Dienstag, 5. September

Im malerischen Volkach legte Paul einen Zwischenhalt ein und parkte seinen betagten Renault Kangoo in Sichtweite des Mainhangs mit der imposanten Vogelsburg. Im Kofferraum leichtes Reisegepäck für – vorerst – eine Woche Auszeit in Würzburg, die er dank Hannes Finks freundlicher Vermittlung kurzfristig hatte buchen können.

In einem Weingasthaus, dessen sonnenblumengelb verputzte Fassade von einem kunstvoll geschmiedeten Schild und üppigem Blumenschmuck geziert wurde, wollte er einkehren und sich ein deftiges Essen gönnen. Eine möglichst große Portion, musste er doch davon ausgehen, in den nächsten Tagen auf eher karge Klosterkost beschränkt zu sein.

Der Gastraum war an uriger Gemütlichkeit kaum zu überbieten. Paul ließ sich an einem Ecktisch, umgeben von allerlei antikem Zierrat, nieder und nahm von einer Kellnerin im Trachtenlook die Menükarte entgegen. Fast wie daheim in seinem Stammlokal, Jan-Patricks Goldenem Ritter, hatte er die Qual der Wahl und musste sich zwischen diversen regionalen Köstlichkeiten entscheiden. Es gab Lammhüfte an Thymiansauce, auf Heu gegartes Schweinefilet und Waller mit Zuckerschoten. Als kalt zu genießende Option bot sich der zünftige Brotzeitteller an, der gerade am Nebentisch serviert wurde: Der geräucherte Schinken duftete bis zu Paul hinüber, die faustgroße Kugel Obatzter war mit hauchdünn geschnittenen Zwiebelringen garniert und das saftige Bauernbrot mit krachender Rinde schien nur darauf zu warten, dass man hineinbiss.

Paul entschied sich für die Brotzeit und wollte ein Helles dazu bestellen, als ihm bewusst wurde, dass er die unsichtbare Grenze von »Bierfranken« ja bereits überschritten hatte und sich mittlerweile in »Weinfranken« aufhielt. Durchs Sprossenfenster konnte er die Hänge voller Rebstöcke sehen, was seine Lust auf ein Glas Silvaner oder einen Riesling wachrief.

»Welchen Wein können Sie besonders empfehlen?«, fragte er die Kellnerin, eine freundlich auftretende Erscheinung, deren traditionelle Kleidung hervorragend mit dem Gesamtambiente harmonierte.

»Oh, ein Besucher aus Mittelfranken?«, stellte sie fest.

Paul schaute an sich herunter. »Sieht man mir das an?«

»Das nicht«, lachte die Kellnerin, »aber man hört es.«

Paul stimmte in ihr Lachen ein, denn er wusste ja, dass es mehr als nur ein paar feine Nuancen waren, in denen sich seine Aussprache von der der Unterfranken unterschied. »Darf man als Bierfranke bei Ihnen denn trotzdem einen Schoppen bestellen?«, fragte er die humorvolle Bedienung augenzwinkernd.

»Aber sicher! Wie wäre es mit unserer Scheurebe? Sie ist bei den Gästen derzeit sehr gefragt und hat übrigens Jubiläum.«

»Jubiläum? Klären Sie mich bitte auf. Ich gebe zu, dass ich so gut wie keine Ahnung habe, was den Weinbau anbelangt.«

Die nette Kellnerin nahm sich die Zeit, Paul zu erzählen, dass die Scheurebe mit ihrem fruchtigen Aroma die deutsche Antwort auf den Sauvignon Blanc sei und vor genau hundert Jahren durch eine Kreuzung zwischen Riesling und der Bukettrebe entstanden war. »Vom Geschmack her geht sie in Richtung Schwarze Johannisbeere, in der Spät- und Auslese können auch Aromen wie Pfirsich oder Zitrusfrucht hinzukommen.« Außerdem erfuhr Paul, dass die Scheurebe eine besonders anspruchsvolle Sorte sei, die nur auf guten und sonnenverwöhnten Lagen gedeihe.

»Sie haben mich überzeugt«, sagte er lächelnd, »bitte bringen Sie mir ein Glas davon.«

Obwohl Paul sein eigentliches Ziel noch gar nicht erreicht hatte, spürte er, wie sich schon jetzt ein Gefühl der Erholung und Entspannung einstellte. Offenbar bewirkte allein der Tapetenwechsel Wunder, denn in seiner vertrauten Umgebung rund um den Nürnberger Weinmarkt erinnerte ihn einfach zu viel an seine persönlichen Sorgen, allen voran die Schieflage seiner Ehe. Hier aber, kaum hundert Kilometer von Nürnberg entfernt, schien der Druck nachzulassen. Vielleicht lag es auch an der Luftveränderung, der schönen Landschaft mit ihren sattgrünen Weinbergen und der Mainschleife oder an der Aussicht auf ein paar Tage klösterliche Ruhe. Was auch immer den Ausschlag dafür gab: Paul fühlte sich regelrecht befreit.

Sein unverhofftes Hochgefühl hielt jedoch nicht lange an, wurde es doch durch das Vibrieren seines Handys empfindlich gestört. Paul beäugte es kritisch und sah zu, wie das Smartphone auf der Tischplatte zappelte. Am liebsten wäre er nicht drangegangen, denn er wollte seine Pause vom Alltagstrott nicht schon am ersten Tag unterbrechen lassen. Doch als er die drängenden Blicke anderer Gäste aufschnappte, entschloss er sich, das störende Brummen abzustellen.

»Wer nervt?«, fragte er leise und ziemlich unfreundlich, nachdem er das Gespräch angenommen hatte, ohne vorher den Namen des Anrufers vom Display abzulesen.

»Eine deiner Verflossenen«, spielte Jasmin Stahl auf die lange zurückliegende Affäre mit Paul an.

Der hörte das gar nicht gern. »Du störst mich beim Essen. Was willst du denn schon wieder von mir?«

»Ich möchte mich über deine Frau beschweren.«

Paul verzog das Gesicht. Gerade hatte er es fertiggebracht, für ein paar Minuten nicht an Kati zu denken, da zwang ihn Jasmin zurück zum Thema. »Hattet ihr beiden Zoff? Dann kann ich dir auch nicht helfen, denn wie dir ja bekannt sein dürfte, herrscht bei uns derzeit Funkstille.«

»Deine Katinka macht mir das Leben unnötig schwer, indem sie sich weigert, die MS Walküre zu beschlagnahmen. Sie rührt keinen Finger, um die Weiterfahrt des Hotelschiffs zu verhindern. Wenn sie nichts unternimmt, legt das Boot noch heute oder spätestens morgen ab.«

Paul stocherte mit der Gabel im Obatzten. »Dann wird es einen Anlass dafür geben. Warum willst du das Schiff denn überhaupt aufhalten?«

»Habe ich dir doch schon gesagt: Weil ich vermute, dass sich der Täter noch immer an Bord befindet.«

»Was Katinka wohl nicht so sieht, habe ich recht?«, fragte er gelangweilt. Ihm war durchaus klar, dass seine Frau als zuständige Staatsanwältin die Verhältnismäßigkeiten abwägen musste. Wollte sie einen Kahn mit hundert oder mehr Passagieren an die Kette legen, musste es dafür triftige Gründe geben. Diese war Jasmin ihr offenbar schuldig geblieben.

»Weißt du, was ich denke, Paul?«, fragte Jasmin und klang gereizt. »Ich denke, dass deine Frau Dienstliches mit Privatem vermischt. Ihr geht es darum, alte Rechnungen zu begleichen.«

»Hört, hört!« Paul fragte sich, was für eine Antwort Jasmin von ihm erwartete. Glaubte sie wirklich, dass er sich Kati gegenüber illoyal verhalten würde? Wollte sie die momentane Krise zwischen ihnen etwa ausnutzen, um ihn noch mehr gegen seine Frau aufzubringen? »Was könnte ich deiner Meinung nach tun?«, fragte er.

»Mit ihr sprechen! Appelliere an ihr Pflichtgefühl als Anklägerin.«

»Ich glaube, ich erwähnte es schon: Katinka und ich haben eine Pause eingelegt, was das Miteinander-Reden anbelangt. Wende dich doch an deinen Chef. Vielleicht gelingt es ja Hauptkommissar Schnelleisen, Kati umzustimmen.«

Jasmin grummelte etwas Unverständliches in den Hörer.

»Wie bitte? Ich verstehe dich nicht«, sagte Paul, den ihr Schmollen beinahe schon wieder amüsierte.

»Schnelleisen und Frau Oberstaatsanwältin sind ganz einer Meinung. Keiner von beiden zieht es auch nur in Erwägung, dass der Täter an Bord geblieben sein könnte. Da die Spurensicherung inzwischen ja durch ist und alle Passagiere ebenso wie das Personal gecheckt worden sind, besteht ihrer Meinung nach kein Grund dafür, das Schiff länger in Nürnberg festzuhalten. Von meinem Boss kann ich also keine Hilfe erwarten. Gleichzeitig will er aber Ergebnisse von mir. Als ob ich zaubern könnte!«, sagte Jasmin zerknirscht, um etwas hoffnungsvoller anzuschließen: »Wenn du nicht mit Katinka darüber sprechen möchtest, könntest du dann nicht doch selbst …«

Weiter kam sie nicht, denn Paul fiel ihr ins Wort: »Ich habe es dir doch gestern klipp und klar gesagt: Mit mir darfst du nicht rechnen. Ich habe genügend anderes im Kopf. Ich kann und will mich nicht um einen toten Amerikaner kümmern, und zu einer Schifffahrt habe ich auch keine Zeit, weil auf mich ein Platz im Kloster wartet.«

»Glaubst du wirklich, dass es dort spannender wird?«

»Eben nicht! Und das ist genau das, was ich will: das Gegenteil von Spannung, nämlich Entspannung.«

Jasmin startete einen letzten Versuch, indem sie Paul eine vage Vermutung anvertraute: »Möglicherweise hat der Mörder nur sein halbes Ziel erreicht.«

»Was? Wie?« Paul wusste nicht, was sie damit andeuten wollte.

»Gut möglich, dass er nicht nur den Amerikaner, sondern auch dessen Frau töten wollte. Denn um diese späte Uhrzeit hätte er erwarten können, dass sich beide in der Kabine aufhielten. Und das hieße, dass er an Bord geblieben ist und darauf wartet, noch einmal zuschlagen zu können.«

»Hört sich nach blanker Spekulation an«, entgegnete Paul. »Du hast keinen Beweis dafür, oder?«

»Ich habe die Witwe vernommen. Eindringlich«, sagte Jasmin betont. »Sie hat mir viel erzählt, doch ich hatte den Eindruck, dass sie mit jedem Wort, das sie sagte, ein anderes verschwieg.«

»Und das bedeutet?«

»Dass sie mehr weiß, als sie preisgeben will. Und dass sie Angst hat. Große Angst.«

Paul beendete das Telefonat fünf Minuten später, ohne dass er auch nur ein Anzeichen von Kooperationsbereitschaft hatte anklingen lassen. Mit Heißhunger stürzte er sich auf seine Brotzeit, kaum dass er sein Handy in die Hosentasche gesteckt hatte. Dann ließ er sich die Scheurebe schmecken, die sogar noch besser mundete, als erwartet.

Aber das deftige Essen und der gute Wein konnten nicht überdecken, was sich in seinem Hinterkopf abspielte. Dort keimte ein zarter Anflug von Interesse. Jasmin hatte es tatsächlich geschafft, seine Neugierde zu wecken.

Die unterschiedlichen Zeitzonen trugen Schuld daran, dass Hannahs Nachrichten meist genau dann eintrafen, wenn Katinka gerade beschäftigt war. Wie auch heute: Katinka saß in ihrem Büro und war auf dem Sprung in den Schwurgerichtssaal, um ein Plädoyer in einem besonders kniffligen Fall zu halten, der eigentlich ihre volle Konzentration erfordert hätte.

Doch als sie die eingehende WhatsApp-Nachricht sah, konnte sie nicht anders, als sie zu lesen und darauf zu antworten:

»JJJ Gute Nachrichten, Mami JJJ«

»Gute Nachrichten? Immer gern! Was gibt es denn?«

»Das mit dem Job ist geregelt.«

»Job???«

»Ja! Brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Verdiene bald wieder mein eigenes Geld.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Jedenfalls nicht darüber.«

»Sondern?«

»Um deine Zukunft …«

»Jetzt fang nicht schon wieder damit an.«

»Du hast doch damit begonnen. Von wegen neuer Job und so …«

»Du verstehst mich völlig falsch.«

»Was gibt es daran falsch zu verstehen? Das bedeutet doch, es geht munter weiter mit dem Work & Travel. Deine Mutter freut sich darüber nur so halb L«

»Nix Work & Travel. Kulturamt. Die nehmen mich zurück!!!«

»Kulturamt?«

»Jap.«

»Nürnberg?«

»Genau.«

»Jetzt bin ich platt. – Ist das sicher?«

»Schon alles fix gemacht. Darf wieder bei denen antreten. Ich glaub, die freuen sich sogar auf meine Rückkehr.«

»Ich fass es nicht. Wann kommst du?«

»Hab noch das eine oder andere zu erledigen. Mach keinen Stress, Mum.«

»Nein, kein Stress. Aber ich freu mich so auf dich! JJJ«

»Dito.«

»Was hat den Sinneswandel ausgelöst?«

»Ehrliche Antwort? Am Heimweh liegt’s nicht allein …«

»Ich werd’s verkraften. Schieß los!«

»Die vom Amt haben Druck gemacht. Haben n Arsch voll Arbeit. Müssen die nächste Blaue Nacht vorbereiten. Das Mega-Event in der City.«

»Das ist der ganze Grund?«

»Na ja, nicht nur: Natürlich vermisse ich euch auch. Dich und Paul.«

»Das tut gut. Würde Paul auch gefallen. Leider kann ich es ihm nicht ausrichten.«

»Ach ja – bei euch herrscht Eiszeit. Find ich übrigens ziemlich blöd, dass ich als Vorwand für euren Krach herhalten muss L

»Ist nicht wahr. Es geht hier um was Generelles.«

»Wenn ich nicht abgehauen wäre, hättet ihr euch nicht so gefetzt. Versuch nicht, das abzustreiten.«

»Du kannst nichts dafür, dass es zwischen Paul und mir gerade nicht so gut läuft.«

»Nicht so gut läuft? Die Untertreibung des Jahres! Hast du ihn nicht vor die Tür gesetzt?«

»Ja. Weil es sonst immer so weitergegangen wäre. Er hätte es nicht anders verstanden.«

»Und ich sage: ES WAR EIN FEHLER. Big mistake.«

»Was?«

»Der Rauswurf.«

»Warum?«

»Ihr hättet lieber reden sollen.«

»Das hätte doch zu nichts geführt.«

»Glaub schon. So jedenfalls kommt ihr nicht weiter. Jetzt macht jeder sein eigenes Ding. Toll! L«

»Ich denke nicht, dass du das beurteilen kannst. Du bist weit weg.«

»Bist du jetzt beleidigt?«

»Schon möglich.«

»Tut mir leid. Aber was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Ich will nicht länger einen Vorwand dafür liefern, dass ihr zwei euch zofft.«

»Ich muss jetzt los. Habe einen Termin. Bis bald, Liebes!«

Jasmin Stahl ärgerte sich kolossal über die Selbstbezogenheit der Familie Flemming-Blohm. Obwohl sie mit Engelszungen auf Paul eingeredet hatte, ließ der sich nicht umstimmen und verweigerte kategorisch seine Unterstützung. Jasmin war nicht nur enttäuscht, sondern richtig sauer. Sollte er doch in seinem Kloster vermodern!

Nichts Besseres wünschte sie seiner Frau, denn inzwischen hatte die Staatsanwaltschaft ihren Verzicht auf eine Beschlagnahme des Hotelschiffs offiziell verkündet. Sehr zur Befriedigung von Jasmins Chef Schnelleisen, denn der fürchtete diplomatische Verwicklungen noch mehr als die schlechte Laune seiner Frau: Wie sich herausgestellt hatte, befand sich unter den Passagieren ein ehemaliger Senator, der wohl damit gedroht hatte, die amerikanische Botschaft in Berlin einzuschalten, wenn die Reise nicht bald weiterginge. Mit seinen zweiundneunzig Jahren wollte er keine Verzögerungen mehr hinnehmen.

Wie dem auch sei: Jasmin würde es schwer haben, ihre Soko auf eine erfolgsverheißende Spur zu führen, wenn ihr nur so wenig Zeit blieb. Also beschloss sie, abermals ihre einzige ergiebige Quelle anzuzapfen und sich noch einmal Bethany vorzunehmen.

Jasmin fand die junge Witwe deutlich erholter vor als bei ihrer letzten Begegnung. Offenbar hatte sich Bethany Dexter ein paar Stunden Schlaf gegönnt, sich frisch gemacht und umgezogen. Hose und Bluse, die sie jetzt trug, wirkten leger und bequem, gleichwohl war beides perfekt auf ihre Figur abgestimmt, sodass sie selbst in dieser Alltagskleidung adrett und – für Männer – begehrenswert wirkte. Jasmin ertappte sich dabei, wie ein Funken Missgunst in ihr aufkam. Dass diese Frau es fertigbrachte, auch noch in einer seelischen Notlage auszusehen wie eine Absolventin von Germany’s Next Top Model, wurmte sie, denn sie selbst würde das in einer vergleichbaren Situation gewiss nicht können. Jasmin gab sich Mühe, sich ihre Empfindungen nicht anmerken zu lassen, als sie Bethany darum bat, den Verlauf des gestrigen Abends erneut darzulegen.

»Aber das habe ich doch schon getan«, wandte Bethany ein.

»Bitte noch einmal. In aller Ausführlichkeit.«

Bethany ließ ein leises Stöhnen hören, bevor sie sich fasste und den Ablauf der zurückliegenden Stunden wiedergab. Jasmin hörte aufmerksam zu, wobei sie auf neue Details hoffte, bei denen sie nachhaken konnte.

Doch diese blieb die junge Witwe ihr schuldig. Alles, was Jasmin zu hören bekam, war die Schilderung eines völlig normalen Abends an Bord eines Passagierschiffes ohne jeden bemerkenswerten Zwischenfall. Kein Streit, keine ungewöhnliche Beobachtung, kein auffälliger Moment.

»Als sich Ihr Mann vor Ihnen in die Kabine zurückzog und Sie an der Bar sitzen blieben, hatten Sie nicht den Eindruck, dass es einen besonderen Grund dafür gab?«, fasste Jasmin nach, als Bethany geendet hatte.

»Nein, das war ganz normal«, versicherte sie. »Bryan schätzte es nicht mehr so wie in früheren Jahren, die Nacht zum Tag zu machen. Er brauchte seine Ruhe und zog sich zurück, wenn es ihm zu viel wurde. Dabei bestand er jedoch darauf, dass ich mich amüsiere und den Abend genieße. Er hätte es nicht für gut geheißen, wenn ich nur seinetwegen ebenfalls zu Bett gegangen wäre.«

Jasmin wog ab, ob ein solches Arrangement zwischen Eheleuten mit so großem Altersunterschied realistisch war, und kam zu dem Schluss, dass es stimmen konnte. Dennoch sagte ihr Bethanys Mimik, dass sie ihr etwas vorenthielt. »Es lag also ausschließlich an der Müdigkeit Ihres Mannes, dass er vor Ende des Showprogramms die Bar verließ?«, präzisierte sie ihre Frage.

»An der Müdigkeit und wohl auch am Alkohol. Ich sagte ja, der viele Wein …«, deutete Bethany an, setzte sich auf die Bettkante und schlug ihre langen Beine übereinander.

Jasmin, die ja selbst zweimal die Woche Sport trieb, registrierte ihre schlanken Fesseln. Die Frau hatte kein Gramm zu viel am Körper, dachte sie. Ob zuhause in den USA ein Personal Trainer über ihre Fitness wachte?

»Okay. Müdigkeit und Alkoholpegel«, fasste Jasmin zusammen und machte sich eine Notiz. »Sonst nichts? Es gab keinen weiteren Auslöser, der den verfrühten Abgang Ihres Mannes veranlasst haben könnte? Etwa der andere Passagier, mit dem Sie sich an der Bar unterhalten hatten. Er hat übrigens bestätigt, dass er im besagten Zeitraum mit Ihnen an der Bar gesessen hat.«

Bethany winkte ab. »Ich bitte Sie, das war harmloser Small Talk. Außerdem war Bryan nicht eifersüchtig und brauchte es auch nicht zu sein.« Sie zuckte die Achseln. »Nein, es gab keinen anderen Grund. Es sei denn, Bryan hätte sich an der Livemusik gestört.«

»Hat er?«

»Nein.« Bethanys schiefes Lächeln wirkte gequält. »Dieser Imitator war wirklich gut in seiner Rolle als der späte Elvis Presley. Ziemlich beleibt und schon etwas in die Jahre gekommen. Aber er verstand sein Handwerk.«

»Ist er öfter aufgetreten?«

»Elvis? Nein, soviel ich weiß, ist er ja erst in Regensburg an Bord gekommen und in Nürnberg wieder ausgestiegen. Das Programm wechselt beinahe täglich, da gibt es selten Wiederholungen.«

»In Ordnung«, sagte Jasmin. »Dann will ich Sie nicht länger stören.« Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und platzierte sie auf dem Nachttisch. »Damit Sie wissen, wie Sie mich erreichen können, falls Sie mir noch etwas mitzuteilen haben.«

Bethany nahm die Karte auf, betrachtete sie eingehend und sagte: »Danke, aber ich wüsste nicht, was ich Ihnen noch sagen könnte.«

Ich schon, dachte Jasmin: zum Beispiel, vor was du dich ängstigst, denn man kann es dir von den Augen ablesen, dass du ahnst, wer hinter dem Mord an deinem Mann steckt, beauty.

»Man kann nie wissen. Manchmal fallen einem mit ein paar Tagen Abstand Dinge ein, die man in der ganzen Aufregung zunächst vergessen oder verdrängt hat«, sagte Jasmin und ging zurück zur Tür.

»Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen«, sagte Bethany, »aber wahrscheinlich werde ich dann schon nicht mehr in Deutschland sein. Ich fliege zurück, sobald alles Organisatorische erledigt und Bryans Überführung veranlasst ist.«

»Bleiben Sie etwa nicht auf der Walküre?«, fragte Jasmin. »Nehmen Sie sich stattdessen ein Hotel in Nürnberg? In diesem Fall müssen Sie Ihre neue Adresse für uns hinterlegen.«

»Nein, ich kenne mich nicht aus in dieser Stadt und möchte vorläufig in meiner gewohnten Umgebung an Bord sein. Bei meinen Landsleuten, deren Sprache ich verstehe und bei denen ich ein wenig Trost finden kann, hoffentlich. Ich habe mich entschlossen, die Reise fortzusetzen. Aber eben nur so lange, wie mich die Formalitäten in diesem Land festhalten. Ich denke, dass es spätestens bei unserer Ankunft in Würzburg so weit sein wird. Von dort aus ist es ja nicht weit bis zum Frankfurter Flughafen.«

Gut zu wissen, dachte Jasmin und erkannte, dass sie sich sehr würde beeilen müssen, um ein wenig Licht ins Dunkel dieses Falls zu bringen. Sobald die rätselhafte Witwe Deutschland verlassen hätte, würde sie nicht mehr an sie herankommen und könnte den Fall abschreiben.

Jasmin wollte gehen, da fiel ihr aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung auf: eine schattenhafte Silhouette draußen auf dem Balkon! Jasmin dachte nicht lange nach, sondern war mit zwei Sätzen am Fenster. Sie riss die halb geschlossenen Vorhänge auf und schaute sich genau um. Der schmale, von einer hüfthohen Brüstung umgebene Vorsprung war verwaist. Jasmin sah zwei Stühle und ein Tischchen, aber keinen Menschen. Sollte sie sich getäuscht haben? Aber nein, sie hatte ganz sicher etwas oder jemanden gesehen!

Sie suchte nach dem Türöffner, betätigte ihn und trat auf den Balkon. Sie beugte sich über die Reling, um auch die benachbarte Veranda überblicken zu können. Und tatsächlich! Dort sah sie einen Mann, korpulent, in hellen Hosen und Poloshirt, der über die Einfassung zum nächsten Balkon kletterte.

»Hey!«, rief sie laut. »Was tun Sie da?«

Der Mann hielt mitten in der Bewegung inne, schaute sich um. Jasmin erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht. Zu kurz, um es sich wirklich einprägen zu können. Dann stieg der Mann über die Balustrade und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.

Jasmin rief noch einmal: »Hey! Hallo!« Ohne Resultat. Sie überlegte, dem Unbekannten hinterherzulaufen, aber sie würde ihn kaum einholen können. Wenn er sich eine Jacke überzöge und sich unter die Passagiere mischte, würde sie es schwer haben, ihn zu identifizieren. Dafür hatte sie ihn nicht lange genug gesehen.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Bethany, die Jasmin mit Blicken gefolgt war.

»Ich hatte den Eindruck, dass uns jemand beobachtet hat«, meinte Jasmin und spähte weiter die Umgebung aus.

»Von meinem Balkon?«, fragte Bethany erschreckt. »Aber wer sollte das denn gewesen sein?«

Jasmin wandte sich zu ihr um und blickte ihr in die viel zu hübschen Augen. »Das frage ich Sie, Mrs Dexter. Das frage ich Sie.«

Nachdem Jasmin das Zimmer verlassen hatte, sah sie auf die Uhr. Es war kurz nach zwei, früher Nachmittag. Sie überlegte, ob es sich noch lohnte, ins Präsidium zu fahren. Dort müsste sie ihrem Chef Bericht erstatten – aber wo­rüber? Darüber, dass die Indizien die Raubmordthese zwar untermauerten, sie selbst aber nicht daran glaubte, weil sie Zweifel an der Aufrichtigkeit von Witwe Bethany habe? Oder sollte sie vom heimlichen Besucher auf dem Balkon erzählen, von dem sie weder behaupten konnte, dass er wirklich gelauscht hatte, noch eine gebrauchsfähige Beschreibung liefern konnte? Wohl kaum. Da zog es Jasmin vor, die nächsten Stunden an Bord der MS Walküre zu bleiben und sich einmal mehr mit Besatzungsmitgliedern zu unterhalten. In der vagen Hoffnung, doch noch den entscheidenden Hinweis zu bekommen.

Paul hatte sich Zeit gelassen. Viel Zeit. Denn auch wenn es sein eigener Wunsch und seine freie Entscheidung gewesen war, ins Kloster zu gehen, wurde sein Verlangen nach Ruhe und Enthaltsamkeit kleiner, je näher er seinem Ziel kam.

Der Abend war angebrochen, als er seinen Renault eine schmale Serpentinenstraße hinauflenkte, die zum Jakobus-Kloster führte. Inmitten von Weinbergen gelegen, machte es bei Tag sicherlich einen einladend romantischen Eindruck. Aber jetzt, bei aufziehender Dämmerung, wirkten die Gemäuer mit ihren Türmen, hohen Mauern und spitzwinkligen Vorsprüngen abweisend und sogar ein wenig bedrohlich. Der düstere, von tief hängenden Regenwolken durchzogene Himmel verstärkte diesen Eindruck nur noch mehr.

Paul steuerte seinen Wagen durch einen Torbogen und befuhr einen großen gekiesten Innenhof. Dort stellte er den Renault ab, stieg aus und holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum. Staunend blickte er sich um und bewunderte einen arkadenförmigen Gang, der den rechteckigen Hof umschloss. An den Kreuzgang waren alle wichtigen Bestandteile des Klosters wie die Kirche, Wohn- und Verwaltungsgebäude angeschlossen, die trotz – oder gerade wegen  – ihres teilweise schlechten Bauzustands eine überirdische Ruhe ausstrahlten. Bereichert wurde diese über Jahrhunderte gewachsene Anlage durch einen kleinen Garten mit Brunnen und steinernem Kreuz. Die Kiesel knirschten unter Pauls Sohlen, als er sich dem größten Gebäude des mehrflügeligen Ensembles näherte, dessen Ursprünge er irgendwo zwischen dem neunten und dem elften Jahrhundert vermutete.

Mit seiner Wahl lag er richtig, denn kaum war er einige Meter gegangen, öffnete sich die Tür des Haupthauses und ein Mann in brauner Kutte trat heraus. Der kleine Mönch mit dem rosigen Gesicht und der Körperfülle, die auch einem Konditor gut angestanden hätte, kam Paul lächelnd entgegen – und begrüßte ihn mit einer Entschuldigung:

»Mein Name ist Theobald und ich heiße Sie herzlich willkommen im Jakobus-Kloster«, sagte der Mönch mit freundlich warmer Brummstimme. »Normalerweise empfängt unser Abt jeden Neuzugang persönlich. Darauf legt er großen Wert. Bedauerlicherweise ist er jedoch verhindert.«

Wie Paul erfuhr, musste sich der Abt um dringende Personalangelegenheiten kümmern: Der Chefkoch der Klosterküche war wohl ausgefallen, sodass ein kurzfristig eingesprungener Ersatzmann eingewiesen werden musste. Paul meinte, diese Zurücksetzung seiner Person durchaus verkraften zu können und ließ sich von Theobald zu seinem Zimmer führen. Auf dem Weg dorthin, der durch mittelalterliche Flure führte, die Paul an die Zauberschule Hogwarts aus den Harry-Potter-Filmen erinnerte, machte der Mönch ihn mit der Hausordnung vertraut.

»In der heutigen Zeit, die geprägt ist von Geschwindigkeit, technischem Fortschritt und ständiger Hektik, wird es immer schwieriger, Orte der vollkommenen seelischen Erholung zu finden. Unser Kloster bietet einen Raum, in dem Sie für eine gewisse Zeit dem Stress des Alltags entfliehen können. Wir schaffen Abhilfe bei Unausgeglichenheit und Selbstzweifeln, indem wir Ruhe und Frieden bieten.« Das klang nach einem einstudierten Text, der jedoch absolut überzeugend vorgetragen wurde. »Bei uns können Sie sich ungestört und ohne Probleme mit sich selbst auseinandersetzen. Unser Service, um es Neudeutsch auszudrücken, ist allerdings an gewisse Bedingungen geknüpft, für die Sie sicherlich Verständnis aufbringen.«

»Ich war vorgewarnt«, entgegnete Paul schmunzelnd.

»Bitte?«

»Ein Freund von mir, der mir Ihr Kloster empfohlen hat, sagte mir bereits, dass Regeln zu beachten sind.«

»Das trifft zu. Denn per Definition ist ein Kloster ein Ort, an dem man sich ganz und gar der Ausübung seiner Religion widmet und Störfaktoren durch Einflüsse von außen zu vermeiden sind. Aber im Unterschied zum weitverbreiteten Irrglauben ist ein Kloster keine Kirche im klassischen Sinne, sondern eine Einrichtung, die in einer besonderen Nähe zum Glauben steht.«

»Das mit den Störfaktoren geht klar, damit kann ich leben. Aber um es gleich offen zu sagen: Der Glaube an sich ist mir nicht so wichtig«, machte Paul deutlich, womit er seinen gemütlich wirkenden Begleiter keineswegs aus dem Konzept brachte.

»Damit stehen Sie nicht allein. Ich würde sagen, dass mindestens die Hälfte unserer Besucher nicht aus religiösen Gründen kommt. Dieser Klientel geht es vielmehr um die Besinnung auf das Ich. Nun könnte man sagen, wer zu sich selbst findet, findet auch zu Gott. Aber diesen Schritt muss man nicht zwangsläufig gehen.«

Damit konnte Paul schon mehr anfangen und erkundigte sich nach dem üblichen Tagesablauf. Daraufhin legte ihm Theobald eine Art Stundenplan des Mönchsalltags vor, der erwartungsgemäß von Gebeten und Gottesdiensten dominiert wurde. Ansonsten gab es nicht viel Programm außer den gemeinsamen Mahlzeiten, vereinzelten Lehrveranstaltungen – darunter ein Botanikkurs im Klostergarten sowie ein Weinseminar – und sehr viel Ruhe. »Der Alltag im Kloster ist zumeist so, wie man ihn aus verschiedenen Filmen kennt: Die Gemeinschaft beschränkt sich auf das Nötigste. Statt mit Fernseher und Computer beschäftigen wir uns mit wohltätigen Arbeiten und der Pflege unserer Gartenanlagen. Gesprochen wird dabei eher selten, was angesichts der allgegenwärtigen Reizüberflutung im Alltagsleben für einen Neuankömmling geradezu surreal wirken kann. Die meisten unserer Gäste brauchen daher einige Tage, um sich an diese besondere Art der Entschleunigung zu gewöhnen.«

Über abgetretene Treppenstufen gelangten sie in den Wohnflügel, ebenfalls ein historisches Gemäuer. »Handys sind erlaubt?«, fragte Paul und war auf ein »Nein« als Antwort gefasst, denn sicher galten sie auch als »Störfaktor«.

Theobald war auf diese Frage gefasst; Paul war gewiss nicht der erste Besucher, der sich danach erkundigt hatte. »Wir werden es Ihnen natürlich nicht abnehmen.«

Paul atmete auf. Doch er hatte sich zu früh gefreut.

»Ich muss Sie allerdings darauf hinweisen, dass wir hier ein ganz schlechtes Netz haben«, fügte Theobald mit einem Lächeln hinzu, das man als schadenfroh bezeichnen konnte. »Die dicken Mauen schirmen Strahlungen jeder Art ab. Daher gibt es auch kein WLAN.«

Also zurück in die digitale Steinzeit, verstand Paul, trug es jedoch mit Fassung, denn er wollte ja ohnehin seine Ruhe haben und nicht erreichbar sein.

Im Flur des Wohntraktes wurde er noch mit einigen Angaben zum Grundriss des Klosters vertraut gemacht, sozusagen als Orientierungshilfe: »In einer frühmittelalterlichen Anlage wie Jakobus bildet die Klosterkirche den räumlichen und geistlichen Mittelpunkt. Der Klosterhof, auf dem Sie geparkt haben, ist von einem Kreuzgang umgeben. Von dort aus gelangen Sie ins Refektorium, also den Speisesaal, ins Klosterkapitel, wo unser Versammlungsraum untergebracht ist, oder zurück ins Dormitorium, die Schlafräume. Außerdem gibt es eine Reihe von Neben- und Wirtschaftsgebäuden, die Sie aber nicht weiter zu interessieren brauchen.«

Der gemütliche Mönch sperrte die Tür zu einem Zimmer auf, das an Kargheit voll und ganz Pauls Erwartung entsprach, zu seiner Verwunderung jedoch über zwei Betten verfügte. Weil er seinen Begleiter verwirrt ansah, erklärte dieser, dass Paul sich den Raum mit einem anderen Gast teilen müsste. Ein weiterer Neuzugang, der seine Ankunft für den nächsten Tag angemeldet habe.

Das fängt ja toll an, dachte Paul wenig erfreut und hoffte inständig, dass sein Zimmergenosse nicht schnarchen möge.

Paul packte seine Sachen aus, dann wollte er es sich auf seiner Pritsche bequem machen. Er nahm sein Smart­phone zur Hand, um zu überprüfen, ob Bruder Theobald die Wahrheit gesagt hatte. Das hatte er: Der Apparat hatte keinen Empfang.

Der Verzicht auf sein Handy, mit dem er seine E-Mails abrufen oder ins Internet hätte gehen können, zwang Paul zu einer alternativen Beschäftigung. Leider hatte er es versäumt, Bücher oder Zeitschriften einzupacken. Er sah sich nach einer anderen Zerstreuungsmöglichkeit um und fand zwei ausgelesene Bände in der Schublade seines Nachttisches. Bei dem einen handelte es sich – naheliegenderweise – um eine Bibel. Der andere war ein Schmöker über das fränkische Weinland. Paul schnappte ihn sich, legte sich damit aufs harte Bett und blätterte darin herum.

Bei einem reichlich bebilderten Bericht über den Bocksbeutel, die charakteristische Flaschenform für Frankenweine, blieb er hängen und las Interessantes über die »elegante, henkellose Fortentwicklung des aus der Antike herrührenden plattgedrückten Kugelgefäßes mit flachem Stehboden und kurzem Röhrenhals«. Demnach stammte der Urahn des Bocksbeutels aus der Keltenzeit und bestand zunächst aus Ton. Der Beweis: Überbleibsel dieses Ur-Bocksbeutels werden im Mainfränkischen Museum in Würzburg ausgestellt. Die Römer übernahmen die Bocksbeutelform und bliesen sie bereits aus Glas. Im Mittelalter erfuhr das handliche Behältnis einen wahren Boom, der sich in der Renaissance fortsetzte, wobei sich die Flasche vom allgemeinen Trinkgefäß mehr und mehr zum Abfüllgefäß für Wein wandelte.

Paul blätterte weiter, denn es interessierte ihn, woher der Bocksbeutel seinen einprägsamen Namen hatte. Er stieß auf diverse Erklärungsversuche, unter anderem eine Herleitung vom französischen bouteille. Eine andere Quelle behauptete, der Name leite sich vom Booksbüdel ab, dem mittelalterlichen Begriff für einen mit Leder überzogenen Bücherbeutel. Origineller fand Paul eine im wahrsten Sinne des Wortes tierische Idee: Der Ziegenbock, seinerzeit volkstümliches Nutztier der vorwiegend ländlichen Bevölkerung, habe als Namensgeber gedient, wobei dem Bocksbeutel eine gewisse Ähnlichkeit mit dem nachgesagt wurde, was beim Ziegenbock zwischen den Beinen baumelt.

Beim Lesen eines weiteren Erklärungsversuchs fielen Paul die Augen zu. Das Weinbuch entglitt seinen Händen und rutschte von der Pritsche.