Die Lagebesprechung der Soko Walküre fand morgens um neun im kleinen Sitzungszimmer des Polizeipräsidiums statt. Obwohl die Leitung der Sonderkommission in Jasmin Stahls Händen lag, ließ es sich Dezernatsleiter Winfried Schnelleisen nicht nehmen, an dem Meeting teilzunehmen. Der Hauptkommissar, der einen schlecht sitzenden grauen Anzug und eine noch schlechter gebundene Krawatte trug, hatte die Beine übereinandergeschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Seine eisgrauen Augen ruhten drohend auf Jasmin, die fleischigen Lippen hielt er fest aufeinandergepresst.
Schnelleisen war in Lauerstellung, durchfuhr es Jasmin. Er schien nur darauf zu warten, dass sie einen Fehler machte und ihm damit einen Vorwand lieferte, sie abzulösen. Doch sie nahm sich vor, sich nicht von ihm ins Bockshorn jagen zu lassen, räusperte sich und eröffnete die Konferenz, indem sie Dr. Todt als Vertreter der Gerichtsmedizin das Wort erteilte. Der hünenhafte Arzt nannte das wenig überraschende Ergebnis der Obduktion, nach dem das Opfer durch die verheerenden Einwirkungen der beiden Geschosse in seinem Brustraum ums Leben gekommen war. Er führte schwere innere Blutungen aufgrund eines »perfekten« Durchschusses des Aortenbogens und der rechten Herzkammer sowie Pneumothorax, einen Kollaps der Lunge, als Gründe für den Exitus auf, der nach seinen Einsichten aufgrund der perforierten Hauptschlagader schon kurz nach Abgabe der Schüsse eingetreten sein musste. »So viel steht fest: Der Mann hat nicht lange leiden müssen.«
Eine Spezialistin für Ballistik schloss sich mit ihrem Bericht an: »Je nach Waffe und Munition kann die Kugel durchtreten oder stecken bleiben, bei einer Kleinkaliberpistole gerne Letzteres«, erläuterte sie mit einer viel zu fröhlichen Stimme für ihre ernste Aufgabe. Anhand der Projektile und der von ihnen freigesetzten Kräfte zog sie Rückschlüsse auf eine Tatwaffe größeren Kalibers: wahrscheinlich eine Walther P12 aus Altbeständen der Bundeswehr. Sie äußerte ihre Vermutung, dass der Täter sie im Darknet erworben haben könnte, einem getarnten Bereich des Internets für illegale Geschäfte aller Art.
Ein weiterer Kollege, der mit der Durchsuchung des Schiffs betraut worden war, gab an, dass die erbeuteten Wertgegenstände an Bord nicht ausfindig gemacht werden konnten. Ebenso wenig wie die Tatwaffe.
Jasmin hatte mit diesem Ergebnis gerechnet, denn sie tendierte ja zu der These, dass sie es mit einem vorgetäuschten Raubmord zu tun hatten. »Der Täter hat die Pistole zusammen mit den zum Schein erbeuteten Wertgegenständen unmittelbar nach der Tat verschwinden lassen«, äußerte sie ihre Vermutung.
»Wie soll er das bewerkstelligt haben?«, fragte Schnelleisen.
»Der einfachste Weg wäre gewesen, alles über Bord zu werfen. Womit sich die Chancen verringern, dass wir sie je finden werden.«
Jasmin sah, wie Schnelleisen die Augen verdrehte, ließ sich jedoch nicht beirren und rief als nächsten Kommissariatsanwärter Timo Schlelein auf. Der junge Mann, der ihr durch seinen Fleiß und sein freundliches Gemüt immer mehr ans Herz wuchs, enttäuschte sie auch jetzt nicht, denn er hatte über Nacht alle Aufgaben erledigt, die sie ihm aufgetragen hatte.
»Die Sicherheitsüberprüfung der an Bord befindlichen Personen hat keine Auffälligkeiten ergeben«, leitete der jungenhafte Ermittler seinen Beitrag ein, wobei ihm die Aufregung anzumerken war, erstmals vor einer Runde ausgewiesener Profis referieren zu müssen. »Dies gilt zumindest für die Stammbelegschaft des Schiffes und – soweit ich das feststellen konnte – für die Passagiere. Noch kein Ergebnis kann ich für einige Hilfskräfte und solche Mitreisende liefern, die die Passage nur zeitweise begleiten. Aber schon jetzt fällt auf, dass …«
»Kokolores!« Hauptkommissar Schnelleisen fiel Schlelein brüsk ins Wort und stand auf. »Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht damit, irgendwelche drittklassigen Hilfskräfte zu durchleuchten. So abgebrüht, wie der Täter vorgegangen ist, haben wir es mit keinem Amateur zu tun. Das ist doch so klar wie Kloßbrühe: Es war das Werk einer osteuropäischen Bande, die zur Abwechslung einmal kein Wohnhaus, sondern ein Schiff beraubt hat. Diese Jungs sind flexibel und haben den Kanal als lukratives Betätigungsfeld für sich entdeckt. Sie werden es erleben: Es wird zukünftig öfter vorkommen, dass sich diese Tätergruppe auf Luxusschiffen bedient.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Die Runde war dermaßen überrumpelt worden vom plötzlichen Machtwort des Chefs, dass sich niemand zu mucken traute. Dann aber wagte sich Jasmin vor, die wiederholte, was eigentlich jeder im Raum schon wissen sollte – inklusive Hauptkommissar Schnelleisen: »Wir haben kein Beutegut sicherstellen geschweige denn einen Dieb fassen können, obwohl gewährleistet war, dass niemand das Schiff ohne sorgfältige Überprüfung verlassen konnte.«
»Könnte das daran liegen, dass der oder die Täter sich schlauer angestellt haben, als Ihre Soko es für möglich hält, werte Frau Kollegin?« Schnelleisens Einwurf war an Zynismus kaum zu überbieten. »Was, wenn der Dieb seine Beute samt Waffe in einen wasserdichten Sack gestopft hat und damit noch während der Fahrt über Bord gesprungen ist? Oder er hat einen Beutel verwendet, der auf dem Wasser treibt und von seinem Komplizen aufgefischt werden konnte.«
»Mitten in der Nacht? Da hätte den Sack doch niemand finden können«, wunderte sich Schlelein und fing sich einen bitterbösen Blick des Hauptkommissars ein.
Doch Jasmin dachte das Gleiche: Wozu ein solcher Aufwand, wenn Räuber doch viel einfacher in einem Hafen zuschlagen konnten: schnell aufs Schiff geschlichen, Zimmertür geknackt, Schmuck eingesteckt und sofort wieder verschwunden. Nein, nein, Schnelleisen war auf dem Holzweg. Und das nicht aus Dummheit, sondern sehr wahrscheinlich aus Kalkül. Wenn er die Tat einer anonymen osteuropäischen Bande in die Schuhe schieben könnte, würde ihn niemand zur Verantwortung ziehen, sollte der Täter nie geschnappt werden. Denn die Aufklärungsquote bei derartigen Fällen war im Allgemeinen sehr niedrig und könnte schwerlich Schnelleisens Abteilung angelastet werden.
Aber das sagte sie ihm nicht, sondern rief weitere Untersuchungsergebnisse ihrer Mitarbeiter ab, bis es Schnelleisen zu dumm wurde und er sich grummelnd aus der Runde verabschiedete.
Als die Lagebesprechung eine Dreiviertelstunde später endete, blieb neben Jasmin nur Timo Schlelein zurück.
»Wie gehen wir weiter vor?«, fragte er zaghaft, denn Jasmin wirkte abweisend und niedergeschlagen.
Das merkte sie selbst und bemühte sich um einen etwas freundlicheren Gesichtsausdruck. Schlelein konnte ja nichts dafür, dass sich die Dinge so ungünstig entwickelten. »Die MS Walküre legt noch am Vormittag in Richtung Bamberg ab. Heute ist Mittwoch. Übermorgen, also am Freitag, geht es weiter bis nach Würzburg. Spätestens dann ist sie außerhalb unserer Reichweite«, sagte sie resigniert. »Ich kann nur hoffen, dass sich Bethany Dexter bis dahin besinnt und sich bei mir meldet. Denn ich bin mir sehr sicher, dass sie das wahre Motiv für den Mord an ihrem Mann kennt. Haben wir das Motiv, finden wir auch den Täter.«
»Warum nehmen wir sie nicht fest? In Beugehaft, dann redet sie bestimmt«, schlug Schlelein vor und bekam dafür ein mitleidiges Lächeln seiner Chefin.
»Festnehmen? Auf welcher Grundlage? Ich bin nicht scharf darauf, mich vor der Staatsanwaltschaft zu blamieren«, sagte Jasmin und erhob sich von ihrem Stuhl. »Machen wir Schluss und gehen jeder für sich noch einmal die Sachlage durch.«
»Okay.« Auch Schlelein schob seinen Stuhl zurück und griff gleichzeitig zu seiner Aktenmappe. Diese war nicht geschlossen, sodass seine Unterlagen herausfielen und sich über den Boden verteilten. »Sorry«, sagte er, »ungeschickt lässt grüßen.«
Jasmin bückte sich, um dem jungen Kollegen beim Aufsammeln zu helfen. Dabei fiel ihr ein Programmheft der MS Walküre in die Hände: ein Faltprospekt, in dem das bordeigene Amüsement aufgelistet war. Versehen mit Fotos der feschen Fitnesstrainerin, des amerikanisch breit lächelnden Barkeepers und der auftretenden Künstler. Jasmin wollte das Faltblatt schon in den Stapel der sonstigen Papiere schieben, da stutzte sie. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das Konterfei des Elvis-Imitators. Gedrungen, massig und mit strassbesetztem Showanzug verkörperte er den aufgedunsenen Elvis Presley der späten Jahre, inklusive fetter Sonnenbrille und aufgeklebten Koteletten. Auch die tintenschwarze Haartolle war nicht echt, da war sich Jasmin ziemlich sicher.
»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Schlelein, der sich über Jasmins Interesse an dem Prospekt wunderte.
Jasmin tippte mit dem Zeigefinger auf das Elvis-Bild. »Dieser Kleinkünstler – war er unter denen, die Sie befragt haben?«
»Ja«, sagte Schlelein. »Er hat gestern ausgecheckt, weil sein Engagement auf der MS Walküre ausgelaufen war. Hatte ich das nicht erwähnt?«
»Doch, doch. Er und Teile des Küchenteams hatten es besonders eilig, von Bord zu gehen.«
»Wir haben ihn natürlich überprüft, wie Sie es angeordnet hatten. Der Mann war sauber. Mit bürgerlichem Namen heißt er übrigens ganz profan Klaus Baumann.«
»Und Sie haben ihn gründlich kontrolliert?«, vergewisserte sich Jasmin mit eindringlichem Blick.
»Selbstverständlich! Wie jeden anderen, der das Schiff verlassen wollte. Wir haben auch seinen Koffer mitsamt der Elvis-Garderobe durchforstet, aber nichts Verdächtiges finden können. Warum fragen Sie? Glauben Sie, er könnte etwas mit …«
Jasmin schnitt ihm das Wort ab. »Bisher ist es nur ein Gefühl, daher will ich, dass Sie mit niemandem darüber sprechen: Wenn mich nicht alles täuscht, hab ich den Mann gestern Mittag dabei ertappt, wie er Bethany Dexter und mich vom Balkon ihrer Kabine aus belauscht hat. Das muss kurz nach seinem Auschecken von der Walküre gewesen sein.«
»Was? Sie wurden belauscht?« Jetzt wirkte auch Schlelein alarmiert. »Warum haben Sie nichts davon in der Lagebesprechung gesagt?«
»Weil mich Schnelleisen wahrscheinlich für verrückt erklärt hätte. Außerdem hatte ich bis gerade eben keine Ahnung, mit wem ich es zu tun hatte. Ich bin zwar gleich raus auf den Balkon gerannt, doch da war der Mann schon getürmt. Bis Bethany auftauchte, hatte er sich in Luft aufgelöst. Erst jetzt, dank des Bilds im Programmheft, habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, um wen es sich gehandelt haben könnte.«
»Aber sicher sind Sie nicht?«
»Nein, absolut nicht«, gestand Jasmin ein. »Trotzdem möchte ich, dass Sie sich diesen Mann noch einmal vornehmen.«
»Wie denn? Er ist doch abgereist.«
»Lassen Sie sich vom Hotelmanager der MS Walküre seine Adressdaten geben, und falls nicht vorhanden, die der Künstleragentur, die ihn vermittelt hat.«
»Mache ich«, sagte Schlelein. »Meinen Sie, dass wir endlich dem Richtigen auf der Spur sind?«
»Er hätte die Gelegenheit dazu gehabt«, sagte Jasmin. »Der Todeszeitpunkt von Dexter lag zwischen dem Ende des Showprogramms und Bethanys Rückkehr in ihr Zimmer. Diese Zeitlücke hätte Elvis nutzen können, um den Mord auszuführen.«
»Von der Showbühne direkt zum Tatort?« Schlelein wirkte nicht überzeugt. »Wäre es nicht aufgefallen, wenn er im weißen Prachtkostüm mitten durch den Gästetrakt läuft?«
»Und wenn schon«, sagte Jasmin, die sich mit der neuen Spur rasch anfreunden konnte. »Die Masche, als Entertainer aufzutreten und diese Rolle gleichsam als Tarnung zu verwenden, ist doch genial. Dadurch, dass Elvis an Bord der MS Walküre quasi zum Personal gehörte und ihn ein jeder durch seine Auftritte gekannt hatte, blieb er genauso unverdächtig wie jedes andere Besatzungsmitglied oder die Passagiere. Er konnte unbehelligt durch die Flure streifen, den tödlichen Schuss abfeuern und wieder verschwinden. Einen Zusammenhang zwischen ihm und dem Opfer herzustellen, ist für den normalen Fahrgast nahezu unmöglich.«
»Das mag sein«, meinte Schlelein. »Aber wie weisen wir es ihm nach?«
»Wenn ich das bloß wüsste …«
Alle berühmten Weinbauregionen weltweit leiten ihre Identität von einer oder nur wenigen, ganz bestimmten Rebsorten ab, impfte Bruder Theobald seinen Zuhörern im Seminarraum des Klosters ein. Neben Paul lauschten vier weitere Männer den Ausführungen des Geistlichen und schielten allesamt zu einem Beistelltischchen hinüber, auf dem der Referent mehrere Flaschen drapiert hatte. Neben den Bocksbeuteln standen kleine Probierbecher. Paul nahm an, dass seine Mitschüler Theobalds Vortrag nur zu gern übersprungen hätten und gleich zur abschließenden Weinprobe übergegangen wären.
Doch Theobald, der sein Weinseminar so ernst nahm wie einen Gottesdienst, ließ sich nicht drängen. In aller Seelenruhe machte er seine Zuhörer mit dem speziellen Wesen der fränkischen Gewächse vertraut: »Was in Burgund der Pinot ist, im Barolo die Nebbiolo-Traube oder im Rheingau der Riesling, ist in Franken der – na, wer weiß es?« Aufmerksam blickte er in die Runde.
Ein kahlköpfiger, ziemlich unsympathisch wirkender Typ um die fünfzig hob den Finger: »Gewürztraminer?«
»Der passt eher ins Elsass«, entgegnete Theobald und verriet: »Der Silvaner.« Er ging zum Tischchen und hob eine der Flaschen an, die mit einer silbernen Qualitätsplakette versehen war. »Unser Silvaner ist typisch und kennzeichnend für den Würzburger Raum. Er schmeckte jedoch nicht schon immer so ausgereift und rund wie heute.« Dabei strich er über den Bauch des Bocksbeutels. »Dahinter steckt ein Evolutionsprozess, der sich über mindestens dreihundertfünfzig Jahre erstreckt. In dieser Zeit ist es unseren Winzern gelungen, den Silvaner zu kultivieren und zu seiner jetzigen, hochwertigen und unverwechselbaren Güte zu führen, wobei die besondere Geologie dieser Gegend mit den fruchtbaren Böden der Trias natürlich ihren Teil dazu beigesteuert hat.«
»Dreihundertfünfzig Jahre, sagen Sie? Woher kam die Traube denn ursprünglich?«, erkundigte sich der Glatzkopf und zog damit das unwillige Raunen der anderen auf sich. Denn wegen seiner Frage würde es noch länger dauern, bis sie endlich probieren dürften.
»Was die Herkunft des Silvaners anbelangt, so lag diese lange im Dunkeln«, antwortete Theobald. »Deshalb hat sich im Laufe der Zeit manch eine Legende um diese Rebsorte gebildet.«
»Legenden interessieren mich nicht, sondern nur Fakten. Wo die Traube herkommt, will ich wissen«, stellte der Unsympath klar.
Theobald blieb zuvorkommend: »Das eine lässt sich ohne das andere schwerlich erklären«, sagte er ruhig. »Manche meinen, die Rebsorte sei zunächst in Transsylvanien, also dem heutigen Rumänien, angebaut worden. Andere siedeln sie schon im Römischen Reich an und führen als Beleg dafür den Waldgott Silvanus an, nach dem man die Sorte benannte. Es gibt aber auch Weinkenner, die behaupten, die Silvanertraube sei in einem vorderasiatischen Ort namens Silvan gezüchtet worden.«
»Das sind doch bloß Mutmaßungen«, zeigte sich der Glatzköpfige enttäuscht. »Mit so was kann ich nichts anfangen, ich brauche Fakten.«
»Fakten?« Theobalds Lächeln wurde schmaler. »Wenn Sie es eher mit der Wissenschaft halten, kann ich Ihnen folgende Version anbieten. Önologen, also Experten für Weintechnologien, haben versucht, dem Geheimnis des Silvaners mit modernen, genetischen Analyseverfahren auf die Spur zu kommen. Dabei stellte sich heraus, dass der Silvaner eine Kreuzung aus dem Traminer, der zu einer der ältesten Rebsorten der Welt zählt, und dem sogenannten Österreichisch Weiß ist. Für diese Version spricht, dass der Silvaner in früheren Zeiten auch Österreicher genannt wurde.«
»Ob Silvaner oder Österreicher – am Ende kommt es nicht auf den Namen an, sondern vor allem auf den Geschmack, oder?«, warf ein anderer Kursteilnehmer launig ein.
Theobald ließ sich nicht länger bitten und leitete die Verkostung ein.
Auch Paul wurde großzügig eingeschenkt, und als er den süßlich prickelnden Duft aufschnappte und sich auf den ersten Schluck freute, erlebte er einen jener Glücksmomente, die sich in seinem Leben in letzter Zeit sehr rargemacht hatten.
Zufrieden lehnte er sich zurück und war einmal mehr froh darüber, dass er sich nicht von Jasmin zum Detektivspielen hatte überreden lassen. So sorglos wie dieser Tage hatte er sich lange nicht gefühlt.
Bethany hatte den ganzen Tag lang gut aufgepasst. Noch einmal sollte es nicht passieren, dass man sie heimlich belauschte und beobachtete. Solange sie sich in ihrer Kabine aufhielt, ließ sie das Fenster nur selten aus den Augen. Stets in der Erwartung, dass sich der Fremde erneut zeigen würde. Auch bei dem kurzen Gang an Deck, der sie zum Speisesaal und wieder zurück führte, blieb sie höchst aufmerksam und sondierte ihre Umgebung.
Zwar hielt sich noch immer Polizei an Bord des Schiffes auf, sodass sie sich einigermaßen behütet fühlen sollte. Doch dieses Sicherheitsgefühl hatte sich bei ihr nicht recht einstellen wollen. Sie setzte keine besonders großen Stücke auf die Ordnungshüter anderer Länder, die wahrscheinlich eher Verwarnungen aussprachen als von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen.
Zum x-ten Mal an diesem Tag kontrollierte sie die Zimmertür und die zum Balkon. Beide waren verriegelt, sodass der Mann keine Chance hatte, hineinzugelangen. Es sei denn, er würde eine der Türen aufbrechen, was allerdings eine Menge Aufmerksamkeit erregen würde. Jemand würde den damit verbundenen Lärm hören und Bethany zu Hilfe eilen. In dieser Hinsicht konnte sie also beruhigt sein.
Wieder lugte sie aus dem Fenster und suchte das Ufer nach ihrem unheimlichen Beobachter ab. Doch er ließ sich nicht blicken. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Seit ihr unheimlicher Beobachter das letzte Mal aufgetaucht war und sich dabei beinahe von Kommissarin Stahl hätte erwischen lassen, war ein ganzer Tag verstrichen. Hielt er sich also inzwischen nicht mehr in der Nähe auf? War er abgereist und ließ sie fortan in Frieden? Oder aber lauerte er nach wie vor irgendwo dort draußen und wartete auf seine Gelegenheit? Auf den rechten Moment, in dem er sich Bethany nähern konnte und sie ihm schutzlos ausgeliefert wäre?
Ihr fröstelte bei diesem Gedanken, und sie rang mit sich, ob sie das Angebot der Kommissarin nicht annehmen und sie anrufen sollte. Denn vielleicht würde ihr die Polizistin ja doch helfen können …
Bethany straffte die Schultern und beschloss, die Selbstzweifel zu vertreiben. Sie war stark genug, um die Zeit bis zu ihrem baldigen Abflug durchzuhalten und Gefahren aus dem Weg zu gehen. Je mehr sie an sich selbst glaubte, desto mehr kehrte der Optimismus zurück. Dieser wurde umso größer, als sie beobachtete, wie die Mannschaft die Abfahrt des Schiffes vorbereitete: Die Taue wurden gelöst, das sonore Brummen der Dieselmotoren versetzte den Kabinenboden in ein leichtes Zittern.
Nun würde es gleich losgehen, dachte sich Bethany und fühlte, wie die Angst von ihr abfiel. Sie ging davon aus, dass der Mörder ihres Mannes momentan nicht an Bord war. Zumindest hatte sie niemanden gesehen, der dem Mann vom Balkon ähnlich sah. Und während der Fahrt würde der Fremde nicht so leicht an sie herankommen. Das beruhigte sie.
Bloß vor der Einsamkeit der Nacht, die schon bald anbrechen würde, fürchtete sie sich sehr.
Seine ersten Erfahrungen mit dem Klosterleben hatte Paul nun gesammelt, als er sich am Abend in seine Kammer zurückzog: Er hatte – neben der lehrreichen Weinverkostung – der Neugierde halber an einer Gebetsrunde teilgenommen und dabei den Abt kennengelernt: ein stattlicher Ein-Meter-Neunzig-Mann mit weißem Haarkranz, ebenso weißen, buschigen Augenbrauen und einer Stimme, die die Kapelle mühelos bis in den letzten Winkel beschallen konnte. Auch einen Eindruck von der Qualität der Klosterküche konnte Paul gewinnen, und er hatte schon nach seiner ersten Mahlzeit begriffen, dass er in diesem Punkt mit den Klosterregeln würde brechen müssen. Sollte er sich die nächsten zwei Wochen ausschließlich von der klösterlichen Kost ernähren, wäre er am Ende seines Aufenthalts verhungert, so viel stand fest. Daher nahm er sich vor, sich hin und wieder eine Auszeit von seiner Auszeit zu gönnen und in einem der netten Weinlokale in der Umgebung einzukehren.
Während er auf der harten Pritsche seines Bettes lag und den Blick gedankenverloren durchs Halbdunkel des Zimmers gleiten ließ, überfiel ihn ein Gefühl von Wehmut, als ihm die Abendessen mit Katinka in den Sinn kamen. Da sie tagsüber viel zu tun hatte, war ihr gemeinsames Speisen oft die einzige Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Deshalb war ihnen die abendliche Zweisamkeit besonders wichtig. Sie nahmen sich Zeit dafür und zelebrierten das Kochen und Genießen zu zweit in ihrer Wohnküche. Damit war es vorerst vorbei. Seit dem Rauswurf aus ihrer Wohnung hatte es weder ein Frühstück noch eine gemeinsame Mittagspause und schon gar kein Abendessen in trauter Zweisamkeit mehr gegeben. Das fehlte ihm sehr – wie vieles andere auch, das die Zeit an Katinkas Seite für ihn so angenehm, erfüllend und wichtig gemacht hatte.
Paul lauschte in die Stille, die dank der abschirmenden Wirkung der dicken Mauern so tief war, dass nicht der geringste Laut bis zu ihm durchdrang. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass nichts und niemand einen ablenkenden Einfluss auf die innere Einkehr haben konnte. Das mochte ein Vorteil sein, überlegte Paul, doch konnte es sich auch zu einem Nachteil auswachsen. Jetzt zum Beispiel, da sich Paul mit seiner Traurigkeit über das vorläufige Ende seiner Beziehung mit Katinka alleingelassen fühlte und weder das Brummen eines vorbeifahrenden Autos noch Kinderkichern aus dem Nachbarhaus oder das Miauen einer Katze im Garten für Ablenkung sorgen und ihn auf andere Gedanken bringen konnten. Die undurchdringliche Stille, die karge Einrichtung des Zimmers und das gedämpfte Licht entfalteten ihre Wirkung und zwangen Paul dazu, sich mit seinen ureigensten Problemen auseinanderzusetzen.
Hannes Fink hatte recht gehabt: An diesem Ort, umgeben von uralten Klostermauern, würde er sich seinen inneren Dämonen stellen müssen, ohne eine Möglichkeit zu haben, die Flucht in der Zerstreuung zu suchen. Es gab keinen Ausweg, es sei denn, Paul würde seinen Aufenthalt mit sofortiger Wirkung abbrechen und abfahren. Doch das wäre feige und er würde sich weiter im Kreis drehen. Zu Hause warteten ja nur die hinlänglich bekannten Fragen auf ihn – und ebenso die Einsamkeit.
Während er über sich und die Ungerechtigkeit der Welt nachsann und nach Wegen aus seiner persönlichen Krise suchte, wurde er auf ein Geräusch aufmerksam. Ganz so totenstill wie zunächst angenommen war es hier also doch nicht, dachte er und spitzte die Ohren. Was er hörte, war eine Art leises Tapsen. Nein, kein Tapsen, zumindest nicht das eines Tieres. Wie er nun erkannte, handelte es sich um Schritte. Da ging jemand durchs Treppenhaus. Oder täuschte er sich?
Paul hörte genau hin. Jetzt war es eindeutig: Sohlen auf dem Steinfußboden draußen im Flur. Gleichmäßig, ohne Überschwang und Hast. Jemand, der Zeit hatte und doch genau wusste, wohin er wollte. Etwa zu ihm? Um diese Uhrzeit? Ob Bruder Theobald ihn aufsuchen wollte? Aber warum? Hatte der Mönch ihm noch etwas zu sagen?
Vielleicht handelte es sich auch bloß um einen der anderen Klostergäste, der auf dem Weg in seine Kammer war, überlegte Paul und blieb auf seiner Matratze liegen. Mit der Konzentration auf seine innere Stimme war es nun allerdings vorbei, denn unwillkürlich lauschte er weiter den Schritten.
Für die Spanne eines Gedankens hoffte Paul, dass der Besuch einem der anderen Zimmer gelten sollte. Er wollte nicht, dass ihn heute noch jemand störte. Die Hoffnung schwand, so schnell sie gekommen war. Die Schritte wurden lauter und kamen näher, ohne zu verhalten.
Nur noch wenige Meter bis zu seiner Tür, schätzte Paul und fragte sich: Hatte er abgeschlossen? Nein, daran hatte er nicht gedacht. Warum auch? Was sollte schon passieren in einem Kloster?
Die Schritte hallten von der hohen Decke des Gangs wider. Gleich müssten sie sein Zimmer erreicht haben, spekulierte Paul und wartete darauf, dass der Unbekannte vorbeiging, um doch noch in irgendeinem Raum am Ende des Flurs zu verschwinden.
Doch das tat er nicht. Gerade als die Schritte am deutlichsten zu hören waren, setzten sie plötzlich aus. Der Besucher musste direkt vor Pauls Tür stehen geblieben sein. Also doch Theobald, nahm Paul an und richtete sich auf seiner Pritsche auf. Der Mönch würde sicher nur etwas mitzuteilen haben und nicht lange bleiben.
Paul rechnete mit einem Klopfen oder Rufen. Aber nichts geschah.
Er spürte, wie sich sein Körper anspannte. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte er.
Einige lange Sekunden blieb es still. Dann vernahm er ein leises Quietschen, so als würde jemand am Türknopf drehen. Paul war drauf und dran aufzustehen und nachzusehen, was los war. Doch er witterte Gefahr und blieb auf der Lauer.
Es folgte ein weiteres Quietschen. Das Scharnier der sich öffnenden Tür? Paul konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Denn im Zimmer war es zu dunkel, und ein als Windfang dienender Vorhang verhinderte den Blick auf den Eingang.
Pauls innere Anspannung wuchs. Ganz genau sah er hin und konzentrierte sich auf den schweren, dunklen Stoff des Vorhangs, der leise zu schwanken begann. Pauls Hals wurde trocken, seine Fäuste ballten sich wie von selbst. Er fühlte, wie die Unruhe von ihm Besitz ergriff. Nun stand er auf, bereit sich zu wehren. Er sah sich in dem schmalen Raum um. Sein Blick fiel auf einen Briefbeschwerer auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster. Das Metall kühlte seine Handfläche und beruhigte ihn wie ein Freund, der einem Mut macht.
Der Unbekannte war jetzt ganz nah. Paul hörte seine Schritte unmittelbar hinter dem Windfang. Was tat er da? Was wollte er von ihm?
Paul atmete flach und lautlos. Er war jetzt hellwach. Jederzeit bereit, den Briefbeschwerer für seine Verteidigung einzusetzen.
Dann ging das Licht an.
Jasmin besuchte das Sportzentrum an der Leyher Straße, weil sie ihr Hobby hier – fast wie im Urlaub – auf Sand praktizieren konnte. Beachvolleyball ging deutlich mehr in die Beine als die Hallenbodenvariante und kam ihrer Kondition zugute. Außerdem verstand sie sich prima mit den anderen Spielerinnen und Spielern, eine bunt gemischte Gruppe aus älteren und jüngeren Freizeitsportlern, die sich mehr oder weniger regelmäßig trafen.
Erschöpft ließ sie sich in einer Spielpause auf eine Bank fallen und zog eine große Wasserflasche aus ihrer Trainingstasche. Dabei wurde sie auf ihr Handy aufmerksam, das brummend vibrierte. Jasmin schielte auf die Nummer und ordnete sie ihrem Assistenten zu. Was Schlelein wohl um diese Uhrzeit von ihr wollte? Es war nach halb zehn. Eigentlich hatte sie ja längst Feierabend und wenig Lust, ihren Sport zu unterbrechen. Aber natürlich überwog ihr Pflichtgefühl. Immerhin steckten sie mitten in einer Mordermittlung.
»Yes?«, meldete sie sich flapsig.
»Chefin, sind Sie das?«, vergewisserte sich der leicht verunsichert klingende Schlelein.
Chefin – wie sie dieses Wort hasste! »Was gibt es?«, fragte sie ungehalten.
»Sie hatten mich beauftragt, mehr über den Elvis-Imitator in Erfahrung zu bringen. Seine Agentur zu kontaktieren und seine Daten zu checken.«
Ja, das hatte sie, doch war sie davon ausgegangen, dass Schlelein das erst morgen erledigen würde. Denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so bald jemanden bei der Künstlervermittlung erreichen würde.
Schlelein überraschte sie in weiteres Mal mit seinem Eifer – und mit einem handfesten Ermittlungserfolg: »Von der Reederei habe ich den Namen der Agentur erhalten, mit der die Schiffseigner schon seit vielen Jahren zusammenarbeiten. Auch bei der Agentur habe ich jemanden an die Strippe bekommen – gerade noch rechtzeitig, denn die wollten schließen, als ich anrief.« Wie Schlelein erläuterte, habe die Agentur mit nur wenigen Informationen über den Künstler aufwarten können, da er nicht zum Stammpersonal zähle. »Immerhin konnten sie mir die persönlichen Daten nennen. Zumindest die, die auf seiner Karteikarte notiert waren. Der bürgerliche Name wurde uns bestätigt: Elvis heißt im wahren Leben Klaus Baumann, wohnhaft in Eisenach.«
»Hat Herr Baumann auf seiner Künstlerkarte eine Telefonnummer angegeben?«
»Ja, eine Nummer für ein Handy. Allerdings eines ohne Vertragsbindung. Ich tippe auf eine Prepaid-Karte, die mittlerweile entsorgt worden ist. Jedenfalls ist der Anschluss tot.«
»Okay«, sagte Jasmin. »Gut gemacht. Wissen wir, wie dieser Klaus Baumann unterwegs ist? Irgendwie muss er ja vom Hafen weggekommen sein.«
»Bei der Taxizentrale habe ich nachgefragt. Die haben einige Fahrer genannt, die am Hafen im Einsatz waren. Bei den meisten Touren waren Amerikaner an Bord, die sich die Stadt ansehen wollten. Eine Sammeltaxe wurde von einer Gruppe Besatzungsmitglieder geordert.«
»Und? War unser Mann dabei?«
»Nein, Fehlanzeige.«
»Schade, dann kommen wir auf diesem Wege nicht weiter.«
»Das würde ich so nicht sagen. Ein anderer Chauffeur glaubt, sich an den Fahrgast, den wir suchen, zu erinnern. Besagter Kunde hatte – im Gegensatz zu den Tagestouristen und den Crew-Mitgliedern – einen großen Koffer dabei, woraus sich schließen lässt, dass er die Bootsfahrt nicht fortsetzen wird. Daher ist anzunehmen, dass es sich um Elvis alias Klaus Baumann gehandelt hat. Allerdings war das erst gestern Nachmittag und damit deutlich später, als Baumann von Bord ausgecheckt hatte. Er muss sich also noch eine ganze Weile in der Nähe des Schiffes aufgehalten haben.«
»Mmh. Das muss nicht unbedingt ein Ausschlusskriterium sein. Im Gegenteil: Es belegt, dass es wirklich Baumann gewesen sein kann, den ich beim Ausspähen von Bethanys Kabine überrascht habe. Zeitlich käme es genau hin.« Jasmin war überaus zufrieden mit den neuen Erkenntnissen und erkundigte sich: »Ist bekannt, wo Baumanns Taxifahrt hinging?«
»Ja, laut den Angaben des Fahrers zu einer Autovermietung in der City. Ich habe Name und Adresse vorliegen.«
»Fleißig, fleißig, Herr Kollege. Dann haben Sie sicher auch schon Baumanns personenbezogene Daten in den Computer eingegeben.«
»Ja, alles unauffällig. Auch das polizeiliche Führungszeugnis ist ohne Einträge.«
»Wir bleiben trotzdem am Ball, denn das stillgelegte Handy ist mehr als verdächtig«, entschied Jasmin und sah zu ihren Mitspielern hinüber, die weitermachen wollten.
»Gern. Was soll ich als Nächstes tun? Der Autovermieter hat leider schon geschlossen.«
»Was Sie tun sollen? Nach Hause gehen! Morgen ist auch noch ein Tag.«
Jasmin fühlte sich verpflichtet, ihren jungen Mitarbeiter vor weiteren Überstunden zu bewahren. Immerhin hatte sie als seine Vorgesetzte ja eine Fürsorgepflicht. Dennoch spürte sie ein erwartungsvolles Kribbeln in sich aufsteigen, als sie über Alleinunterhalter Baumann nachdachte. Sein unauffälliger Lebenswandel konnte bedeuten, dass er nichts mit dem Fall zu tun hatte – andererseits konnte er genauso gut eine Ablenkung von der wahren Profession dieses Mannes sein. Eine Tarnung, eine Täuschung. Ganz ähnlich wie sein Auftreten als Elvis Presley.
Geblendet von der aufflammenden Deckenleuchte hielt sich Paul die Hand vor die Augen. Als er sie wieder herunternahm und in die plötzliche Helligkeit zwinkerte, erkannte er die Silhouette eines kräftig gebauten Mannes vor der Tür. Dieser hatte den Windfang beiseitegeschoben, seine andere Hand lag noch über dem Lichtschalter.
»Wer … wer sind Sie?« Paul wurde bewusst, dass er noch immer den Briefbeschwerer umklammerte.
»Oh, es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
Der Mann kam näher. Er war etwas kleiner als Paul, hatte ein rundes, nichtssagendes Gesicht und zurückgehendes dunkelblondes Haar. Paul schätzte ihn auf Anfang bis Mitte vierzig. Der Mann trug Freizeitkleidung und wirkte alles in allem nicht wie ein Einbrecher. Obwohl sich Paul nicht sicher war, wie denn ein Einbrecher eigentlich auszusehen hatte.
»Balder«, stellte sich der Mann vor und streckte Paul seine Hand entgegen. »Carsten Balder. Ich bin Ihr Mitbewohner. Wir teilen uns diese Kammer.«
Paul legte den Briefbeschwerer beiseite und schlug ein. Sein Lächeln geriet dabei ziemlich bemüht, denn er kam sich albern vor, dermaßen hasenfüßig auf den unerwarteten Besucher reagiert zu haben. »Paul Flemming ist mein Name. Theobald sagte mir, dass Sie heute anreisen wollten. Aber um diese Zeit hatte ich nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
Balder hob seine Schultern. »Ja, eigentlich wollte ich viel früher da sein, aber die Fahrt hierher war die Hölle. Ein Stau nach dem nächsten.«
»Na dann: Herzlich willkommen!« Paul trat einen Schritt zur Seite, damit sich der Neuankömmling in dem Raum umsehen konnte. Doch dem reichte ein flüchtiger Blick, um die Ecke mit seiner Schlafgelegenheit und den schmalbrüstigen Kleiderschrank direkt daneben zu entdecken.
»Bad und WC sind …«, setzte Paul an, wurde aber von Balder unterbrochen.
»… am Ende des Flurs«, setzte dieser den Satz fort und erklärte mit einem wissenden Lächeln: »Ich kenne mich aus. Das ist nicht mein erster Aufenthalt hier. Ich komme immer mal wieder vorbei, wenn ich meine, dass ich es nötig habe.«
»Damit haben Sie mir einiges voraus«, meinte Paul.
»Womit? Damit, dass ich es nötig habe?« Balder lachte über seine kleine Wortspielerei. »Nein, im Ernst: Ich kann das Jakobus-Kloster wärmstens empfehlen. Ein wahrer Tempel der Ruhe und Besinnung.«
»Hoffentlich wird es nicht zu ruhig«, äußerte Paul seine Bedenken. Denn inzwischen war er ganz froh, dass er die Abgeschiedenheit seiner Kammer nicht mehr mutterseelenallein ertragen musste.
»Meinen Sie ruhig im Sinne von langweilig?«, erkundigte sich Balder. »Keine Bange, der erste Eindruck täuscht. Selbst an einem so heiligen Ort wie diesem gibt es nicht nur fromme Sprüche und Bußfertigkeit. Die Mönche sind lebenslustige Gesellen. Sie sollten mal die gemeinsamen Weinproben im Refektorium erleben, oder sind Sie schon in den Genuss gekommen?«
»Ja, einen kleinen Vorgeschmack habe ich bereits bei Bruder Theobald bekommen.«
»Ein wahres Highlight ist es, wenn der Abt persönlich zur Verkostung einer neuen Charge Kerner, Bacchus oder Scheurebe bittet. Dann tauchen plötzlich alle auf, ein Kuttenträger nach dem anderen. Zuerst stehen sie etwas schüchtern am Rande und lassen den Gästen den Vortritt. Bevor sie selbst trinken, singen sie, mehrstimmig und melancholisch. Vor jedem Glas stimmen sie den Gesang aufs Neue an und werden dabei immer inbrünstiger. Auch die Trinksprüche von Bruder Theobald wachsen sich spätestens nach dem dritten Glas in epische Breiten aus. Da bekommt man einen Eindruck, wie seine Osterepisteln aussehen könnten. Und am Ende gibt es meistens weißen Traubenschnaps.«
»Die Weinverkostung, die ich besucht habe, lief weitaus braver ab. Doch es hört sich wirklich vielversprechend an, was Sie erzählen«, fand Paul, der den Schrecken über Balders überraschendes Auftauchen nun vollends überwunden hatte.
»Es hört sich nicht nur gut an, sondern ist es auch!«, meinte Balder voller Überschwang. »Nur an der Klosterküche müssten sie noch arbeiten. Die ist – gelinde gesagt – unter aller Kanone. Aber auch das ist kein Problem, wenn man sich in der Gegend auskennt und weiß, wo die guten Wirtshäuser liegen.«
»Aber ist es nicht Sinn der Sache, im Kloster zu bleiben, um die Welt da draußen für ein paar Tage hinter sich zu lassen?«, wandte Paul ein, obwohl er ja schon selbst mit einem Ausbruch geliebäugelt hatte.
Balder winkte ab. »Ach was!« Er zog einen großen Rollkoffer in seine Schlafnische, behielt aber seine Jacke an. »Sobald die Nachtruhe anbricht, kräht kein Hahn mehr nach den Klosterregeln. Man kann sich für ein paar Stunden davonstehlen, ohne dass es jemandem auffällt.« Seine Augen leuchteten, als er vorschlug: »Sie haben heute sicher auch noch nichts Vernünftiges zwischen die Rippen bekommen. Was halten Sie von einer kleinen Spritztour? Ich kenne einen Gasthof ganz in der Nähe, der auch nach neun warme Küche hat – eine echte Ausnahme in Franken.« Im gleichen Atemzug hielt er Paul erneut seine Hand entgegen und sagte. »Ich bin übrigens der Carsten. Und ich darf dich Paul nennen, ja?«
Pauls neuer Duzfreund hatte nicht übertrieben: Als sie keine halbe Stunde später im Gastraum der Blauen Traube saßen und sich das Winzermenü schmecken ließen, merkte Paul, wie seine Lebensgeister zurückkehrten und es ihm gelang, seine trüben Gedanken, die ihm zu dem Klosteraufenthalt bewogen hatten, eine Zeit lang zu vergessen.
Wie fürs fränkische Weinland typisch, spielte das Essen fast schon eine untergeordnete Rolle und wurde von der Qualität des flüssigen Goldes in den Schatten gestellt. So genoss Paul, der Biertrinker, zur Vorspeise einen Escherndorfer Lump. Eine hellgelb leuchtende Riesling-Spätlese, deren Aromen ihn an Apfel, Pfirsich und Zitrone denken ließen und die ebenso spritzig wie lebendig schmeckte. Zum Hauptgang mit Geflügel wählte Paul auf Anraten der Wirtin einen Dertinger Mandelberg, ein trockener Schwarzriesling. Für Paul eine Premiere. Neugierig musterte er das Glas und hielt es gegen das Licht. Helles Ziegelrot mit leicht bräunlichem Einschlag ließ auf einen gereiften Wein schließen, der fruchtige Duft von Erdbeeren sprach jedoch für das Gegenteil. Paul kostete: Der Geschmack von reifen Früchten und einem Hauch von Himbeere machten diesen Tropfen zu einem besonders delikaten Trinkgenuss, dem er sich allzu gern hingab.
Er wählte Käse zum Dessert und ließ sich dazu einen Süßholz bringen, eine im Barrique gereifte Trockenbeerenauslese. Paul schnupperte ausgiebig und meinte kandierte Orangen, Honigwaben und Karamell zu erkennen. Schon der erste Schluck war ein einzigartiger Genuss. Sehr süß, aber von Gott geschenkt!
»Du wirkst zufrieden«, stellte Carsten fest, der sich bei seiner Weinauswahl ebenfalls nicht hatte lumpen lassen.
»Bin ich auch«, meinte Paul und freute sich darüber, dass sein zweiter Tag im Kloster einen so angenehmen Ausklang gefunden hatte. Nun war er bereit, sich mehr auf seinen Stubenkameraden einzulassen und erkundigte sich nach dessen Beruf.
»Handelsvertreter«, antwortete Balder. »Büro- und Schreibwaren. Nichts Aufregendes, aber es ernährt seinen Mann.« Nach einem tiefen Blick in sein fast leeres Weinglas sagte er: »Könnte ich noch mal anfangen, würde ich in Medizintechnik machen. Ein Bekannter von mir verkauft Herzschrittmacher und kassiert deutlich über Hunderttausend im Jahr.«
»Familie?«, fragte Paul.
»Geschieden«, entgegnete Balder. »Nach siebzehn mehr oder weniger glücklichen Jahren. Da wir keine Kinder haben, lief es kurz und schmerzlos über die Bühne.« Er sah auf und musterte Paul forschend. »Und was treibst du so?«
»Im Moment herzlich wenig«, antwortete Paul. Er fasste Vertrauen zu dem leutseligen Schreibwarenvertreter und beschloss, ihm sein Herz auszuschütten. Er erzählte ihm von seiner Schaffenskrise als freiberuflicher Fotograf, den Problemen in seiner Ehe und machte auch aus seinem Kummer um die abtrünnige Stieftochter keinen Hehl. Nur die Gründe für den Bruch mit ihr behielt er für sich. Balder erwies sich als aufmerksamer Zuhörer.
Das Reden tat Paul gut. Mehr noch als der exquisite Wein, den er im Laufe dieses fortgeschrittenen Abends im Übermaß genoss.
Die Rote Bar in der Peter-Vischer-Straße, ziemlich stylisch und mit farbenfrohen Kunstwerken gespickt, war bereits die dritte Station an diesem Abend oder vielmehr in dieser Nacht. Jedes Mal hatte Katinka einen Cocktail bestellt und spürte die Wirkung des Alkohols nur zu deutlich. Auch ihre Freundin Astrid kicherte mehr als sonst.
Trotzdem war ans Nachhausegehen für Katinka nicht zu denken. Allein in der großen Wohnung an der Kleinweidenmühle würde ihr die Decke auf den Kopf fallen. Dort würde sie die Sehnsucht nach Paul heimsuchen und sie womöglich dazu verführen, die selbst auferlegte Funkstille mit ihm zu brechen. Was sie nicht wollte. Denn im Gegensatz zu Hannah mit ihrer wieder erwachten Großherzigkeit hatte Katinka vor, sich treu zu bleiben, konsequent zu sein und ihren Mann schmoren zu lassen. Zumindest noch ein Weilchen.
Natürlich merkte Astrid sehr bald, dass Katinkas Heiterkeit nur aufgesetzt und ihr in Wahrheit überhaupt nicht danach zumute war, bis nach Mitternacht um die Häuser zu ziehen. »Es ist Paul, richtig?«, fragte Astrid und sah Katinka aus ihren forschenden braunen Augen an. »Er will dir nicht aus dem Kopf gehen. Nicht mal für ein paar Stunden, wenn du dich mit deiner Freundin amüsieren willst.«
»Was soll ich sagen …« Katinka streckte die Waffen. »Allmählich denke ich, dass ich mir mit Pauls Rausschmiss einen Bärendienst erwiesen habe. Ich leide mehr darunter als er. Diese Trennung auf Zeit ist verflucht schwer durchzuhalten.«
»Du leidest mehr als er? Woher willst du das wissen? Vielleicht geht es ihm dabei noch dreckiger als dir.«
»Glaube ich nicht. Dazu ist er zu phlegmatisch. Paul steckt so etwas weg, er ist ein Meister des Verdrängens und der Ablenkung«, sinnierte Katinka mit stumpfem Blick in ihren halb geleerten Caipirinha-Becher.
»Womit sollte er sich denn ablenken?«, erkundigte sich Astrid und mutmaßte: »Etwa mit einer anderen Frau? Traust du ihm das zu?«
»Nein«, antwortete Katinka. »Obwohl – wer weiß …?«
»Ernsthaft?«, hakte Astrid nach.
Katinka schüttelte energisch den Kopf. »Nein, schon eher mit einem neuen Kriminalfall. Du weißt ja: Pauls altes Laster ist das Detektivspielen. Obwohl er sich etliche Male eine blutige Nase geholt hat, kann er das Schnüffeln nicht lassen.«
»An ihm ist eben ein Kriminalkommissar verloren gegangen«, versuchte es Astrid zurück auf die humorige Schiene zu bringen.
Doch Katinka blieb ernst, als sie sagte: »Im Moment könnten wir einen wie Paul tatsächlich gebrauchen. Du hast gewiss von dem Toten auf dem Kanalschiff gehört.«
»Der ermordete Amerikaner? Aber sicher. Die Zeitungen sind ja voll davon.«
»Was es für meine Branche nicht leichter macht«, gab Katinka ihre Gedanken preis. »Der öffentliche Druck ruft die Politik auf den Plan – und wenn die Ermittlungen stocken, kann diese einem den Job zur Hölle machen.«
»So schlimm?«
»Schlimmer! Da ist ein Senator an Bord, der durch uns seinen Urlaub verdorben sieht. Mittlerweile hat sich die amerikanische Botschaft in Berlin eingeschaltet und zeigt sich wenig begeistert von der deutschen Polizeiarbeit. Das fällt nicht nur der Kripo auf die Füße, sondern auch der Staatsanwaltschaft. Wir stehen gehörig unter Druck. Ich konnte daher gar nicht anders, als das Schiff weiterfahren zu lassen, obwohl der Fall nicht abgeschlossen ist.«
Astrid sog ausgiebig am Strohhalm ihres Drinks, bevor sie fragte: »Arbeitet unsere Polizei denn wirklich so schlampig, wie es die Amis behaupten?«
»Das kann ich nicht bestätigen. Die Meinungen über den leitenden Ermittler Hauptkommissar Schnelleisen mögen geteilt sein. Aber ich stehe voll und ganz hinter seiner These, dass wir es mit einem Fall von Bandenkriminalität zu tun haben, wahrscheinlich gesteuert aus dem Ausland. Ähnlich wie es bei den meisten Wohnungseinbrüchen und Rauben im Nürnberger Raum derzeit der Fall ist, nur dass es sich bei dem Tatort diesmal um ein Schiff handelt.« Resigniert fügte sie hinzu: »Wenn das zutrifft, stehen die Chancen auf eine Aufklärung bei null. Da muss man realistisch sein. Der vorgeschickte Täter ist inzwischen längst zurück in seinem Herkunftsland«, erklärte Katinka.
Was sie nicht sagte, sondern wohlweislich für sich behielt, war ihre heimliche Hoffnung auf einen Ermittlungserfolg von Jasmin Stahl. Sie traute der talentierten Ermittlerin weit mehr zu als deren Vorgesetztem, würde das aber nicht zugeben. Schon gar nicht gegenüber Astrid. Denn ihre Freundin wusste von der Affäre, die sich Paul vor einigen Jahren geleistet hatte, als er Katinkas beruflich bedingte Abwesenheit dazu ausgenutzt hatte, mit Jasmin ins Bett zu springen. Astrid würde es kaum verstehen, dass Katinka nun auf die Rivalin von einst setzte.
Nein, nein, dachte Katinka. Es war besser, darüber zu schweigen und lieber noch einen Cocktail zu bestellen. Sie stöberte in der Getränkekarte und entschied sich spontan für einen Lady Killer.