Donnerstag, 7. September

Jasmin Stahl war – Timo Schlelein sei Dank! – ein ganzes Stück weitergekommen. Schon in aller Frühe hatte sie einige Telefonate erledigt. Über die Autovermietung, bei der Klaus Baumann vom Taxichauffeur abgesetzt worden war, gelangte sie an weitere Daten über den Entertainer und wusste nun, dass er sich für einen VW-Golf entschieden hatte. Den Wagen hatte er am späten Dienstagnachmittag ordnungsgemäß wieder abgegeben, und zwar bei einer Dependance der Autovermietung in Würzburg. Von dort aus sei er in einen Bus gestiegen, wie ihr der Mann aus der Autovermietung sagen konnte. Das habe er genau gesehen, denn die Bushaltestelle liege direkt gegenüber von seinem Schalter.

Das alles konnte wenig bis gar nichts mit ihrem Fall zu tun haben – oder aber auch alles. Dass Baumanns Künstleragentur so rudimentär über ihn Bescheid wusste, bestärkte Jasmin ebenso in ihrem Verdacht gegen Baumann wie die nicht mehr genutzte Mobilfunknummer. Auch die Wahl von Baumanns Transportwegen, für die er sich nach Verlassen des Schiffs entschieden hatte, ließen sie zumindest stutzen: erst ein Taxi, dann ein Mietwagen, anschließend ein Bus. Der häufige Wechsel von Verkehrsmitteln sprach für eine Verschleierungstaktik. Wollte Baumann mögliche Verfolger abschütteln oder sich den Fragen der Polizei entziehen?

Je länger Jasmin darüber nachdachte, desto stimmiger wurde das Bild: Baumann hatte einen Golf als Mietwagen genommen. Durchschnittliche Mittelklasse und somit unauffällig. Eine gute Entscheidung, wenn er sich im Hintergrund halten und Aufsehen vermeiden wollte.

Ebenso unauffällig waren offenbar seine Papiere, die er dabei vorzeigen musste, denn die Autovermietung hatte sie ja akzeptiert. Jasmin zweifelte jedoch daran, dass sie einer genaueren Überprüfung standhalten würden. Denn wenn Klaus Baumann das war, was sie mehr und mehr vermutete, lautete sein wahrer Name ganz anders. Sie hatte es mit einem Berufsverbrecher zu tun. Seine Identität war womöglich eine ebensolche Täuschung wie seine Auftritte als Elvis. Beides hatte unter Umständen einzig und allein dem Zweck gedient, einen Mord zu begehen und unerkannt davonzukommen.

Jasmin, die sich in ihrem Büro eingeigelt hatte und auf die vor ihr liegenden Tatortfotos starrte, versuchte den Abend des Mordes mit Baumann in der Rolle des potenziellen Täters zu rekonstruieren.

Wie könnte er abgelaufen sein?

Sollte Baumann mit Vorsatz gehandelt und einen zuvor erdachten Plan verfolgt haben, so hatte er anfangs sicherlich an seiner Routine festgehalten. Er war nach der letzten Zugabe seiner Elvis-Show von der Bühne abgetreten und hatte sich beim Barpersonal verabschiedet. Anschließend konnte er ohne Hast zu seinem Quartier gehen, wo er höchstwahrscheinlich die Waffe deponiert hatte, um danach die Kabine der Zielperson aufzusuchen. Baumann hatte von der Bühne aus ja beobachten können, wie Bryan Dexter sich von seiner Frau verabschiedet und die Bar verlassen hatte. Daher durfte er davon ausgehen, ihn schlafend im Bett vorzufinden. Tatsächlich hatte er Dexter in seinem Zimmer angetroffen, zwar noch wach, wofür die Auffindesituation der noch voll bekleideten Leiche sprach, aber das machte keinen Unterschied: Dexter kam wahrscheinlich nicht mehr dazu zu schreien, denn bevor er begreifen konnte, was vor sich ging, hatte Baumann bereits abgedrückt. Ein Schalldämpfer absorbierte den Knall der Schüsse. Seine Flucht zurück in sein Quartier hatte er ebenso ruhig und besonnen vollziehen können wie alles andere. Im menschenleeren Flur war er wahrscheinlich keinem potenziellen Zeugen begegnet. Und selbst wenn, hätte er nur freundlich grüßen und so etwas wie »Endlich Feierabend« murmeln müssen. Niemand hätte Verdacht geschöpft, denn Elvis gehörte ja zum Personal.

Ja, dachte Jasmin und spürte eine prickelnde Aufregung in sich aufsteigen. Genauso könnte es sich abgespielt haben. Noch fehlte ihr dafür zwar jeglicher Beleg, und auch an einem Motiv haperte es, doch vieles von ihrer Theorie ließe sich durch eine Vernehmung von Klaus Baumann überprüfen. Also musste es ihr oberstes Ziel sein, ihn aufzuspüren. Dafür allerdings benötigte sie grünes Licht von ihrem Boss.

Zwei Minuten später stand sie in Hauptkommissar Schnelleisens Büro, eines der größten im Polizeipräsidium. Die Wände waren behängt mit gerahmten Fotos, die Schnelleisen beim Shakehands mit dem Polizeipräsidenten, Oberbürgermeister und Innenminister zeigten. Einen weiteren Blickfang bildete der Wimpel, der auf dem Schreibtisch stand: Er trug die fränkischen Farben Weiß und Rot. Sicherheitshalber hatte er das blauweiße Rautenmuster der Bayern danebengestellt. Man konnte ja nie wissen, wer das Büro betrat und in welchen Teil des Freistaats Schnelleisen sein Weg nach oben noch führen würde. Jasmin konnte sich gut vorstellen, dass ihm die Rolle eines Staatssekretärs in München gut gefallen würde.

Kurz und bündig brachte sie ihr Ansinnen vor und legte dar, dass es neben der Raubmordvariante eine weitere Möglichkeit gebe, der man nachgehen sollte.

»Fangen Sie schon wieder damit an?«, fragte Schnelleisen und rollte mit den Augen.

Jasmin ließ sich nicht beirren und berichtete ihm von ihrer aktuellen Spur und den Schlüssen, die sie daraus zog.

»Wollen Sie mir ernsthaft die Story von einem bezahlten Mörder aufbinden?«, fragte Schnelleisen und machte keinen Hehl daraus, dass er das für eine Schnapsidee hielt. Er drückte seinen Zeigefinger auf eine Akte, die am Rand seines Schreibtisches lag. »Das hier ist das Vernehmungsprotokoll von Bethany Dexter«, sagte er. »Von Ihnen höchstpersönlich geschrieben, liege ich da richtig?«

»Ja, aber …«

»Mit keinem Wort geht daraus hervor, dass die Dexters in kriminellen Kreisen verkehrt haben, in denen es zu so etwas wie einem gekauften Mord kommen kann. War der Tote nicht in der Möbelbranche tätig? Soviel ich weiß, sind Auftragsmorde da nicht gerade an der Tagesordnung.«

»Das nicht, aber …«

»Auch sonst gibt es nicht den geringsten Hinweis, der diese Spur unterstützt. Es sei denn, die Witwe hat Ihnen inzwischen gestanden, die tödlichen Schüsse selbst beauftragt zu haben, um früher an ihr Erbe zu kommen.«

»Doch, es gibt Hinweise!«, ging Jasmin dazwischen und bemühte sich, Baumanns Verhalten als möglichst verdächtig darzustellen.

Schnelleisen hörte ihr zu, ließ sich von der Aufzählung der schwachen Indizien jedoch nicht überzeugen. »Das bringt uns nicht weiter, Kollegin«, sagte er schroff. »Ihr Wissen über diesen Baumann ist schlichtweg zu lückenhaft, um irgendjemandem weismachen zu können, er würde sein Geld mit dem Umbringen von Menschen verdienen.«

Diese Abfuhr spornte Jasmin erst recht an. Mutig schlug sie vor, diese Lücken schnellstmöglich zu schließen, und knüpfte ihre Bitte an, die Ermittlungen auf den Raum Würzburg ausdehnen zu dürfen.

Schnelleisen fletschte seine nikotingelben Zähne, als er von ihren Reiseplänen erfuhr. »Ist das die Auffassung der gesamten Soko? Unterstützen die anderen Ihren abenteuerlichen Verdacht?«, wollte er wissen.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich mit den Kollegen abzustimmen«, räumte Jasmin ein.

Schnelleisen neigte den Kopf. »Sie werden Ihre liebe Not damit haben, das Team von Ihrer Idee zu überzeugen, zumal ich – wie gesagt – kein Motiv für einen Auftragsmord erkennen kann. Davon abgesehen ist dieser Herr Baumann gründlich kontrolliert worden, als er von Bord ging. Er trug bekanntlich keine Waffe bei sich.«

»Weil er sie längst über Bord geworfen hatte, ebenso wie das Diebesgut, das er zum Schein eingesteckt hatte«, gab sich Jasmin selbstbewusst. »Und das Motiv wird sich früher oder später finden, davon bin ich überzeugt.«

Schnelleisen schüttelte betont langsam den Kopf. »Frau Stahl, Frau Stahl, Sie haben noch viel Arbeit vor sich, wenn Sie diesen Verdacht erhärten wollen, denn die Söldnergeschichte ist sehr dünn. Ist Ihnen bewusst, wie gering die Chancen sind, dass wir es ausgerechnet bei uns in Nürnberg mit einem professionellen Killer zu tun bekommen?«

»Die Statistik mag dagegen sprechen, aber darf man es deshalb ausschließen?«, fragte Jasmin herausfordernd.

»Das nicht. Aber kennen Sie den Background? Neunzig Prozent solcher Taten werden von Laien begangen, die schnelles Geld brauchen. Bekannt ist, dass man beispielsweise in Bulgarien ab zweitausendfünfhundert Euro Bereitwillige auftut, um hierzulande jemanden aus dem Weg räumen zu lassen. Diese Leute morden schnell, meist brutal und ohne große Vorbereitung. Auftraggeber ebenso wie Opfer finden sich zumeist in der Drogenszene, im Rotlichtmilieu oder bei Waffenhändlern. Nicht aber im Möbelgewerbe.«

»Was nicht heißt, dass …«, setzte Jasmin an.

Doch ihr Chef hob seine Hand und schnitt ihr das Wort ab. »Bezahlte Morde ereignen sich bevorzugt in Berlin, Hamburg oder im Ruhrpott. Aber bei uns? Nein! Noch dazu ist Klaus Baumann kein Bulgare, oder?« Er fuhr mit seiner Handkante über die Schreibtischplatte, als wollte er Jasmins Ideen einfach hinwegfegen. »Ihre Theorie ist auf Vermutungen begründet und sonst auf gar nichts.«

Jasmin war fest entschlossen, ihren Chef zu überzeugen. Sie sah ihn scharf an und fragte: »Was ist denn mit den restlichen zehn Prozent?«

»Wie? Was?« Schnelleisen wirkte begriffsstutzig.

»Sie haben aufgezählt, was für Menschen das Gros der käuflichen Killer stellt. Gescheiterte Existenzen, die wahrscheinlich über den Umweg der Kleinkriminalität zu gedungenen Mördern wurden. Skrupellose Personen, die für das schnelle Geld töten. Nicht genannt haben Sie die Minderheit der echten Profis. Was ist mit denen, die das Morden zum Beruf gemacht und perfektioniert haben?«

»Sie meinen die Phantome?« Schnelleisen schluckte deutlich hörbar. »Das sind Pendler zwischen den Welten. Oft ehemalige Legionäre, die das Töten dutzendfach geprobt haben. Menschen, die ihre Identität wechseln wie andere ihre Garderobe. Sie machen alles und scheuen vor nichts zurück, wenn der Preis stimmt.« Er stand auf, drehte sich um und stützte sich auf einem Fensterbrett ab. »Ich kann nur hoffen, dass Sie sich täuschen. Dass Klaus Baumann keines dieser Phantome ist. Denn mit Leuten dieses Kalibers bekommt man es besser nicht zu tun.«

Jasmin stellte befriedigt fest, dass es ihr gelungen war, ihren sturköpfigen Chef ins Grübeln zu bringen. Sie nutzte diese Schwäche und sagte: »Über mögliche Gefahren bin ich mir im Klaren. Sie lassen mich also in dieser Richtung ermitteln?«

Schnelleisen rang mit sich selbst, bevor er sich zu einem Nicken hinreißen ließ.

»Sie möchte waaas?« Katinka meinte nicht richtig gehört zu haben, als Winfried Schnelleisen seinen umständlich vorgebrachten Monolog beendet hatte. Ungläubig betrachtete sie den Telefonhörer in ihrer Hand und winkte ihre Assistentin, die ihr gerade eine Tasse Tee bringen wollte, mit gereizter Geste aus dem Büro. »Habe ich das richtig verstanden, Herr Hauptkommissar? Sie erbitten Rückendeckung durch mich? Grünes Licht für die Entsendung einer Ermittlerin, um eine alles in allem als vage zu bezeichnende Spur in Unterfranken zu verfolgen? Ich dachte, Einzelgänger gebe es nur im Roman oder Film. Polizeiarbeit ist Teamarbeit, oder habe ich da eine aktuelle Entwicklung hin zum Individualismus verpasst?«

Ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung druckste herum. »Die Spur ist zugegebenermaßen nicht sehr stark«, räumte der Kripochef ein. »Nichts, wofür ich großartige personelle Ressourcen vergeben könnte.«

»Dennoch wollen Sie eine Beamtin dafür abstellen«, hielt Katinka fest und fügte mit gewissem Unbehagen hinzu: »Wir sprechen hier von Oberkommissarin Stahl, richtig?«

»Das trifft zu«, bestätigte Schnelleisen. »Es war ihre eigene und ausdrückliche Bitte, sie für einige Tage von der Leitung der Soko zu entbinden, damit sie auf eigene Faust in Würzburg ermitteln kann.«

»Frau Stahl ist Ihre Mitarbeiterin. Im Umkehrschluss heißt das, dass Sie ihr disziplinarischer Vorgesetzter sind«, sagte Katinka so sachlich wie möglich. »Es steht Ihnen frei, Ihre Leute so einzusetzen, wie es aus Ihrer Sicht am zielführendsten ist. Warum also bemühen Sie die Staatsanwaltschaft?«

Die Antwort hätte sie sich ebenso gut selbst geben können, dachte Katinka. Sie lautete: weil Schnelleisen die Verantwortung davor scheute, außerhalb seines eigenen Zuständigkeitsbereichs ermitteln zu lassen. Ginge es schief, könnte er immer noch mit dem Finger auf Katinka zeigen und behaupten, sie habe Jasmins Einsatz ja ausdrücklich gebilligt.

Was er wirklich sagte, hörte sich etwas anders an: »Ich halte es für wichtig, dass Sie in diesem Fall über jeden unserer Schritte informiert sind, Frau Blohm. Daher mein Gesuch um Ihre Zustimmung.«

Katinka wog das Für und Wider ab, den Hauptkommissar in dieser Maßnahme zu unterstützen. Das Risiko erschien ihr überschaubar zu sein: Fürs Erste dürften ein paar Tage in Unterfranken ausreichen, während die restlichen Mitglieder der Sonderkommission ihre Ermittlungen von Nürnberg aus fortsetzen konnten. Es wäre daher durchaus vertretbar, Schnelleisen in seinem Anliegen zu bestärken. Allerdings hatte sie noch ein paar inhaltliche Fragen.

»Sie ziehen also in Erwägung, dass wir es mit einem Auftragsmörder zu tun haben? Einem Profikiller?«, klopfte sie Schnelleisens Meinung ab.

»Nicht ich, sondern die Kollegin Stahl«, betonte der Hauptkommissar den entscheidenden Unterschied.

Damit distanzierte er sich von der gewagten Theorie, ohne sie vollends zu verwerfen, dachte Katinka und fragte: »Was veranlasst Frau Stahl zu der Annahme, dass es sich um einen Profi handelt?«

Der Hauptkommissar legte ihr alle bisher bekannten Hintergründe dar. »Habe ich also Ihr Okay?«, fragte er um Absicherung seiner nächsten Schritte bemüht.

Katinka traute es Jasmin zu, den Sachverhalt schnell zu klären. Einen Versuch war es also wert. »Na schön«, stimmte sie zu. »Schicken Sie Frau Stahl auf die Reise. Das heißt aber nicht, dass der Rest der Truppe die Hände in den Schoß legen darf. Sind wir uns da einig?«

»Voll und ganz«, versicherte der Hauptkommissar unterwürfig.

Nachdem Katinka aufgelegt hatte, fühlte sie sich in ihrer schon lange gefassten Meinung bestätigt: Schnelleisen war ein verantwortungsscheuer Karrierist, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht war, ohne jemals selbst den Kopf für etwas hinzuhalten. Sie konnte ihn nicht leiden.

»Nett, dass Sie mit anpacken!« Bruder Theobald, dem der Schweiß auf der Stirn stand, nickte Paul dankbar zu.

»Mache ich gern. Außerdem habe ich im Moment sowieso nichts Besseres vor«, sagte er augenzwinkernd und hob eine der Kisten an, mit denen sich der Mönch abplagte. Paul war froh, etwas zu tun zu bekommen, denn das lenkte ihn von seinen Kopfschmerzen ab – Tribut an das ausgiebige Zechen vom Vorabend. »Ehrlich gesagt kommt mir eine Unterbrechung der Langeweile gerade recht.«

»Verwechseln Sie Langeweile nicht mit Muße. Denn deshalb sind Sie ja hier: Um neue Kraft aus der Ruhe zu ziehen«, belehrte ihn der Mönch.

Sie standen am Sockel einer steilen Treppe, deren ausgetretene Stufen zu einer Flügeltür aus dunkler Eiche hinabführten: der Eingang zum klostereigenen Weinkeller, wie Paul bereits wusste. Bei einem morgendlichen Rundgang über den Klosterhof war Paul auf Theobald aufmerksam geworden und hatte beobachtet, wie sich der Geistliche mit Kartons voller Weinflaschen abmühte. Also bot er kurzerhand an, ihm beim Schleppen zu helfen.

»Die dürften ja fürs Erste reichen«, meinte Paul mit Blick auf die vielen Kartons.

»Von wegen!«, entgegnete Theobald. »Unsere Gäste haben Durst – und das Personal ebenso. Diese Charge langt nicht mal bis zum Wochenende. Unser Aushilfskoch hat zu wenig bestellt«, sagte er schulterzuckend. »Kennt sich eben noch nicht aus mit unserer Vorratslogistik. Und einen eigenen Kellermeister können wir uns nicht leisten.«

Das Gewölbe, kärglich beleuchtet von einigen schwachen Glühbirnen an der feucht glänzenden Decke, wurde von drei schulterhohen Holzfässern dominiert. Reiner Zierrat, wie Theobald erklärte. Wein lagere heute nur noch abgefüllt in Flaschen, die sich ein Wandregal mit anderen Getränken und Einmachgläsern teilen mussten.

Nachdem sie ihre Arbeit getan und den neuen Wein verstaut hatten, zog es Paul doch noch mal zu den drei stattlichen Fässern, ein jedes von armdicken Blechkränzen umfasst. Wie an ihrer Gebrauchspatina abzulesen war, hatten sie nicht immer als bloße Dekoration gedient. Paul legte seine Hand mit einer gewissen Ehrfurcht auf das stark nachgedunkelte Holz. »Wann wurden die Fässer das letzte Mal befüllt?«

Theobald stellte sich an seine Seite und kräuselte die Stirn. »Es muss an die vierhundert Jahre her sein, genauer kann das heute keiner sagen. Wohl aber, warum man aufgehört hat, sie zu nutzen.« Paul erfuhr, dass die Fässer einst gezimmert worden waren, um daraus regelmäßig den Mundsold für Theobalds Ahnen im Mönchsgewerbe ausgeben zu können. »Zweieinhalb Liter Deputatwein pro Tag und Person, angeliefert von den umliegenden Winzern.«

»Keine schlechte Tagesration«, meinte Paul anerkennend. »Und weshalb hat man damit aufgehört? Ist den Mönchen der Durst vergangen?«

»Natürlich nicht, aber der Küfer hatte sich beim Anfertigen der Fässer etwas zu viel Mühe gegeben. Die Behälter sehen nicht nur prächtig aus, sondern verleihen jedem Wein durch die Wechselwirkung mit dem Holz ein ganz besonderes Bukett.«

»Das ist doch nichts Schlechtes.«

»Aus damaliger Sicht war es aber verdächtig. Gerüchte gingen um, dass der Küfer mit dem Teufel im Bund gewesen sein musste, um eine solche Perfektion erreichen zu können. Der Beweis wurde geliefert, als der arme Mann eine Treppe hinunterstürzte und sich das Genick brach: Es hieß, der Höllenfürst habe ihn gestoßen, um sich als Gegenleistung für die Hilfe beim Fassbauen die Seele des Küfers zu holen. Danach war angeblich immer dann, wenn aus den Fässern Wein gezapft wurde, ein Schlürfen und Schmatzen zu hören. Die Mönche schlossen daraus, dass der Teufelsküfer mittrank, und legten die Fässer still.«

»Eine gruslige Anekdote«, fand Paul. »Vor allem, wenn man sie hier unten im Gewölbe zu hören bekommt.« Er sah zur steinernen Treppe hinüber. »Sind das die Stufen, die der Küfer hinabgestoßen wurde?«

»Nein. Angeblich ist es draußen am alten Wehrturm passiert. Die Treppe dort ist noch ein ganzes Stück steiler. Wer dort ins Stolpern kommt, hat ganz schlechte Karten. Egal, ob der Teufel seine Hände im Spiel hat oder nicht.«

Mensen und Kantinen waren seine besten Informationsquellen. Ob im Rathaus, wo er Politikern zwischen Bratwurst und Apfelstrudel so manche Vertraulichkeit entlockte, oder beim Oberlandesgericht, wo Anwälte und Richter beim Schäufele Interna preisgaben, die ihnen im Gerichtssaal niemals über die Lippen gekommen wären. Boulevardreporter Victor Blohfeld wusste genau, wie er an den Stoff für seine Zeitungsstorys kam. Das Bild des hageren Reporters im obligatorischen beigen Trenchcoat gehörte an diesen Orten quasi zur Ausstattung, jedermann war seinen Anblick gewohnt.

Ebenso verhielt es sich mit der Mensa des Polizeipräsidiums, zu der sich der alte Hase trotz aller Sicherheitsauflagen immer wieder Zugang verschaffen konnte. Bei ihm drückte man ein Auge zu, zumal Victor Blohfeld jeden Pförtner beim Vornamen ansprach und mit dem Polizeipräsidenten regelmäßig Schafkopf spielte.

»Was gibt’s denn Neues?«, fragte er ohne Umschweife einen älteren Kriminaler, von dem er wusste, dass er der Soko Walküre angehörte, und drängte sich mit seinen Sauren Zipfeln dicht neben ihn.

Der andere tauchte ein Stück seines Brezenknödels in eine dunkle Soße und antwortete, ohne aufzusehen: »Wir kommen nicht vom Fleck. Ganz miese Spurenlage. Wenn du mich fragst, sind wir falsch aufgestellt. Die Stahl ist zu grün hinter den Ohren, um die Soko leiten zu können, erst recht ihr Hiwi Schlelein, ein Azubi.«

»Schon klar. Du wärst der bessere Mann auf dem Posten«, raunte Blohfeld dem Grauhaarigen zu. »Wie würdest du die Sache denn angehen? Eine Ahnung, wer den Ami auf dem Gewissen haben könnte?«

»Nun ja, nicht direkt«, wiegelte der andere ab. »Jedenfalls würde ich es nicht so machen wie die Stahl. Die ist auf einer völlig falschen Fährte. Bildet sich da was ein, was gar nicht sein kann. Eine fixe Idee.«

Interessant, dachte Blohfeld und gab sich betont gelassen. Zu gern hätte er mehr darüber erfahren. Doch er musste behutsam vorgehen, um seinen Informanten nicht zu alarmieren. Also suchte er nach einem Zugang durch die Hintertür. »Wahrscheinlich darfst du nicht darüber reden, welche Spur die Stahl verfolgt …«

»Nein. Dienstgeheimnis«, bestätigte sein Gesprächspartner. »Aber selbst wenn du es wüsstest, fiele keine Schlagzeile für dich ab. Ein solcher Unsinn würde nicht einmal in einem Schmierenblatt wie deinem abgedruckt werden.«

Blohfeld schluckte diesen Affront herunter und sagte: »So junge Leute wie Jasmin Stahl müssen ihre eigenen Erfahrungen sammeln, so ist das nun mal. Wahrscheinlich bist du früher auch vorangeprescht, ohne wirklich zu wissen wohin.«

»Aber doch nicht nach Würzburg!«, entfuhr es dem anderen.

»Würzburg?« In Blohfelds Gesicht formte sich ein Fragezeichen. »Vermutet sie dort etwa den Mörder?«

»Das werde ich dir nicht auf die Nase binden. Aber wahrscheinlich spielt es ohnehin keine Rolle. Die Kollegin will bloß Spesen machen und sich für ein paar Tage der Fuchtel des Chefs entziehen.«

»Ein Wunder, dass Schnelleisen ihr eine Dienstreise genehmigt hat«, grübelte Blohfeld über den Sinn des Unterfangens nach. »Dafür muss er ja ein Ermittlungsgesuch an die dortige Dienststelle gerichtet und wahrscheinlich auch die Staatsanwaltschaft informiert haben. Das bedeutet Aufwand und vielleicht auch Unannehmlichkeiten. Passt gar nicht zu Schnelleisen, dass er sich so etwas aufbürdet.«

»Ja, ich wundere mich auch, was er der Stahl alles durchgehen lässt. Aber das wird sich irgendwann rächen. Eines Tages werden sie aufwachen und merken, was sie davon haben, solche Frischlinge zu protegieren und erfahrene Kräfte wie mich aufs Abstellgleis zu stellen.«

Blohfeld nickte gewichtig, wobei er dem anderen damit nur unbewusst zustimmte. In seinen Gedanken war er bei Jasmin Stahl und fragte sich, warum sie ihre Nachforschungen von Nürnberg nach Würzburg verlagerte. Dann rief er sich den üblichen Fahrplan von Flusskreuzfahrtschiffen ins Gedächtnis, die nach ihrem Halt in Nürnberg die Reise meist auf dem Kanal nach Bamberg fortsetzten, um anschließend über den Main nach Würzburg zu gelangen. Auch die MS Walkürerde diese Strecke nehmen und in Kürze in der unterfränkischen Metropole festmachen.

War Jasmin Stahl deswegen unterwegs ins fränkische Weinland? Wollte sie das Schiff abfangen, weil sie den Täter noch immer an Bord vermutete?

Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden: Blohfeld musste selbst nach Unterfranken fahren. Er würde sich an die Oberkommissarin hängen wie eine Klette, um die Fortschritte ihrer Ermittlungen aus nächster Nähe zu beobachten und im entscheidenden Moment dabei sein zu können. Dann nämlich, wenn die Handschellen klickten.

Sein Entschluss war gefasst. Jetzt musste er seine Recherchereise bloß noch organisieren.

Schon am frühen Nachmittag kam Jasmin an. Nachdem Schnelleisen eher als gedacht eingeknickt war und ihr die Dienstreise genehmigt hatte, hatte sie keine Zeit verschwendet, ihr Team informiert und sich gleich danach in ihren Wagen gesetzt. Am liebsten hätte sie Timo Schlelein an ihrer Seite gehabt, aber zu einer Doppelbesetzung hatte sich der knausrige Hauptkommissar nicht überreden lassen und ihr geraten, sich gegebenenfalls die Unterstützung der Polizeikräfte vor Ort zu holen, die bereits über ihr Kommen informiert waren.

Nun stellte sie ihr Auto in einer Straße ab, von der aus sich ein guter Blick auf die Festung Marienberg bot. Die eindrucksvolle Bergfeste lag – von Weinreben umsäumt – nur einen Steinwurf vom Stadtzentrum entfernt auf einer Anhöhe am Mainufer. Jasmin war zwar nie dort gewesen, konnte sich aber gut vorstellen, was für eine phantastische Aussicht sich von der Burg aus hinab auf die alte Universitätsstadt mit ihren Kuppeln, Türmen und Brücken bieten musste.

Doch deshalb war sie nicht hier, dachte sie und riss sich von dem Anblick los. Nur wenige Schritte von ihrem Parkplatz entfernt lag die Filiale der Autovermietung, bei der sie ihren Besuch telefonisch angekündigt hatte.

»Grüß Gott. Stahl ist mein Name. Kripo Nürnberg«, sagte sie, als sie das Geschäft betrat, dessen Dekor in den gleichen Unternehmensfarben gehalten war wie die Uniform des Mitarbeiters hinter dem Tresen. Jasmin wies sich aus und erkundigte sich nach dem Kunden Klaus Baumann. Die Auskünfte, die sie erhielt, gingen nicht über das hinaus, was sie bereits wusste.

»Sonst können Sie mir nichts über den Mann sagen?«, fragte sie. »Sie waren es doch persönlich, der Papiere und Schlüssel von ihm entgegengenommen hat?«

»Ja, aber für mich ist ein Kunde wie der andere. Das soll heißen: Wir sind angehalten, jeden mit gleicher Zuvorkommenheit zu bedienen.«

»Ist Ihnen wirklich gar nichts an ihm aufgefallen? Wirkte er vielleicht nervös oder fahrig? Erweckte er den Eindruck, dass er es besonders eilig hatte?«

»Nein, es sah nicht so aus, als ob der Kunde in Eile gewesen wäre. Er erkundigte sich nach der nächsten Bus- oder Straßenbahnverbindung und verließ dann die Zweigstelle.«

»Ging er langsam oder schnell aus dem Laden?«

»Ganz normal halt.«

»Trug er etwas bei sich?«

»Ich bin nicht sicher. Einen Koffer, glaube ich.«

»Groß, klein? Rollkoffer oder einen zum Tragen.«

»Ich weiß es nicht. Mittelgroß würde ich sagen.«

Das brachte Jasmin nicht weiter; die Erinnerungen des Autovermieters waren einfach zu schemenhaft. Also ließ sie sich die Haltestelle zeigen, von der Baumann zur Weiterfahrt in einen Bus gestiegen war. Wie Jasmin zu ihrer Erleichterung feststellte, verkehrte hier nur eine Linie. Sie las die nächsten Ziele vom Fahrplan ab und stellte fest, dass der Hauptbahnhof darunter war.

Jasmin biss sich auf die Lippen. Wenn sie Pech hatte, war Baumann vom Bus direkt in einen Zug umgestiegen – mit unbekanntem Reiseziel. In diesem Fall wäre ihre Suche nach ihm an dieser Stelle vorerst beendet und ihr Ausflug nach Würzburg für die Katz gewesen. Doch noch gab sie die Hoffnung nicht auf.

Sie stieg wieder in ihr Auto und fuhr zum Hauptbahnhof, einem Gebäude in der schlichten Nachkriegsarchitektur der Fünfzigerjahre mit verglaster Vorderfront und schlanken Betonsäulen, die das leicht überhängende Dach stützten. Dominiert wurde der Zweckbau von einer riesigen Uhr im puristisch sachlichen Stil. Jasmin wusste, dass der Bahnhof verkehrstechnisch einer der bedeutendsten in Bayern war und den Schnittpunkt mehrerer stark frequentierter Schienenachsen bildete. Falls Baumann sich für die Weiterfahrt per Bahn entschieden hatte, konnte er inzwischen überall sein.

Was nun? Sollte sie ins Bahnhofsgebäude gehen und den wenig erfolgsversprechenden Versuch unternehmen, das kleine Bild des als Elvis geschminkten Baumann aus dem Bordprogrammheft der MS Walküre herumzuzeigen? Das würde wenig bringen, denn in »zivil« sah Baumann sicherlich ganz anders aus, doch ein besseres Foto stand ihr nun mal nicht zur Verfügung. Also blieb sie auf dem Vorplatz stehen und schaute sich um. Jasmin versuchte sich in Baumanns Lage zu versetzen und nachzuspüren, was er nach dem Verlassen des Busses gesehen und womöglich gedacht hatte. Dabei wurde sie auf einen weiteren Bau aufmerksam, der ebenfalls ein Relikt aus den Fünfzigerjahren zu sein schien: eine Art Pavillon mit Schaufenstern, die von schwarzlackierten Fliesen umrahmt waren. In den Fenstern hingen große gelbe Schilder mit den schwarzen Lettern TAXI.

Jasmin entschied sich dazu, es zuerst dort zu versuchen. Es war ja nicht auszuschließen, dass Baumann sich statt für den Zug erneut für eine Taxifahrt entschieden hatte.

Sie hatte Glück: Die zunächst zugeknöpft wirkende Frau am Schalter erkannte Baumann trotz seiner Kostümierung auf dem Foto und bestätigte, dass er bei ihr ein Taxi bestellt hatte.

»Ich erinnere mich so genau daran, weil der Mann warten musste«, begründete die Frau. »Normalerweise bekommt man hier am Bahnhof ja immer ein Taxi und kann sofort einsteigen. Aber in diesem Fall waren gerade zwei ICE angekommen und alle Wagen waren belegt. Also habe ich einen anderen Fahrer angefunkt und ihn für den Kunden herbestellt.«

»Hat er Ihnen verraten, wo es hingehen sollte?«, fragte Jasmin und hoffte auf einen weiteren Glückstreffer.

»Leider nicht. Er hat lediglich gesagt, dass er seinen Urlaub in der Gegend verbringen und ausspannen will. Ich glaube, er sagte etwas von viel Ruhe und gutem Wein.«

»Das führt mich nicht weiter«, sagte Jasmin.

»Vielleicht weiß der Fahrer ja mehr«, meinte die Frau.

»Gute Idee. Können Sie in Erfahrung bringen, wer die Tour übernommen hatte?«

Die Frau holte ein Buch mit abgenutztem schwarzem Umschlag unterm Tresen hervor und schlug nach. »Das war Taxi Nummer 109. Adelphos’ Fuhre.« Ihre Miene hellte sich auf. »Sie haben gute Chancen, dass er mehr über seinen Fahrgast weiß. Adelphos ist eine ausgesprochene Plaudertasche und stellt seinen Kunden sehr gern Fragen. Mehr als manchem lieb ist.« Wieder ernster erkundigte sie sich: »Weshalb suchen Sie denn diesen Fahrgast? Dem Bild nach zu urteilen ein Künstler, oder? Hat er etwas ausgefressen?«

»Ich möchte mit ihm sprechen. Über die Gründe darf ich Ihnen leider nichts sagen«, entgegnete Jasmin und ahnte, dass sie dem Gesuchten dicht auf den Fersen war.

Dass elektronische Geräte im Kloster unerwünscht waren, war Paul ja bekannt. Dass man aber nicht einmal kurz seine Mails checken und die Nachrichtenlage überfliegen konnte, hielt er nach zwei Tagen Internetabstinenz für eine Zumutung.

Den lieben langen Tag hatte sich Paul ganz brav an die klösterlichen Gepflogenheiten gehalten, war mit dem ersten Hahnenschrei aufgestanden, hatte an der Morgenmesse teilgenommen und neben schweigsamen Mönchen sein karges Frühstück zu sich genommen, bevor er Bruder Theobald beim Schleppen der Weinkisten zur Hand gegangen war. Beim tiefenentspannten Wandeln durch den Kreuzgang war er in sich gegangen, um nach dem – ebenfalls spartanischen – Mittagsmahl ein Kursangebot wahrzunehmen: Meditation für Anfänger.

Nun war er zurück in seiner Kammer, sehnte sich nach einem Hauch moderner Zivilisation und versuchte, sein iPad irgendwie doch noch zum Laufen zu bringen. Aber seine Bemühungen blieben erfolglos. Mürrisch warf er das Gerät auf die Matratze und verzog den Mund.

»Das Klosterleben schränkt einen ziemlich ein, was?«, sprach ihn sein Mitbewohner an, der sich gerade über einen eingeschmuggelten Schokoriegel hermachte. »Aber Kopf hoch. Es gibt für alles eine Lösung.« Der umtriebige Carsten verriet, dass er bei seinem letzten Klosteraufenthalt einen Platz gefunden habe, an dem der Empfang einwandfrei sei. Die Kehrseite der Medaille: Sie müssten einen kleinen Spaziergang machen, um dorthin zu gelangen.

»Wo ist denn der heimliche Hotspot versteckt?«, fragte Paul.

»Auf dem alten Wehrturm. Der dient inzwischen als Wasserspeicher fürs Kloster, aber es führt eine Treppe hi­nauf, die man benutzen kann«, wusste Carsten.

Das musste die Turmtreppe sein, auf der sich in einem früheren Jahrhundert der Teufelsküfer den Hals gebrochen hatte, mutmaßte Paul, doch es schreckte ihn nicht ab. Er griff nach seinem Pad und sprang auf. »Worauf warten wir dann noch?«

Kurz darauf überquerten sie den Klosterhof und gelangten durch eine schmale Flucht in der Mauer auf einen von Wildblumen gesäumten Trampelpfad. Dieser führte im Zickzack den kleinen Hügel hinauf, auf dem der zinnenbewehrte Turm thronte. Ein hoch aufragendes Bollwerk, gemauert aus grob behauenem Granit. Die steinerne Bastion aus längst vergangenen Zeiten war nicht ganz stilecht mit einer Stahltür ausgestattet. Diese war nicht verschlossen, sodass die beiden eintreten konnten.

Im Inneren herrschte ein diffuses Halbdunkel, an das Paul sich zunächst gewöhnen musste.

Carsten wies auf eine weitere, sehr viel niedrigere Stahltür hin und sagte: »Dahinter liegen Wasserbecken und Pumpenkammer. Ab und zu verhakt sich der Schwimmer, und im ganzen Kloster liegen die Leitungen trocken. Dann muss jemand hochkommen und die Pumpe wieder in Gang setzen. Meistens übernimmt das Theobald. Der ist nicht nur Gästebetreuer und Weinkenner, sondern erledigt auch Hausmeisterjobs. Mädchen für alles. Oder besser noch: Mönch für alles!« Er lachte breit über den eigenen Witz.

Über eine enge, steile Wendeltreppe gelangten sie auf eine Plattform, von der aus sich ein atemberaubendes Pa­norama über die sonnenverwöhnte Weinlandschaft bot.

»Wow!«, staunte Paul, hielt sich aber nicht lange mit der tollen Aussicht auf, sondern probierte, sein Pad mit der digitalen Außenwelt zu verbinden.

Carsten hatte nicht zu viel versprochen. Sofort fand sein Gerät ein Netz. Paul rief seine Mails ab, von denen die meisten Spams waren und keine einzige von Katinka oder Hannah stammte. Anschließend ging er ins Internet, um sich die Schlagzeilen der Onlineausgabe von Blohfelds Zeitung anzusehen. Er überflog die Inhalte und kommentierte: »Wie es aussieht, haben sie den Raubmörder immer noch nicht gefasst.«

»Was für einen Raubmörder?« Carsten stellte sich an Pauls Seite, um ebenfalls einen Blick auf den Artikel zu werfen.

»Ein reicher Amerikaner ist auf einem Flussschiff im Nürnberger Hafen erschossen worden«, klärte Paul ihn auf. »Hast du nichts davon mitbekommen?«

»Ach ja, doch. Im Radio haben sie neulich was darüber gebracht. Aber bei all dem Mord und Totschlag auf der Welt geht so eine Meldung heutzutage ja leicht unter.«

»Das ist leider wahr«, pflichtete Paul ihm bei.

Paul las den Bericht bis zum Ende durch, musste jedoch feststellen, dass Blohfeld mehr oder weniger im Nebel stocherte. Entweder war es ihm nicht gelungen, an stichhaltige Informationen über etwaige Fortschritte bei den Ermittlungen zu gelangen, oder aber Jasmin beziehungsweise ihr Boss Schnelleisen hatten den Reporter abblitzen lassen. Wie auch immer: Es gab nicht viel Neues zu vermelden über den Mord auf dem Hotelschiff.

Als er seinen Nachholbedarf am iPad gestillt hatte, stand die Sonne tief am Horizont. Die beiden wollten den Abstieg antreten, da wurde Paul auf etwas aufmerksam: Vom Kloster her sah er jemanden kommen.

»Wer kann das sein?«, fragte er. »Kommt Bruder Theobald, um die Pumpe zu inspizieren?«

»Wohl kaum. Der da unten trägt keine Kutte, sondern Hemd und Hose«, entgegnete Carsten.

»Seltsam, wie er geht. Bleibt immer wieder stehen und schaut sich um«, stellte Paul fest.

»Vielleicht wartet er auf jemanden«, mutmaßte Carsten. »Kann uns doch egal sein. Lass uns aufbrechen!«

Sie hatten den Turm gerade verlassen, als sie auf den Fremden trafen: ein blässlicher, beleibter Mittvierziger mit linkischem Blick. Als Paul und Carsten ihn grüßten, schaute er zu Boden und erwiderte den Gruß kaum hörbar. Dann drückte er sich an ihnen vorbei und verschwand im Turm.

»Ein komischer Kauz«, meinte Paul, als sie weitergingen. »Ob das auch ein Gast ist?«

»Wenn, dann ist es ein Neuer. Ich habe ihn bisher noch nie gesehen.« Carsten tat ein paar Schritte, blieb plötzlich stehen und sagte: »Wenn er neu hier ist, woher weiß er dann vom guten Netz auf dem Turm?«

»Vielleicht von einem früheren Besuch, genauso wie du«, nahm Paul an. »Oder ihm geht es gar nicht ums Telefonieren. Vielleicht hat er andere Gründe für seinen Spaziergang hierher und klettert bloß rauf, um die Fernsicht zu genießen.«

»Meinst du? Mir war der Kerl jedenfalls suspekt. Wie der rumgelaufen ist, wirkte es ja beinahe so, als fühlte er sich von jemandem verfolgt.«

»Im Zweifelsfall vom Abt, der ihm sein Handy abknöpfen will«, scherzte Paul. Doch auch ihm war die Begegnung mit dem Neuankömmling nicht ganz geheuer gewesen.

Das ungute Gefühl begleitete ihn den Rest des Weges, und er war froh, als sie im Klosterhof dem stets gut aufgelegten Bruder Theobald begegneten.

Der gemütliche Mönch, dessen wohlgenährter Bauch sich unter seiner Kutte abzeichnete wie ein Wasserball, erkundigte sich nach ihren Plänen für den Abend. Weil Paul und Carsten mangels konkreter Vorhaben zögerten, lud Theobald sie auf eine Weinprobe bei einem Winzer aus der Nachbarschaft ein – wie sich herausstellte nicht ganz uneigennützig:

»Wie Sie ja wissen, Herr Flemming, reichen unsere Vorräte bei Weitem nicht und müssen aufgefüllt werden. Da an unserem Koch nicht gerade ein Sommelier verloren gegangen zu sein scheint, muss ich das noch einmal selbst in die Hand nehmen – und dabei könnte ich Ihre tatkräftige Hilfe beim Kistenschleppen gebrauchen«, begründete er den Ausflug zum Weinbauern, wobei sich das Wörtchen »muss« eher wie ein »darf« anhörte. »Sind Sie dabei?«

»Warum nicht«, antwortete Paul spontan, und auch Carsten willigte ein.

Nachdem alles so gut angelaufen war, wurde Jasmin nun hart ausgebremst: Adelphos, der Fahrer von Taxi Nummer 109, war nicht aufzutreiben. Seine Schicht hatte vor über einer Stunde geendet, ohne dass er sich noch einmal am Haltepunkt Bahnhof hatte blicken lassen. Mit der Forderung nach Herausgabe seiner Privatadresse oder Telefonnummer scheiterte Jasmin bei der Taxizentrale, wo sie es diesmal mit dem Vorgesetzten der hilfsbereiten Dame vom Taxistand am Hauptbahnhof zu tun bekam. Datenschutz, hieß es. Wenn es ihr so wichtig sei, müsse sie sich eben einen richterlichen Beschluss besorgen. Jasmin war ziemlich frustriert und noch dazu hungrig, und der lange, anstrengende Tag neigte sich dem Ende entgegen. Viel würde sie heute nicht mehr schaffen können. Da sie wenig Aussicht auf den geforderten Richterbrief hatte, beschloss sie, ihre Ermittlungen auf die hemdsärmelige Weise fortzusetzen. Sie schlenderte zum Taxistand und sprach einen Fahrer aus der zweiten Reihe an, der am Kotflügel seines Wagens lehnte und rauchte. Ob er Adelphos kenne, fragte sie frei heraus, ohne sich als Polizistin zu erkennen zu geben.

Der Mann musterte Jasmin und schnippte die Zigarette beiseite. »Sind Sie eine Freundin von ihm?«

Jasmin deutete ein Nicken an, sagte aber nichts.

Damit gab sich der Fahrer fürs Erste zufrieden. »Der saß heute zehn Stunden hinterm Steuer. Macht jetzt bestimmt ein Nickerchen. Versuch’s mal bei ihm zu Hause, Süße.«

»Zu Hause …« Jasmin lächelte etwas dümmlich, um ihrem Gesprächspartner den Eindruck zu vermitteln, sie sei nicht die Hellste. »Ich war noch nie bei ihm. Kenne nicht mal die Adresse.«

Der Fahrer hob seine buschigen Augenbrauen. »Noch nie in seiner Wohnung gewesen? Gibt’s denn so was? Normalerweise ist Adelphos schnell dabei, wenn es darum geht, eine Braut abzuschleppen. Vor allem eine so kesse Maus wie dich.«

Kesse Maus – Jasmin war nicht scharf darauf, weitere Sprüche dieser Art zu hören. Dennoch spielte sie ihre Rolle weiter. »Bei mir nimmt er sich wohl mehr Zeit«, sagte sie und ließ die Wimpern klimpern. »Sagst du mir, wo er wohnt?«

Der Chauffeur nickte bereitwillig, beugte sich in den Wagen und holte Block und Stift heraus. »Ich schreib’s dir auf, Täubchen. Damit du es nur ja nicht vergisst.« Noch während er mit anzüglichem Grinsen den Kugelschreiber ansetzte, hielt er unerwartet inne. »Moment mal«, sagte er mit plötzlich veränderter Stimme. »Wer sagt denn, dass du wirklich eine von Adelphos’ Puppen bist?«

»Na hör mal. Was soll das denn?«, fragte Jasmin. Ihre Überraschung über den Sinneswandel des anderen war nicht einmal gespielt.

»Wenn Adelphos dir nicht gesagt hat, wo er wohnt, kann es einen guten Grund dafür geben.« Das doppeldeutige Lächeln kehrte zurück, als er sagte: »Vielleicht hat er heute Abend schon was mit ner anderen vor. Dein Typ ist nicht gewünscht, Baby.«

So, nun reichte es. Genug war genug! Jasmin legte den Schalter um, indem sie dem Mann ihre Dienstmarke vor die Nase hielt. »Die Adresse. Sofort!«

Ihr Gegenüber war viel zu verblüfft, um ihre Aufforderung nochmals zu hinterfragen. Er wurde blass und kritzelte mit fahriger Schrift den Namen Adelphos Rastapopoulos, eine Straße und Hausnummer auf den Block.

»Na bitte. Es geht doch, Mäuserich.« Jasmin riss ihm den Zettel aus der Hand und ging.

Der Taxerer sah ihr mit offen stehendem Mund nach.

Mit ihrem Wagen hatte sie den Stadtteil Heuchelhof, in dem Adelphos wohnte, bald erreicht. Inzwischen war es dämmrig geworden und die Straßenlaternen flackerten auf. Vor einem mehrstöckigen Wohnhaus fuhr sie an den Rand, stieg aus und suchte die Klingelschilder nach dem passenden Namen ab. Sie fand ihn und drückte auf den Knopf.

Nichts tat sich.

Jasmin wartete einige Momente ab, dann wiederholte sie das Klingeln zweimal hintereinander.

Wieder ohne eine Reaktion.

Sie wollte den dritten Versuch starten, als sich ihr Handy meldete. Es war Schlelein.

»Schieben Sie etwa schon wieder Überstunden?«, fragte sie, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. »Es ist ein wunderschöner Spätsommerabend! Andere Leute in Ihrem Alter hängen jetzt im Wiesengrund ab oder sitzen auf der Terrasse vom Cinecitta. Aber Sie hocken im Präsidium und verpassen den schönsten Teil Ihres Lebens.«

»Keine Sorge, ich mache gleich Schluss. Aber ich finde, dass Sie das unbedingt noch heute wissen müssen«, sagte ihr Assistent mit seiner angenehmen, nüchtern kühlen Stimme.

»Was muss ich wissen.«

»Dass Sie recht hatten.«

»Womit?«

»Mit Ihrer Vermutung, dass mit Elvis etwas nicht stimmt. Nun haben wir endlich etwas Handfestes gefunden, ein echtes Indiz.«

»Werden Sie konkreter, bitte.«

»Ich habe bei den Kollegen in Eisenach angefragt. Das ist die Stadt, in der Klaus Baumann gemeldet ist – oder vielmehr gemeldet sein sollte.«

»Was meinen Sie mit sein sollte?« Jasmin horchte auf. »War der Wohnort, den er bei der Agentur hinterlassen hatte, etwa nur ein Fake?«

»Genau! Ein Mann seines Namens ist in Eisenach zwar registriert, doch es handelt sich definitiv um eine andere Person. Ein Lehrer, der sehr überrascht war, als er von den Kollegen über seinen angeblichen Nebenjob als Entertainer informiert wurde. Das ist nun schon die dritte Merkwürdigkeit neben der nicht vergebenen Telefonnummer und einer falschen Bankverbindung, die Baumann bei der Agentur hinterlassen hatte.«

Jasmin stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wird ja immer toller«, sagte sie und bedankte sich für den Hinweis. »Bleiben Sie unbedingt am Ball und nehmen Sie sich den Namen Klaus Baumann vor. Prüfen Sie, ob dieser in einem anderen Zusammenhang noch einmal auftaucht. Möglicherweise benutzt der Gesuchte diesen Decknamen ja schon länger.«

»Klaus Baumann – nicht gerade ein ausgefallener Name. Es wird bei bundesweiter Suche Dutzende Treffer geben«, wandte Schlelein ein.

»Versuchen Sie es trotzdem und achten Sie auf Unstimmigkeiten«, wies Jasmin ihn an. »Aber nicht mehr heute. Verlassen Sie endlich das Büro und gönnen Sie sich einen schönen Abend.«

»Und Sie?«, kam es zaghaft durch das Handy. »Was machen Sie heute noch?«

Jasmin blickte auf die verschlossene Tür des Mehrparteienhauses. »Ich? Für mich ist heute wohl auch Schluss. Ich werde sehen, dass ich mir ein Zimmer für die Nacht nehme.« Und ich hoffe, dass ich morgen mehr Glück habe, fügte sie im Geiste hinzu.

Die Schleifen des Mains reflektierten glitzernd das glutrote Licht der untergehenden Sonne. Der Fluss lag tief unter ihnen, als Paul, Carsten und Bruder Theobald auf einem schmalen Wirtschaftsweg in Richtung des knapp zwei Kilometer vom Kloster entfernten Weinguts wanderten. Spätestens aus dieser Perspektive wurde klar, dass in dieser Gegend jede Flasche Wein mit Mühsal erarbeitet sein wollte. Rundherum sah Paul nichts als Steillagen und Terrassen, die sich teilweise in kleinste Parzellen aufteilten. Manche Ebenen fassten gerade mal ein Dutzend Rebstöcke. Der Wein wuchs zwischen zerklüfteten Felsen, auf naturgegebenen Plateaus, aufragenden Schieferwänden oder gemauerten Stufen. Hier war viel Handarbeit gefragt, dachte sich Paul und beschloss, seinen nächsten Schluck Frankenwein eingedenk der harten Winzerarbeit besonders zu genießen.

Theobald schien seine Gedanken zu erahnen. Der Mönch blieb stehen und zeigte auf die üppig wuchernden Gewächse: »Es ist keine leichte Aufgabe, ein Weingut zu bewirtschaften – aber eine äußerst erfüllende. Man braucht dafür nicht nur Sachverstand und die notwendigen Fachkenntnisse, sondern vor allem Gefühl.«

»Gefühl?«, fragte Carsten. »Was denn für ein Gefühl?«

Theobald lächelte wissend, bevor er erklärte: »Zum Beispiel ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt zu ernten. Die Frucht schmeckt nämlich immer dann am intensivsten, wenn sie gerade die Vollreife erlangt hat. Doch wann ist diese erreicht? Je nach Wetterlage kann schon ein einzelner Tag den Ausschlag geben. Bei der Lese ist es ganz ähnlich wie an der Börse: Nur mit einem gewissen Mut zum Risiko und sehr viel Fingerspitzengefühl lässt sich das beste Ergebnis erzielen.«

Paul beugte sich vor und wog eine olivgrüne Weinrispe in seiner Hand. »Noch sind die Trauben zu fest.«

»Ja«, bestätigte Theobald, »erst in den kühlen Spätsommernächten findet der eigentliche Reifungsprozess statt. Das spezielle Klima in unseren Breitengraden verleiht unseren Weinen ihren charakteristischen Geschmack: fein-fruchtig und viel frischer als diejenigen aus dem Süden, die nur Sonnenschein kennen. Aber man muss aufpassen: Die Trauben brauchen zwar Kälte, Frost jedoch mögen sie gar nicht. Die Unterkühlungsgefahr hält sich allerdings in Grenzen, denn der Würzburger Muschelkalkboden hat ein großes Wärmepotenzial, da er nach Süden ausgerichtet ist, relativ windgeschützt und ausgestattet mit dem Wärmepuffer der Stadt und des Flusses.«

»Apropos Muschelkalk: Schmecken Weine, die auf Kalk und solche, die auf Schiefer wachsen, unterschiedlich?«, interessierte sich Paul. »Sind Mineralien, die im Boden vorkommen, im Wein wirklich wahrnehmbar?«

»Sie meinen nach dem Motto: Der Lehm macht den Wein weich und zart, der Löss schenkt ihm Mineralität und der rote Ton krönt ihn mit feinen Säurearomen? Streng wissenschaftlich betrachtet müsste ich mit Nein antworten«, sagte Theobald. »Es gibt hinlänglich viele Forschungen, nach denen die aromatische Spiegelung der Bodenbeschaffenheit im Wein nicht bewiesen werden kann.«

»Das hört sich so an, als würde gleich ein Aber folgen.«

»Genau, denn Wein ist nun mal keine rein wissenschaftliche Angelegenheit, sondern ein facettenreiches Genussprodukt, das jede Menge Spielraum für persönliche Interpretationen bietet. Das Zauberwort dafür lautet Terroir. Darunter versteht man die Summe all dessen, was die geschmackliche Identität eines Weins ausmacht. Dazu zählen auch die persönlichen Eindrücke, die ein jeder bei der Verkostung gewinnt. Weiß man um den Boden, auf dem die Reben gediehen sind, meint man eben auch, diesen aus dem Wein herausschmecken zu können. Solche Wahrnehmungen hängen oft mit Bildern zusammen, die man gerade im Kopf hat. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass einem Weine, die einem im Urlaub vorzüglich geschmeckt haben, zu Hause nicht mehr vom Hocker reißen können.«

»Um noch mal auf den Ausgangspunkt zu kommen: Woher weiß der Winzer, wann der richtige Zeitpunkt für die Ernte gekommen ist?«, erkundigte sich Carsten.

»Wie gesagt: Er handelt hauptsächlich nach Gefühl«, gab Theobald sein önologisches Fachwissen preis. »Er kann aber auch auf kleine Tricks und Hilfsmittel zurückgreifen: Zum Beispiel verraten bräunliche Kerne, die sich leicht vom Fruchtfleisch trennen lassen, dass die Lese beginnen kann.«

»Und wenn dann der Startschuss fällt, wird jede Hand benötigt«, ahnte Paul, was Theobald sogleich bekräftigte:

»Stock um Stock, Traube um Traube. Die Erntehelfer brauchen einen wachen Blick und einen geübten Schnitt, denn anders als bei vielen Supermarktweinen werden hier nicht ganze Reihen abgeerntet, sondern es wird partiell gelesen. In die Fässer kommt nur der Saft von ausgewählten Früchten.«

»Das hört sich wirklich nach elender Schufterei an«, meinte Carsten und verzerrte das Gesicht, als ob er selbst einen Finger hätte rühren müssen.

»Richtig, und nach der Lese ist vor der Lese: Schon im Frühjahr müssen die Weinbauern wieder ran: Rebschnitt, Triebkorrekturen und, und, und. Dennoch wird die Mühe belohnt. Ich spreche nicht von Geld, sondern von Erfüllung. Es ist ein gottgegebenes Privileg, ein so herrliches Stückchen Erde bestellen zu dürfen.«

»Mit diesem ganzen Wissen werde ich den Wein gleich umso mehr genießen«, äußerte Carsten, zeigte sich dann jedoch recht verwundert darüber, dass sie kurz darauf anstelle des erwarteten Gasthauses ein schlichtes Bauernhaus erreichten.

»Haben wir uns in der Adresse geirrt?«, fragte er und suchte die Fachwerkfassade mit Blicken ab. »Das ist doch keine Weinschenke. Ich sehe nirgends ein Schild.«

»Nein, eine Heckenwirtschaft«, klärte Theobald ihn auf. »Es ist alte Tradition, dass Winzerfamilien während der Saison ihre Türen öffnen, um dem Gast Gemütlichkeit zu bieten. Mitunter werden auch Scheunen, das Wohnzimmer oder gar das Schlafzimmer ausgeräumt, um Besucher mit den eigenen Weinen und fränkischer Hausmannskost zu bewirten.«

»Das hört sich ausgesprochen authentisch an«, fand Paul und folgte dem Mönch voller Neugierde in das Winzerhaus.

Die Atmosphäre war heimelig und gemütlich, so wie es wohl nur in einem Familienbetrieb vorkommt, wo neben dem Weinbauer und seiner Frau auch die steinalte Großmutter und der Sohn mit anpacken. Wie die Neuankömmlinge von Winzer Karl, einem rotwangigen Mann um die sechzig, erfuhren, hatte er den Weinbau lange Zeit als Nebenerwerbsjob laufen lassen, bis sein Junior Andreas sich entschloss, das Gewerbe professionell zu betreiben. Mittlerweile bewirtschafteten sie immerhin knapp zwei Hektar. Mit jeder Wandergruppe, die ihre Heckenwirtschaft besuchten, fänden sich neue treue Abnehmer für Weinlieferungen, berichtete Karl stolz. Und mit dem nahe gelegenen Kloster habe man darüber hinaus einen verlässlichen Großkunden gewonnen, erklärte der Weinbauer zufrieden und verpflichtete seine Gäste zu einigen Kostproben.

Seine Frau tischte den drei Männern einen spritzig jungen Rosé auf, zu dem sie Brote mit schmackhaftem Kräuterfrischkäse servierte. Später folgte ein charakterstarker Spätburgunder, der dem Gaumen äußerst nachhaltig schmeichelte.

Der Abend war noch jung, und Paul hätte die Gastfreundschaft der Winzerfamilie gern länger genossen. Auch Carsten machte nicht den Eindruck, als ob er schon gehen wollte. Doch Theobald schielte auf die Uhr und bereitete dem Spaß ein Ende: »So langsam wird es Zeit für uns«, sagte er und bat Winzer Karl darum, seine Weinpakete für den Klosterkeller zusammenzustellen.

»Woher die plötzliche Eile?«, erkundigte sich Paul.

»Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist«, meinte Theobald mit einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln. »Außerdem will ich nicht zu lange fortbleiben vom Kloster.«

»Gibt’s sonst vom Abt eins auf den Deckel?«, fragte Carsten flapsig.

»Nicht vom Abt«, sagte Theobald und nahm zwei Weinkartons unter die Arme. Vier weitere hatte er für seine Begleiter vorgesehen. »Es ist mir wichtig, Präsenz zu zeigen. Das bin ich unseren Gästen schuldig.«

»Die Gäste kommen für ein paar Stunden gut und gern allein zurecht, meinen Sie nicht?«, versuchte Paul den Mönch zu dessen Gelassenheit zurückzuführen. Vergebens.

»Nein, wir müssen jetzt gehen«, bestimmte der Mönch und erhob sich. »Ich habe sonst kein gutes Gefühl.«

»Jetzt übertreiben Sie aber mit Ihrem Pflichtbewusstsein, Bruder Theobald«, meldete sich nun auch Carsten zu Wort. »Was soll denn schon passieren?«

Theobald ging zur Tür: »Nichts, worüber Sie sich die Köpfe zerbrechen müssten. Lassen Sie das mal meine Sorge sein.«

Er sprach auf einmal in Rätseln, fand Paul. Auch die stetige gute Laune und Besonnenheit des Mönchs schien wie weggeblasen. »Ich verstehe nicht. Was meinen Sie?«

»Wie schon gesagt: Ich bin verantwortlich für das Wohlergehen unserer Gäste«, wich Theobald aus.

»Und für die Haustechnik und für den Weinkeller und wahrscheinlich noch für viel mehr«, zählte Paul auf. »Selbst ein Mann Gottes sollte mal kürzertreten.«

Dieser Satz zauberte das Lächeln auf Theobalds Lippen zurück. Doch nur für Sekunden. »Ein wahres Wort. Allein, der Zeitpunkt zum Kürzertreten ist der falsche.«