nette Gespräch hatte sicherlich nicht mit einer anderen Frau, sondern mit einem Mann stattgefunden, unterstellte Jasmin stillschweigend und fragte: »Wird uns Ihr Gesprächspartner bestätigen können, dass Sie sich bis um halb zwei in der Bar aufhielten?«
Bethany mied ihren Blick und nickte verhuscht. »Ja. Und der Barkeeper auch.«
Jasmin registrierte diese Angabe und fuhr fort: »Nach dem Verlassen der Bar sind Sie unmittelbar zu Ihrer Kabine gegangen?«
»Ja, auf dem kürzesten Weg. Ich war hundemüde.«
»Sind Sie unterwegs jemandem begegnet?«
»Sie meinen, ob es Zeugen dafür gibt, dass ich von der Bar aus direkt auf mein Zimmer gegangen bin?«, entlarvte Bethany Jasmins Frage als Alibiprüfung. »Ich bin Mrs Rutherford über den Weg gelaufen. Die alte Dame ist seekrank und geistert nachts durch die Gänge. Ich bin sicher, dass sie es bezeugen wird.«
»Seekrank?«, wunderte sich Jasmin. »Auf einem Kabinenschiff?«
»Ich habe mich auch darüber gewundert, aber sie meint, dass die Bugwellen eines entgegenkommenden Schiffs ausreichen, um sie aus dem Schlaf zu reißen.«
Jasmin rekapitulierte, dass Bethany Dexters abendliche Tätigkeiten nahezu lückenlos von Zeugen bestätigt werden konnten. Um trotzdem den Mord an ihrem Mann zu begehen und ihn gleich darauf zu melden, hätte sie beinahe übermenschliche Geschwindigkeit an den Tag legen müssen. Dennoch: Mit sorgfältiger Vorbereitung, einem guten Plan und ausreichend Nervenstärke wäre es ihr möglich gewesen.
»Sie werden Verständnis dafür haben, dass wir einige Routineuntersuchungen vornehmen müssen«, startete Jasmin einen Testballon, um die Glaubwürdigkeit der Witwe zu überprüfen.
»Untersuchungen?«
»Wir werden Ihre Hände nach Schmauchspuren untersuchen. Das können wir Ihnen leider nicht ersparen«, sagte Jasmin und versuchte dabei so sachlich wie möglich zu klingen.
Bethany sah sie verwundert an. »Was soll ich mir darunter vorstellen?«
Jasmin legte ihr dar, dass sich beim Betätigen einer Handfeuerwaffe verräterische Spuren auf der Haut des Schützen nachweisen ließen. Bei einem Trommelrevolver deutlich mehr als bei einer Pistole, in jedem Fall aber genug, um eine belastbare Spur zu liefern.
»Denken Sie etwa, dass ich …« Bethany schnappte nach Luft. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in schneller Folge.
»Wir wollen jeden Zweifel ausschließen. Ich meine, das müsste auch in Ihrem Sinn sein. Oder täusche ich mich?«
»Aber ich habe mir in der Zwischenzeit die Hände gewaschen«, wandte Bethany ein.
Jasmin hob ihren linken Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln. »Das macht nichts. Die Untersuchungsmethoden sind heutzutage so weit fortgeschritten, dass selbst winzigste Partikel nachgewiesen werden könnten.«
»Und Sie meinen, das ist wirklich nötig?«
»Ja«, sagte Jasmin und beschied, die eingeschüchtert und verstört wirkende Hinterbliebene vorerst in Ruhe zu lassen. Sie wollte schon gehen, als Bethany unvermittelt sagte:
»Ich glaube, es war Raubmord.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Jasmin überrascht.
»Ich bin nicht sehr lange in unserer Kabine gewesen, nachdem ich Bryan tot aufgefunden habe. Aber natürlich habe ich mich umgesehen. Es hätte ja sein können, dass sich der Killer noch im Raum befindet.«
Jasmin nickte. »Und was ist Ihnen dabei aufgefallen?«
»Mein Collier war nicht mehr da. Ich hatte es aus dem Zimmersafe genommen, weil ich es eigentlich für den Abend anlegen wollte, mich dann aber umentschieden habe. Es hatte auf der Anrichte neben dem großen Spiegel gelegen und ist seitdem verschwunden. Auch Bryans Armbanduhr fehlt. Er deponierte seine Breitling immer auf dem Nachttisch, bevor er sich hinlegte. Aber dort habe ich sie nicht gesehen. Und am Armgelenk trug er sie auch nicht.«
»Sind Sie sicher?«, hakte Jasmin nach. »In der ganzen Aufregung hätten Sie beides leicht übersehen können.« Es machte sie argwöhnisch, dass Bethany in einer solchen Situation auf so eine Nebensächlichkeit geachtet haben konnte.
»Ja, ich bin sicher«, antwortete Bethany und wirkte dabei sehr überzeugend. »Es ist ein Dieb an Bord. Einer, der über Leichen geht!«
Nachwuchskommissar Schlelein hatte währenddessen ganze Arbeit geleistet. Als Jasmin ihn nach ihrem Gespräch mit Bethany traf, konnte er ihr nicht nur die vollständig abgearbeitete Passagierliste vorlegen, sondern auch mit den Aussagen etlicher Zeugen aufwarten. Sie alle bestätigten die Angaben der Witwe – und schmälerten die Chancen, den Fall bald mit der einfachsten Lösung abschließen zu können.
»Was bedeutet das für uns?«, fragte Jasmin, während sie mit Schlelein an der Reling lehnte und aufs plätschernde Wasser sah. Sie konnte sich die Antwort selbst geben: »Wir müssen unseren Mörder höchstwahrscheinlich woanders suchen.«
Timo Schlelein teilte ihr mit, dass inzwischen zwei weitere Soko-Mitglieder eingetroffen seien, die der Dezernatsleiter ihnen zugeteilt hatte, sodass die Befragung der Passagiere nun zügig voranschreite. Ob etwas dagegen spräche, die bereits vernommenen Fahrgäste an Land gehen zu lassen? Immerhin hätten sie für die Ausflüge bezahlt und wollten sich den Nürnberg-Trip nicht entgehen lassen. »Der Manager drängt darauf.«
»Meinetwegen«, entsprach Jasmin der Bitte, schränkte jedoch ein: »Aber nur nach sorgfältiger Untersuchung: Leibesvisitation.«
»Halten Sie das wirklich für nötig?«, fragte Schlelein.
Jasmin berichtete ihm von dem von Bethany Dexter geäußerten Verdacht, dass sie es möglicherweise mit einem Raubmörder zu tun hatten: »Er darf die Beute nicht von Bord schmuggeln!«
Schlelein sagte ihr das zu und erkundigte sich, ob diese Regel auch für das Personal gelte. »Die Küchenmannschaft will an Land, um neuen Proviant einzukaufen. Und dieser Alleinunterhalter, ein Elvis-Imitator, möchte ebenfalls gehen. Sein Engagement endet in Nürnberg, sagt er.«
»Okay«, willigte Jasmin ein. »Aber nicht vergessen: Ich möchte, dass jeder von ihnen streng gefilzt wird. Sie bürgen mir dafür.« Sie klopfte dem jungen Kollegen auf den Rücken. »Schauen wir, ob wir dem Täter auf die Schliche kommen.«
»Indem wir es ihm an der Nasenspitze ansehen?«, scherzte Schlelein.
»Hat es alles schon gegeben.«
»Dann lege ich mal los. Die ersten Ungeduldigen warten nämlich schon an der Gangway.«
Bethany Dexter war mit ihren Nerven am Ende. Nach dem Verhör mit der Kommissarin – ein rothaariges Biest mit bohrendem Blick – hatte man ihr endlich gestattet, sich etwas auszuruhen. Sie durfte eine Ersatzkabine beziehen, die kurzfristig für sie hergerichtet worden war. Da diese einer niedrigeren Kategorie entsprach, fehlte es in dem kleinen Raum am gewohnten Luxus. Aber immerhin gab es ein frisch bezogenes Bett und eine Duschkabine.
Bethany schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie doppelt. Dann blieb sie eine Weile an den Rahmen gelehnt stehen und schloss die Augen. Sofort hatte sie wieder die Bilder der Nacht vor sich: den Moment, als sie ihr Zimmer betreten und ihren Mann auf dem Rücken liegen gesehen hatte. In seiner Abendbekleidung und noch mit den Schuhen an den Füßen. Zunächst hatte sie angenommen, er hätte sich vom vielen Wein benebelt einfach auf die Matratze fallen lassen, um seinen Rausch auszuschlafen. Doch als sie nähertrat und den großen Blutfleck auf dem Hemd bemerkte, wusste sie, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Voller Entsetzen hatte sie das rot geränderte Loch in seiner Brust gesehen und zunächst keine Erklärung dafür gehabt, was vorgefallen war. Dass es sich um eine Schusswunde handelte, begriff sie erst später. Aber eines war ihr unverzüglich klar gewesen: Bryan war tot! Jeder Rettungsversuch kam hier zu spät.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie lange sie neben dem Bett gestanden und ihren leblosen Mann angestarrt hatte. Waren es nur Sekunden gewesen? Oder Minuten? Sie wusste lediglich, dass sie sich von dem Anblick losreißen musste, um klare Gedanken fassen zu können. Also wandte sie sich ab und sah sich im Zimmer um. Und dabei fiel es ihr auf: das Fehlen des Schmucks und der Uhr. Natürlich fragte sie sich sofort, ob Bryan überfallen worden war. Und ob es der Dieb gewesen war, der ihren Mann getötet hatte.
Als sie zurück in den Flur wollte, stolperte sie mehr, als dass sie lief – ihre Beine waren weich wie Pudding. Ob ihre Hilferufe laut waren oder leise, das vermochte sie auch nicht zu sagen. Sie wusste bloß noch, dass sie plötzlich von Menschen umringt war, die aus ihren Kabinen strömten und sich um sie scharten. Die meisten in Pyjama und Nachthemd. Wenig später folgten Leute vom Personal.
Noch immer stand Bethany an der Tür und hielt die Augen geschlossen. Dabei kamen ihr die Gedankengänge wieder in den Sinn, die sie bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt hatten, nachdem der Tatort abgeriegelt und sie in den Konferenzraum verbannt worden war. In der Ruhe und Abgeschiedenheit des Tagungszimmers hatte sie ihre eigene These vom Raubmörder bereits wieder in Zweifel gezogen. Zwar hatte sie die Kommissarin später auf diese Möglichkeit hingewiesen, mochte aber selbst kaum mehr daran glauben. Nein, dachte Bethany, das verschwundene Collier und die Uhr fungierten wohl nur als Ablenkung – und sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, von was der Täter ablenken wollte. Ihr wurde ganz schummrig bei der Vorstellung, dass das große Problem, vor dem Bryan und sie in der Heimat gestanden hatten, sie womöglich eingeholt hatte. Es hatte sie quer über den Atlantik hinweg verfolgt und zielsicher aufgespürt.
Als ihr der Gedanke daran durch den Kopf schoss, pochte Bethany plötzlich das Blut in den Schläfen und ihr wurde ganz heiß. Es verlangte ihr nach einer kalten Dusche. Sie wollte sich den Angstschweiß von der Haut spülen und mit ihm all die verstörenden Empfindungen, mit denen sie sich quälte.
Sie löste sich von der Tür, hob erst den rechten und danach den linken Fuß, um ihre Schuhe auszuziehen. Sie legte ihren Schmuck ab und öffnete den Reißverschluss ihres Abendkleides. Der seidenschwarze Stoff glitt wie ein luftiger Schleier an ihrem Körper hinab. Sie fing ihren eigenen Anblick in einem Wandspiegel auf und wunderte sich darüber, dass ihr Äußeres ganz anders wirkte, als sie sich innerlich fühlte. Was sie sah, war eine sehr attraktive junge Frau mit einem Körper, der dem Wunschbild der meisten Männer entsprach. Ihre schlanken Beine und den straffen Po hatte sie ihrer bewussten Ernährung und einem anspruchsvollen Fitnessprogramm zu verdanken, bei ihren Brüsten hatte ein renommierter Schönheitschirurg aus L. A. nachgeholfen.
Ihre weiblichen Reize wurden durch die Dessous, die sie trug, besonders betont. Es war Wäsche, die Bryan für sie ausgesucht hatte. Für ihren eigenen Geschmack fast zu gewagt, aber sie hatte sich mit seinen mitunter weitreichenden Wünschen arrangiert, denn ansonsten ließ er ihr ja freie Hand – vor allem auch, was ihre persönlichen Ausgaben anbelangte.
Bethany rollte ihre halterlosen Strümpfe hinunter, öffnete den Verschluss ihres scharlachroten Spitzen-BHs und zog dann ihren Slip aus. Gerade wollte sie sich ein Handtuch von einer Anrichte nehmen und sich unter die Dusche stellen, als ihr bewusst wurde, dass die Vorhänge am Fenster nur zur Hälfte zugezogen waren. Das war ihr vorher nicht aufgefallen, weil sie mit ihrem Kopf ganz woanders gewesen war. Doch nun hatte sie es bemerkt – und erstarrte vor Schreck!
Draußen auf der Kaimauer stand ein Mann und schaute in ihre Kabine. Selbst als er merkte, dass sie ihn entdeckt hatte, wandte er seinen Blick nicht ab. Bethany machte einen Satz nach vorn, bekam den Vorhang zu fassen und riss ihn zu. Dann blieb sie mit klopfendem Herzen stehen und rang um Atem. Von einem Spanner beobachtet zu werden, hatte ihr heute gerade noch gefehlt!
Doch war es wirklich ein Spanner, der sie so lüstern angeglotzt hatte? Irgendwie war ihr der Kerl bekannt vorgekommen.
Ja, dachte Bethany: Diesen Mann hatte sie schon einmal gesehen. Aber wo? War es einer der Passagiere? Oder jemand von der Besatzung? Jedenfalls war er anders gekleidet gewesen, als sie ihm zuletzt begegnet war, nicht in Cargohosen und Poloshirt wie heute, da war sie sich sicher. Wer mochte das nur sein? Die Frage ließ ihr keine Ruhe, und so überwand Bethany ihre Furcht und zog den Vorhang wieder ein kleines Stück auf.
Der Kai war jetzt menschenleer. Von ihrem heimlichen Beobachter fehlte jede Spur.
Das Ergebnis der Untersuchung derjenigen Personen, die das Schiff verlassen hatten, brachte nichts zutage. Jasmin stand unter Druck, da der Tag mittlerweile weit fortgeschritten war, sie aber noch nichts in der Hand hatte. Jeder, den sie von Bord gelassen hatten, war sauber gewesen. Vom Beutegut nicht die geringste Spur, geschweige denn von der Tatwaffe. Natürlich blieb es eine Option, dass Witwe Bethany Waffe und Schmuck selbst hatte verschwinden lassen, doch hegte Jasmin mehr und mehr Zweifel an ihrer Schuld. Sie stand also immer noch auf der Stelle – und die Möglichkeit, einen größeren Zeitpuffer für ihre Untersuchungen zu bekommen, zeichnete sich nicht ab: Trotz eiliger Anfrage bei der Staatsanwaltschaft fehlte bislang die Anordnung für eine unbefristete Sicherstellung des Schiffs. Doch nur durch eine solche Verfügung würde sich eine Weiterfahrt der MS Walküre verhindern lassen, und das wäre dringend geboten. Obwohl sie und ihre Kollegen mit Dutzenden Personen gesprochen hatten, konnte niemand sachdienliche Hinweise auf den oder die Täter geben.
Auch der Tatort selbst gab nicht viel her: Gefühlte tausend Leute hatten ihn mittlerweile betreten und ein Spurenbild hinterlassen, das so wenig konkrete Rückschlüsse zuließ wie das Lesen aus dem Kaffeesatz. Ebenso ergebnislos war die Kontrolle nach Schmauchspuren ausgefallen, der sich all diejenigen unterziehen mussten, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatten. Inklusive Bethany.
In ihrem Frust zog sich Jasmin aufs Hinterdeck zurück. Auf einer mit Teakholz ausgelegten halbrunden Veranda standen überdimensionierte Liegen, breit und flauschig wie Sofas. Eine jede war mit einem Designertischchen ausgestattet, das ausreichend Platz zum Abstellen von Cocktailgläsern und erlesenen Naschereien bot. Sorgsam gepflegte Pflanzen standen als nett anzusehende Dekoration Spalier. So ließ es sich aushalten, dachte Jasmin mit einem Anflug von Neid, denn eine Reise auf diesem Niveau hatte sie sich noch nie gegönnt. Um diese Zeit war auf dem Sonnendeck nichts mehr los, weil nach Aufhebung der Ausgangssperre die meisten Gäste auf Landgang zur Besichtigung von touristischen Highlights waren und erst gegen Abend wiederkommen würden. Jasmin konnte also in Ruhe telefonieren.
Sie nahm ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Paul Flemming, der sich über ihren Anruf allerdings nicht besonders zu freuen schien. Er war extrem kurz angebunden:
»Falls du unser Frühstück nachholen willst, vergiss es«, sagte er beleidigt, bevor er sie auch nur zu Wort kommen ließ. »Dafür ist es nun zu spät.«
»Das ist mir klar, und es tut mir echt leid, dass ich dich versetzen musste«, sagte Jasmin um gute Stimmung bemüht. »Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, wie ich es wiedergutmachen kann.« Sie berichtete ihm in groben Zügen von ihrem aktuellen Fall und von den Schwierigkeiten, mit denen sie dabei zu kämpfen hatte. Auch dass ihr die Zeit davonlaufe, legte sie ihm dar und unterbreitete ihm schließlich einen unkonventionellen Vorschlag: »Was hältst du von einer kleinen Schiffsreise, Paul? Wenn es mir nicht gelingt, die MS Walküre an die Leine zu legen, könntest du als neuer Passagier an Bord gehen und dich ein wenig umhören. Inoffiziell natürlich, aber ich werde dafür sorgen, dass dir die Auslagen ersetzt werden.«
Pauls Reaktion bestand zunächst aus einem längeren Schweigen. Jasmin befürchtete schon, er hätte aufgelegt, als doch noch eine Antwort folgte: »Habe ich das richtig verstanden? Die Kommissarin bittet einen Zivilisten darum, sich zum Zwecke von Ermittlungen auf einem Schiff voller Verdächtiger einzuschmuggeln? Weshalb tust du es nicht selbst?«
»Liegt das nicht auf der Hand, Paul? Weil mich hier inzwischen jeder als Polizistin kennt, ebenso wie meine Kollegen. Auf dem Dienstweg kommen wir nicht weiter.«
»Warum gerade ich?«, wollte Paul wissen.
»So etwas liegt dir doch, und das wäre ja nicht das erste Mal, dass du für mich den Maulwurf spielst«, schmierte Jasmin ihm ordentlich Honig ums Maul. »Weißt du noch letztes Jahr im Tiergarten?«
»Wie könnte ich das vergessen? Beinahe wäre ich von einem Löwen gefressen worden …«
»Vor mir brauchst du dich nicht zu verstellen, Paul. Ich erkenne einen Idealisten, auch wenn er sich hinter einer Mauer aus Zynismus versteckt.«
»Ich bin kein Idealist, sondern ein Idiot, dass ich mich immer wieder auf solche Dinge eingelassen habe.«
»Du bist also dabei?«
»Gegenfrage: Wer bezahlt das Ticket?«
»Wie gesagt: Dafür wird sich eine Regelung finden. Du wirst schon nicht auf den Kosten sitzen bleiben.« Anspornend rief Jasmin ins Handy: »Und? Machst du es?«
Wieder folgte ein längeres Schweigen. Dann die überraschende Absage: »Nein, Jasmin. Diesmal nicht. Zugegeben: Der Fall würde mich reizen, und eine Schifffahrt wohl auch. Aber ich habe schon etwas anderes vor.«
Jasmin mochte kaum glauben, was sie da hörte. Der selbst ernannte Hobbydetektiv Paul Flemming, der sich seit Jahren in fast jeden ihrer Mordfälle einmischte, schlug ein Angebot zur Zusammenarbeit aus? So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen! Ob es an der Ehekrise lag, durch die Paul und seine Katinka – das blonde Gift! – gerade gingen? Oder wurde er ganz einfach zu alt, um sich in solche Abenteuer zu stürzen? Immerhin stand er kurz vor seinem Fünfzigsten.
»Du hast etwas anderes vor?«, fragte Jasmin pikiert. »Darf man fragen was?«
»Ich gehe ins Kloster«, antwortete Paul, woraufhin Jasmin unwillkürlich lachen musste.
»Ausgerechnet du in einem Kloster?« Sie stellte sich Paul mit Tonsur und brauner Mönchskutte vor. »Was willst du denn da tun?«
»Was glaubst du wohl? Ruhe finden und zu mir selbst.«
»Wohl eher Ruhe vor Katinka«, sagte Jasmin geradeheraus. »Ist das dein Weg, den häuslichen Problemen aus dem Weg zu gehen? Oder sind das Anzeichen einer verspäteten Midlife-Crisis?«
»Midlife-Crisis – pfft! Und wenn schon. Allemal besser, als sich einen Porsche Cabrio zuzulegen und mit einer blutjungen Schönheit durchzubrennen.«
»Den Porsche könntest du dir doch sowieso nicht leisten.«
»Jedenfalls stehe ich nicht zur Verfügung«, wies Paul sie ab und klang sehr entschlossen. »Diesmal musst du deinen Fall allein lösen. Viel Spaß dabei.«
Mit diesen Worten legte er auf und ließ eine ratlose Oberkommissarin Jasmin Stahl zurück, die noch lange ungläubig auf das Telefon in ihrer Hand starrte.