Archie wickelte sich in seinen Bademantel und bedeckte seine quarkweißen Alte-Männer-Knie.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte er zögernd.
»Nein, keinen Tee, nur Antworten.«
Ein Glitzern lag in seinen Augen. »Also, ich habe ein wenig für Sie herumgebuddelt.«
»Und?«
»Ich habe herausgefunden, dass die Ätzradierungen 1987 bei einer Hausauflösung in Enniscorrey, County Monaghan, verkauft worden sind. Zufälligerweise kenne ich den Auktionator. Charlie Bannion. Alter Freund von mir aus unserem Studium am University College in Dublin«, sagte er.
»Und?«
»Und was?«
»Und wer hat jetzt diese verdammten Bilder gekauft?«
»Keine Ahnung, aber Charlie wird Unterlagen darüber haben, da muss er nur reinschauen, und schon kann er Ihnen den Namen des Käufers nennen. Wenn du einen Picasso kaufst und vorhast, ihn irgendwann mal wieder zu verkaufen, dann willst du sicher sein, dass die Herkunft hundertprozentig wasserdicht ist, und selbst wenn du zum Beispiel bar bezahlst, nennst du noch immer Namen und Ansch…«
»Rufen Sie ihn an.«
»Wen?«
»Charlie.«
»Das mach ich. Gleich als Erstes in der Früh.«
»Rufen Sie ihn jetzt an.«
»Es ist Mitternacht.«
»Rufen Sie ihn jetzt an!«
Archie erkannte den Ausdruck in meinen Augen.
»Er wird nicht sehr glücklich darüber sein.«
»Ich bin nicht glücklich, und darüber sollten Sie sich mehr Sorgen machen, glauben Sie mir. Rufen Sie ihn an, jetzt.«
»Schon gut, ich hole mein Telefonbuch.«
Er durchsuchte sein Adressbuch und rief Charlie an. Archies hellseherische Fähigkeiten erwiesen sich als richtig: Der gute Charlie war nicht sonderlich erfreut, um diese Uhrzeit noch angerufen zu werden, aber als Archie ihm sagte, dass es um eine dringende polizeiliche Sache ging, wurde er ein wenig kooperativer. Offenbar hatte Charlie, wie jeder Mensch auf der Welt, etwas vor der Polizei zu verbergen.
Ich nahm Archie den Hörer ab. »Mr Bannion, hier spricht Inspector Sean Duffy vom Carrickfergus CID, Mr Simmons hat Ihnen die Situation erklärt. Ich muss betonen, dass es in diesem Fall ganz besonders auf die Zeit ankommt. Ich muss so schnell wie nur irgend menschlich möglich den Namen der Person wissen, die diese Bilder bei der Auktion 1987 in Enniscorrey erworben hat.«
»Aber Inspector, meine Hauptbücher sind alle unten.«
»Dann müssen Sie bitte nach unten gehen.«
Fünf qualvolle Minuten vergingen, in denen Bannion nach unten ging und durch seine Bücher blätterte. Schließlich fand er die Liste der Auktion in Enniscorrey mit Angaben zum Verkauf der Picassos.
»Ich habe die Auktion gefunden«, sagte er.
»Wer hat die Picassos gekauft?«
»Zweitausend Pfund das Stück. Viertausend für beide. Der Käufer war ein gewisser Alan Locke.«
»Adresse?«
»Die haben wir nicht.«
»Wie kann man denn bei einer Auktion bieten, ohne seine Adresse anzugeben?«
»Bei einer Auktion auf dem Land braucht man nur Bargeld und irgendeinen Ausweis.«
»Um welchen Ausweis handelte es sich?«
»Wahrscheinlich das Übliche.«
»Und was ist das Übliche?«
»Ein Führerschein.«
»Wissen Sie noch, wie Mr Locke aussah?«
»Nein!«, lachte er. »Das ist doch schon fünf Jahre her.«
»Was steht sonst noch in Ihrem Hauptbuch?«
»Das ist alles, fürchte ich. Mr Alan Locke. Das ist der Käufer.«
»Danke, Sie waren uns sehr behilflich.«
Ich legte auf und rief Crabbie auf dem Revier an.
»Carrickfergus CID.«
»Crabbie, ich bin’s. Ich habe einen Namen für dich. Unser Unbekannter könnte ein gewisser Alan Locke sein. Könnte ein weiteres Pseudonym sein, vielleicht aber auch nicht. Tu mir einen Gefallen und jage den Namen durch alle Datenbanken. Ich bin in zehn Minuten da.«
Ich bedankte mich bei Archie und rannte zum Wagen hinaus.
Mit hundertzwanzig Sachen die Victoria Road entlang und dann über den Marine Highway zum Revier. Oben stieß ich auf einen nicht gerade fröhlichen (Crabbie hat es nicht so mit fröhlich), aber sichtlich zufriedenen Detective Sergeant John McCrabban.
Er hielt mehrere Ausdrucke in der Hand und schmauchte mit womöglich größerem Enthusiasmus als sonst seine Pfeife.
»Meldestelle, Unterlagen des Verteidigungsministeriums, Strafregister«, sagte Crabbie und reichte mir die Unterlagen.
»Foto?«
»Auf seinem irischen Pass und in seiner Armeeakte. Er ist es.«
»Armeeakte?«
»Er war Soldat.«
»Ach, tatsächlich? Interessant.«
Erst besah ich mir die beiden Fotos. Das eine ein körniges Schwarzweißfoto von einem jungen Mann in Paradeuniform mit Quentin Townes’ Augen und Nase, wie es schien. Die Größe schien zu passen, ebenso das Alter. Das Passbild aus den Achtzigern war mit aller Wahrscheinlichkeit eine spätere, schnurrbärtige Ausgabe unseres Unbekannten.
»Ich glaube, das ist er«, sagte ich. »Was hältst du davon?«
»Sieht ganz nach ihm aus, finde ich. Wir haben zwar nur das halbe Gesicht gesehen, aber das hier passt recht gut dazu, finde ich.«
»Finde ich auch.«
»Da gibt es ein neues Verfahren, das sie jetzt anwenden, wo Skulpteure das Gesicht rekonstruieren. Wenn wir das machen lassen würden, dann könnten wir den vervollständigten Kopf mit den Fotos von Mr Locke vergleichen«, sagte Crabbie.
»Hört sich interessant an. Wo hast du das denn her?«
»Ich habe mich mit Detective Constable Warren unterhalten, bevor sie auf die Polizeiakademie gegangen ist. Der junge Lawson hat das bei einem Fall eingesetzt, an dem sie gearbeitet haben. Er ist fit bei all diesen neuen Vorgehensweisen und Techniken. Er ist sehr gut, das muss man schon sagen.«
Crabbie wollte mich nicht in Rage bringen. Crabbie war nicht der Mann für passiv aggressives Verhalten oder Sarkasmus, aber dieses Lob für Lawsons offenkundigen jugendlichen Scharfsinn war nicht exakt das, was ich hatte hören wollen, wo ich doch gerade einen verdammten Durchbruch in diesem Fall erreicht hatte.
»Was hast du denn sonst noch?«, fauchte ich ihn an, was ich sofort bedauerte.
Crabbie sagte nichts, doch seine Augenlider senkten sich ein wenig, und er reichte mir die Ausdrucke.
Ich nahm sie ihm ab und ging die Unterlagen schnell durch.
Alan Locke, geboren 1942 in London, irische Mutter. Vater unbekannt. Die Mutter verstirbt 1948 an Tuberkulose. Das Sorgerecht übernimmt eine Tante in Dublin. Besuch der Friends School in Dublin, bis er nach England geht/verschwindet; dort gibt es keine weiteren Aufzeichnungen, bis er 1963 zu den Fallschirmspringern geht. Er stellt sich geschickt an, qualifiziert sich als Scharfschütze der Infanterie und dient in Oman, Belize, Westdeutschland. Im Oman gerät er tatsächlich in Kämpfe und erhält das Military Cross für »Tapferkeit vor dem Feind«.
»Gab es denn Krieg im Oman?«, fragte ich Crabbie. »Davon wusste ich ja gar nichts.«
»Keine Ahnung, Sean. Sorry«, sagte Crabbie, der noch immer ein wenig verletzt wirkte, weil ich ihn so angeblafft hatte.
Zurück zu den Unterlagen.
Locke wird 1971 als Sergeant ehrenhaft aus der Armee entlassen. Keinerlei Daten über ihn, bis er 1972 verhaftet wird, weil er im County Cork mit einem gestohlenen Fahrzeug angehalten wird. 1973 wird er in Drogheda wegen Besitz von Sprengstoff verhaftet. Beide Anklagen werden aus Mangel an Beweisen fallengelassen. 1975 taucht sein Name im Zusammenhang mit einer Verschwörung auf, mit dem Ziel, den Premierminister von Irland zu ermorden (verflucht!), doch auch hier wird der Fall aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen. 1978 zieht er nach London und arbeitet dort als Kunsthändler, bis 1981 in seinem Haus ein flüchtiger IRA-Mann entdeckt wird. Er wird aufgrund des Prevention of Terrorism Act verhaftet, kommt aber erneut frei, weil es keinerlei Beweise für ein Verbrechen gibt. 1985 verkauft er das Haus in London und zieht nach Irland zurück, wo er offenbar eine saubere Weste behält, denn er verschwindet ganz aus den Datenbanken.
Ich legte die Unterlagen beiseite und klopfte Crabbie auf die Schulter, um das Eis zu brechen.
»Das hast du sehr gut gemacht, Mann. Hast das mit dem Premierminister gelesen?«
»Allerdings. Starker Toback.«
»Keine Ahnung, ob es was bringen würde, den Kopf unseres Opfers nachzumodellieren, aber was, wenn wir die Fingerabdrücke aus den Akten nehmen und mit …«, fing ich an, aber ich ahnte schon, dass Crabbie mir einen Schritt voraus war.
»Ich habe bereits offiziell einen Forensiker angefordert, der die Abdrücke vergleichen soll. Aber du weißt ja, Sean, die arbeiten nur von neun bis fünf. Ich habe allerdings die Fingerabdrücke von dem Fall im Jahr 1981 gekriegt und sie selbst mit denen aus den Unterlagen unseres Unbekannten verglichen. Ich bin zwar kein Kriminaltechniker, aber für mich sehen sie identisch aus.«
»Du hast sicher recht, Crabbie. 1985 kommt er nach Irland zurück und verschwindet von der Bildfläche. Seit sieben Jahren ist er hier und tut weiß Gott was, und in den letzten drei, vier Monaten wohnt er unter dem Pseudonym Quentin Townes in Carrickfergus. Das Ganze ist ziemlich finster, wenn du mich fragst«, sagte ich.
»Glaubst du, er ist ein Mitspieler?«
»Scharfschütze? Mitwisser bei einem Attentatsversuch auf den irischen Premierminister? Sprengstoff?«
»Sieht ganz so aus, als ob er niemals verurteilt worden ist«, sagte Crabbie, der stets an das Gute in seinen Mitmenschen glaubte. »Obwohl er ein ziemlich interessantes Leben geführt hat«, fügte er hinzu.
»Bis ihn jemand in der Einfahrt zu seinem Haus erschießt.«
WPC Babcock kam mit einem breiten Grinsen von der anderen Seite des Einsatzraums auf uns zu.
»Was ist mit ihr?«, fragte ich.
»Na ja, ich hab sie gebeten, in allen Grundbüchern der Gegend nach Alan Locke zu schauen.«
»Und genau das habe ich auch getan«, sagte die junge Babcock ziemlich forsch für ihr Alter und für jemanden so tief unten auf der Leiter.
»Was haben Sie denn gefunden?«
»Ach, das wird Sie beide freuen«, sagte sie selbstzufrieden und reichte mir einen Schreibblock mit einer Adresse.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Mr Townes hatte keine andere Adresse in Carrickfergus. Aber ein gewisser Alan Locke hat einen Wagen auf dem Campingplatz an der New Line Road stehen.«
»Sie machen Witze. Ein Campingwagen!«
»Ein Campingwagen«, sagte sie grinsend.
Natürlich musste es ausgerechnet ein Campingwagen sein, der ihn festnagelte. Erst kürzlich waren neue Gesetze gegen die Traveller erlassen worden, um illegale Zigeuner- und Traveller-Lager zu verhindern. Jetzt brauchte man wasserdichte Ausweise, um auf offiziellen Campingplätzen in Nordirland einen Wagen abzustellen. Die meisten irischen Traveller und Pavee hatten weder Führerschein noch Reisepass, also konnten sie jederzeit von diesen Plätzen verscheucht werden. Aber wenn Townes seinen Campingwagen dort abstellen wollte, dann musste er den Wichtigtuern in den Gemeinden einen mit Foto versehenen Ausweis vorlegen, etwas, das Mr Quentin Townes nicht hatte, aber Mr Alan Locke schon.
»Ich muss sofort dorthin fahren! Babcock, Sie sind die Diensthabende. Crabbie, du kommst mit mir.«
Crabbie konnte die Anspannung auf meinem Gesicht erkennen. Er wusste, was ich dachte. Wir mussten als Erste dort eintreffen, bevor O’Roarkes Schlägertruppe alle belastenden Beweise beseitigt hatte.
Aber Beweise wofür?
Woher sollten wir das wissen, verflucht?
»Wie lautet die Anschrift, Mann?«, fragte ich Crabbie, als ich den Parkplatz verließ.
»Platz 15, Clifden Park, The New Line Road. Die ist oben in der Nähe vom Woodburn Forest, glaube ich.«
Ich raste den Marine Highway entlang und nahm die North Road. Es goss in Strömen, und aus dem Wetterleuchten waren fette Blitze geworden, die in meinem Rückspiegel spektakulär in den Schornstein des Elektrizitätswerks Kilroot einschlugen.
Nach einer Minute hatten wir das städtische Carrickfergus hinter uns gelassen und befanden uns tief in der irischen Landschaft von vor hundert Jahren.
In dieser Ecke von Belfast war das so: Die sich langsam erholende städtische Kampfzone verwandelte sich abrupt in eine Postkartenlandschaft aus Kühen, Wäldern, Dämmen und Heuweiden.
Wir hatten keine Schwierigkeiten, den Campingplatz zu finden, der sich auf einem unattraktiven Stück Ödland befand, das zwischen umliegenden Feldern und Waldstücken lag. Es schien sich um ein ehemaliges Siedlungsprojekt zu handeln, das nie ganz umgesetzt worden war; nach und nach kehrte das Gelände wieder in einen Naturzustand aus Riesenfarnen, Brennnesseln und schnell wachsenden Bäumen zurück. Es gab insgesamt dreißig Campingwagen, die meisten davon für zwei Personen, aber auch ein paar größere für Familien. Trotz der Gesetze gegen das fahrende Volk war dies hier eindeutig Traveller-Land, wenn man nach der Zahl der angeleinten Ziegen und Pferde, der vermutlich gestohlenen Autos und den zusammengeflickten Motorrädern urteilen wollte. Regen und Uhrzeit sorgten dafür, dass sich etwaige ungehobelte Kerle drinnen aufhielten; ein Glück, denn als Polizist hatte man es manchmal schwer, durch ein Traveller-Lager zu kommen, ohne belästigt zu werden.
Der BMW versank im Schlamm, und Crabbie und ich stiegen aus. Der Regen war eisig. Meine Uhr verriet, dass es Viertel nach zwei war.
»Die ungerade nummerierten Plätze scheinen auf dieser Seite zu sein, die geraden auf der anderen«, sagte Crabbie.
»Was?«
»Ungerade auf dieser Seite!«
»Okay.«
Wir gingen über den Campingplatz. Ich hatte das Gefühl, etwas Schlimmes würde passieren, ein Gefühl, das ich je nach Stimmung auf außersinnliche Wahrnehmung schob oder auf Verfolgungswahn. Außerdem war es von der Geografie abhängig. In Schottland war es ganz normal, davon auszugehen, dass tatsächlich nichts Schlimmes passieren würde. In Nordirland geschah unvermeidlich etwas Schlimmes.
Ich zückte meine Glock, Crabbie, der offenbar dasselbe dachte wie ich, seinen Revolver. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Außerdem waren wir beide in Zivil – trugen also keine Schutzwesten.
»Da ist Platz 9, Platz 11«, sagte ich und zählte die Campingwagen ab.
Platz 13 lag zum Teil im Wald, Platz 15 wahrscheinlich noch tiefer.
»Ich glaube, da ist jemand«, flüsterte Crabbie.
»Wo?«
»Direkt vor dem Campingwagen.«
Er hatte recht. Der große, schwarzgekleidete Mann, der vor dem Zwei-Personen-Campingwagen auf Platz 15 stand, wirkte ziemlich verdächtig.
»Ich gehe voran, du bleibst hinter mir, okay?«
»Nein. Ich gehe vor, Sean. Ich habe einen dunklen Mantel an, und du trägst diese weißen Sneaker.«
»Du willst dich doch wohl nicht als Held aufspielen, Mann?«
»Nein, du vielleicht? Stell dich einfach hinter mich Sean, na los, beweis wenigstens einmal im Leben Verstand«, beharrte er mit einem leisen Hauch von Missmut.
»Sei vorsichtig, Crabbie.«
Wir umgingen den nächsten Campingwagen, und als Crabbie etwa acht Meter vom Platz 15 neben einer Eiche ankam, rief er mich zu sich.
»Ein Mann, großgewachsen, geht rein und raus«, flüsterte er.
»Nur einer?«
»Es könnten noch welche drin sein.«
»Wenn O’Roarke ein Abrisskommando geschickt hat, könnten es drei, vier Mann sein.«
»Aye, da hast du recht. Also, wie gehen wir vor, Sean?«
»Na ja, wir sind die Guten, also sollten wir ihnen die Chance lassen, sich zu ergeben, richtig?«
»Ja, das sollten wir. Ich glaube, der große Kerl hat irgendwelche Automatikwaffen umhängen.«
»Mist. Also gut. Vorsichtig, Kumpel, okay?«
»Du auch, Sean.«
Ich trat hinaus in den Regen, näherte mich dem Campingwagen und hielt die Glock mit ausgestreckten Armen vor mich. Ich war nervös. Ich sah nach links und rechts in den Wald, bemerkte aber keinerlei Bewegung.
Fünf Meter von Lockes Campingwagen entfernt rief ich: »Carrickfergus RUC! Hände hoch! Bewegen Sie Ihre Hände so, dass ich sie sehe!«
Der Mann zögerte keine Sekunde. Er hob die AK47, und noch bevor ich recht mitbekam, was los war, schoss er mit diesen großen, furchterregenden Patronen vom Format 7,62 × 39 mm auf uns.
Ich warf mich zu Boden (also in Schlamm, Dung und Brennnesseln) und schrie zu Crabbie hinüber, er solle sich ducken.
Nach fünf Sekunden hörte der Beschuss auf, und ich kroch hinter den Campingwagen auf Platz 13. Crabbie kauerte dort neben mir und richtete die Waffe auf die Wagenecke.
»Bist du getroffen worden?«, fragte Crabbie.
»Nein. Du?«
»Nein.«
»Wie viele sind es?«
»Keine Ahnung. Hab ich nicht gesehen. Ich hab mich einfach nur fallen lassen. Was ist mit dir?«
»Dasselbe. Bin zu Boden gegangen. Eine große Waffe allerdings. Wie damals in dem Mietshaus in Rathcoole. Irgendetwas in der Größenordnung«, sagte er phlegmatisch.
Damals wären wir beinah alle fällig gewesen. Diesmal wären wir es tatsächlich – falls wir es versauten.
»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Crabbie.
»Du wartest hier. Wenn jemand um die Ecke kommt, schießt du.«
»Was hast du vor?«
»Vielleicht schaffe ich es in den Wald und kann mich von hinten anschleichen.«
»Vielleicht sollten wir zurück zum Wagen und Verstärkung anfordern.«
»Wenn wir zurückgehen, knallen sie uns ab. Nein, Mann, das ist unsere einzige Chance, um …«
Das Quietschen eines Keilriemens und Schlammspritzer, als ein großer grüner Range Rover an uns vorbeifuhr.
»Waren sie das?«, rief Crabbie.
Ich stand auf. Die Tür zum Campingwagen auf Platz 15 war offen, und es gab keinerlei Anzeichen von Menschen dort drin.
»Zurück zum Wagen!«, rief ich Crabbie zu.
Wir eilten durch den Matsch zum BMW und sprangen hinein. Ich gab Crabbie das Funkmikro, und er forderte Straßensperren an.
»Hier spricht Sergeant McCrabban, Carrickfergus RUC. Dies ist ein allgemeiner Alarm. Stoppen Sie alle grünen Range Rover im östlichen County Antrim. Vermutlich Terroristen. Verdächtige mit Kalaschnikows bewaffnet.«
Während Crabbie mit der Einsatzzentrale sprach, schaltete ich den Motor an. Eines der seltenen Male, wo ich nicht unter dem Wagen nach Sprengsätzen geschaut hatte, was aber ein völlig irrelevantes Detail war – der BMW fuhr nirgendwohin.
Die Räder drehten durch, und der Wagen grub sich immer tiefer in den Matsch.
»Mist!«
»Versuch mal, hin und her zu schaukeln«, schlug Crabbie vor, und ich wusste, was er dachte – sein zuverlässiger alter Land Rover Defender wäre nicht stecken geblieben.
Wir schaukelten hin und zurück, doch vergebens.
»Du versuchst es vorsichtig im ersten Gang, und ich schiebe an«, rief ich.
Crabbie rutschte hinüber, und ich eilte zum Heck. Ich versuchte anzuschieben, aber die Räder gruben sich nur immer tiefer ein.
»Keine Chance!«, rief ich und rannte zu einem der Motorräder hinüber, in diesem Fall eine 125er Kawasaki. Ich trat den Anlasser durch, und das Motorrad stotterte. Ich trat noch mal, und die Maschine kam röhrend zum Leben.
»Sie sind dort entlang!«, rief Crabbie und zeigte nach Norden aufs Land hinaus.
Ich setzte mich drauf und legte den ersten Gang ein. Die Maschine hatte überhaupt keine Probleme mit dem Matsch. Sie liebte ihn. Sie zog in einer tollen S-Kurve hindurch, ich ließ den Campingplatz hinter mir und fuhr nordwärts auf die Woodburn Forest Road.
Kupplung linke Hand, zweiter Gang, Kupplung, dritter Gang, Kupplung, vierter Gang. Die kleine Kawasaki fuhr jetzt fast hundert und nahm völlig ungerührt die nasse Straße. Der Regen peitschte mir ins Gesicht, aber ich fand den Lichtschalter und schaltete den Scheinwerfer ein, was die Sicht ein wenig verbesserte.
Immer weiter ging es durch den Regen in die Berge.
Ich war bis auf die Haut durchnässt. Die Jeans war vollgesogen und Wasser floss durch den Spalt am Kragen meiner Lederjacke.
Zumindest gab es keinen Verkehr, und zu beiden Seiten der Straße war nichts als Hecken und Steinmauern, Schaf- und Kuhweiden.
Ich fuhr die New Line Road entlang, bis sie sich nach links und rechts verzweigte. Links war die Carrickfergus Road, rechts eine Straße namens Watch Hill Road. Die Chancen standen fifty-fifty. Ich nahm die Watch Hill Road, weil sie mir weniger befahren vorkam.
Die Watch Hill Road wurde zur Ballyrickard Road, einer einspurigen Straße. Ich kam immer höher in die Antrim Hills und näherte mich dem Dorf Kilwaughter.
Das Land hier oben war wilder, es gab nur noch wenige Farmen, denn die steileren Lagen waren höchstens als raue Schafweiden zu gebrauchen.
Sind Sie schon mal nachts bei Regen im hohen Tempo Motorrad gefahren?
Na, Sie können es sich bildlich vorstellen.
Merkwürdigerweise war der fehlende Helm von Vorteil und von Nachteil zugleich. Kein Schutz vor dem Regen, aber auch kein beschlagenes Visier.
Immer höher ging die Straße, aber die nette kleine 125er Kawasaki liebte es.
Ich nahm eine Biegung, hatte die Irische See hinter mir, und plötzlich war der Range Rover etwa fünfhundert Meter vor mir.
Ich hatte sie.
Ich ließ mich zurückfallen und schaute auf die Tankanzeige der Kawasaki. Der Tank war zu einem Viertel voll. Ich überschlug schnell im Kopf. Es passten vielleicht vier Liter in den Tank, eine 2-Zylinder 125er brauchte knapp drei Liter auf hundert, vielleicht aber auch vier, so wie ich fuhr. Na, sagen wir dreieinhalb, es gibt ja immer noch eine Reserve, also sollte ich sie besser auf den nächsten etwa fünfunddreißig Kilometern erwischen.
Fünfunddreißig Kilometer sollten reichen, wenn sie nach Belfast fuhren, aber wenn sie zurück nach Dundalk wollten, würde ich ihnen nicht folgen können.
Der Range Rover bog auf die A8 und fuhr dann nach Süden und Westen Richtung Belfast.
Bestens!
Dann kam mir ein weiterer Gedanke. Waren sie Profis, dann würden sie wahrscheinlich versuchen, den Range Rover in der Stadt loszuwerden und auf einen anderen Wagen umzusteigen.
Ich schaltete den Scheinwerfer der Kawasaki aus und hielt einen hoffentlich ausreichenden Abstand, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Merkwürdig, die Tankanzeige hatte sich überhaupt nicht bewegt. Ich klopfte darauf, und plötzlich fiel die Nadel auf null.
Mist!
Aber kein Grund zur Panik.
Wahrscheinlich war nur die Anzeige kaputt. Ich ließ die Maschine hin und her schwanken und konnte das Benzin im Tank herumschwappen hören.
Genug, um mich bis nach Belfast zu bringen?
Vielleicht.
Wenn sie nicht in eine Straßensperre kamen, würde ich einen Streifenwagen anhalten und den verschlafenen Penner aufscheuchen.
Ich hatte gedacht, dass ich vorsichtig gewesen wäre und Abstand gehalten hätte, ich hatte nicht versucht zu überholen, hatte es hübsch langsam angehen lassen, aber irgendwie hatten sie es spitzgekriegt. Um diese Nachtzeit waren die Straßen leer, und ein einzelnes Motorrad ganz weit hinten im Rückspiegel? Wer, der noch bei Verstand war, würde denn bei diesem verfluchten Wetter rausfahren? Ohne Helm? Und sind wir nicht vorhin auf dem Campingplatz an genau so einem Motorrad vorbeigekommen?
Wenn sie vorsichtigere oder weniger wagemutige Aufräumer gewesen wären, dann hätten sie versucht, mich abzuschütteln, doch hier, ohne Zeugen auf einer Landstraße, versuchten sie es mit einem etwas destruktiveren Ansatz.
Sie fuhren langsamer, kurbelten die Beifahrerscheibe herunter und feuerten ihre AK auf mich ab.
Leuchtspuren erhellten den Asphalt, und siedend heiße Kugeln kreischten in Überschall um mich herum.
»Verfluchte Scheiße!«
Ich drosselte das Tempo und schaltete in den dritten Gang.
Das hintere Seitenfenster ging hinunter, und ein Mann mit Sturmhaube schoss mit einem Revolver auf mich.
Eine weitere Salve aus der Kalaschnikow zerstob in weißem Feuer auf dem Asphalt rings um mich.
»Mist!«, schrie ich, als eine Kugel den Scheinwerfer traf und an meinem Gesicht vorbeipfiff. Sie verpasste mich um zwanzig Zentimeter, aber ich verlor die Kontrolle über die Maschine, kam ins Rutschen, versuchte, mich wieder aufzurichten, kam erneut ins Rutschen, verpasste die Kurve wie Lawrence von Arabien, kam von der Straße ab und raste auf eine Hecke zu.
Reiß sie zur Straße zurück!
Reiß sie zurück!
Reiß …
Blätter.
Dornen.
Zweige.
Eine Wand.
Schwärze.
Stille …
Eine unbekannte Zeitellipse.
Die Rückkehr der Erkenntnisfähigkeit.
Der prasselnde Regen.
Nach und nach feuerten mein Bewusstsein und mein Gedächtnis wieder.
Verwirrt. Benommen.
»Himmel«, sagte ich.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Autounfall.
Ich hatte einen Autounfall in Schottland.
Nein, nicht Schottland.
Irland.
Ich bin an einem Fall dran.
An einem Fall, nach all der Zeit.
Ich befreite mich aus der Hecke, die über eine uralte Steinmauer gewuchert war. Ich hatte ein paar Schnitte und blaue Flecke abbekommen, aber nichts war gebrochen, und alles war noch dran.
Ich hatte mir auf die Zunge gebissen, und ich hatte Blut im Mund.
Ich muss wohl für fünf bis zehn Minuten bewusstlos gewesen sein, und wenn sie gewollt hätten, dann hätten die Männer im Range Rover zurücksetzen und mich erledigen können. Hatten sie aber nicht. Sie hatten nur davonkommen wollen.
Was sie geschafft hatten.
Sie waren schon lange fort.
Ich stolperte auf die Straße.
Lichter.
»Hey, hey!«, krächzte ich, aber ich muss ziemlich schlimm ausgesehen haben, denn die Lichter fuhren einfach weiter.
Fünf Minuten später versuchte ich, einen Wagen anzuhalten, der in die andere Richtung fuhr, aber vergeblich. Ein großes schwarzes Motorrad wurde langsamer, als es näher kam, doch dann gab der Fahrer Gas und fuhr vorbei.
So ein Mistkerl.
Ich zog die Kawasaki aus dem Gebüsch; sie war schlammbedeckt und steckte kopfüber im Graben. Ich richtete sie auf, säuberte die Zündkerze und trat auf den Anlasser. Die Maschine sprang ohne Murren sofort an. Versuchen Sie das mal mit der Triumph Bonneville, die ich immer noch in meinem Schuppen zu reparieren versuchte!
Die Vordergabel war verbogen und in der Luftansaugung steckte eine Tonne Schlamm, aber sie bewegte sich.
Ich fuhr langsam zurück zum Campingplatz; Crabbie hatte in der Zwischenzeit ein Team der KT aus Belfast herbeordert, das sich Lockes Campingwagen anschauen sollte.
Als er mich kommen sah, eilte er zu mir herüber.
»Ich hab sie verloren«, sagte ich.
»Alles in Ordnung mit dir? Hast du dich hingelegt?«, fragte er besorgt.
Ich schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung. Ich hatte sie gefunden und bin ihnen gefolgt, aber sie haben mich im Rückspiegel bemerkt. Ich hab’s vergeigt.«
»Und dann?«
»Sie haben mit der AK auf mich gefeuert, ich hab die Kontrolle über die Maschine verloren und bin von der Straße abgekommen. Bis ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren sie schon weg.«
»Sie haben auf dich geschossen, und du bist gestürzt?«
»Aye.«
»Und du bist sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Mir geht’s gut, Mann. Hat mich ein bisschen gebeutelt, wenn ich ehrlich bin, aber alles okay.«
»Setz dich, ich besorg dir einen Tee«, sagte Crabbie, der sich anscheinend echte Sorgen machte.
»Nicht nötig. Was ist hier los?«
»Ich hab eine Suchfahndung nach dem Range Rover rausgegeben. Noch nichts bisher.«
»Du kannst die Fahndung aktualisieren. Ich glaub, das Fahrzeug will nach Belfast. Ich habe es zuletzt auf der A8 gesehen.«
Crabbie aktualisierte die Meldung, ich ging zum Zelt der KT, schenkte mir einen Tee ein und nahm mir zwei Kekse. Meine Hände zitterten, aber der Tee half.
»Irgendwas im Campingwagen übrig geblieben?«, fragte ich Crabbie, als er zurückkam.
»Nein. Blitzblank. Ich habe mich selbst umgeschaut, während du auf Verfolgungsjagd warst. Sie hatten keinen Schlüssel. Der Griff ist mit einem Vorschlaghammer abgeschlagen und das Schloss aufgemeißelt worden.«
»Was, glaubst du, war hier gelagert?«
»Waffen. Jede Menge Waffen. Man kann noch immer das Waffenöl und das Nitro riechen, und an der Wand befindet sich ein halbes Dutzend Waffenständer. Kein Staub an den Ständern. Bis vor kurzem, und damit meine ich bis vor ein paar Stunden, standen dort also Waffen.«
Ich wollte mir selbst ein Bild machen, aber die Kriminaltechniker verteidigten eifersüchtig ihr Territorium.
»Was für Waffen?«
»Große Waffenständer, also wohl eher Gewehre oder Schrotflinten. An manchen Stellen ist Waffenöl auf dem Holz. Schätze, die Jungs, mit denen du dich angelegt hast, mussten herkommen und die Waffen wegschaffen, weil sie sonst von der Spurentechnik mit irgendwelchen Verbrechen in Verbindung gebracht worden wären.«
»Da hast du wohl recht, schätze ich.«
Crabbie besah sich meine Stirn und schüttelte den Kopf. »Du solltest ins Krankenhaus, Sean. Du hast dich ziemlich aufgeschrammt. Und schau dir deine Hand an, du bist verletzt«, sagte er voller Bestürzung.
»Alles okay. Ich bin ja auch nach dem Unfall wieder zurückgefahren.«
»Wozu? Du hättest zum nächsten Bauernhof gehen und die Polizei anrufen sollen.«
»Daran habe ich nicht gedacht«, räumte ich ein.
Crabbie schüttelte den Kopf. »Du hast dir wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung geholt. Ich fahre dich ins Krankenhaus.«
»Nein, das tust du nicht, wir haben es hier mit einem frischen Tatort zu tun.«
»Es reicht, Sean. Die KT wird uns ihren Bericht egal wohin schicken. Na komm schon. Ich bring dich ins Krankenhaus. Ich habe deinen Wagen aus dem Schlamm ziehen lassen.«
»Na, hör mal, wer ist hier der Einsatzleiter, hm? Ich gehe nirgendwohin«, sagte ich, obwohl mir der Kopf schwirrte.
»Ich bin der Einsatzleiter. Ich enthebe dich der Kontrolle, Sean. Wegen Handlungsunfähigkeit. Und jetzt komm mit zum Wagen. Ich fahre.«
Mit dem BMW zur Küstenstraße.
Crabbie fuhr, aber er schaltete, als hielte er Aktien der Herstellerfirma von BMW-Ersatzkupplungen.
Zum Whiteabbey Hospital.
Notaufnahme.
Ärzte. Schwestern. Crabbie nahm alles in die Hand. »Er ist Polizist. Er hat auf dem Motorrad Verdächtige verfolgt. Sie haben auf ihn geschossen, er ist in eine Hecke gefahren und in eine Steinmauer auch, glaube ich.«
Man säuberte die Wunden.
Verband.
Tetanusspritze.
Kopfaufnahme.
Der Oberarzt: »Sie sind übel gestürzt, aber Sie hatten Glück. Nichts gebrochen. Dennoch sollten Sie ein paar Tage ausruhen. Vermeiden Sie jede Aufregung, und wenn Sie Kopfschmerzen bekommen, sollten Sie mich unverzüglich wieder aufsuchen.«
»Danke, Doc«, sagte ich. »Ich ruhe mich aus und vermeide jede Aufregung. Und, ähm, was ist mit den Schmerzen?«
»Gehen Sie zum Bereitschaftsarzt und lassen Sie sich ein Rezept ausstellen. Und denken Sie daran, was ich wegen der Kopfschmerzen gesagt habe.«
»Das mach ich, Doc, danke.«
Als er gegangen war, nahm ich Crabbie beiseite. »Tu mir einen Gefallen, Mann. Besorg mir ein Rezept für ein paar gute Schmerzmittel. Und wenn du schon dabei bist, frag auf dem Revier nach den neuesten Ergebnissen.«
»Keine Aufregung, Sean. Lass den Fall für eine Weile ruhen.«
»Das ist doch keine Aufregung. Dafür lebe ich.«
Crabbie kam mit einem Rezept für langweiliges, altmodisches Codein und mit ein paar Neuigkeiten zurück. Der vorläufige Bericht der KT über den Wohnwagen hielt fest, dass er bis vor kurzem voller Waffen und Munition gewesen war. Mr Lockes Fingerabdrücke waren überall.
Natürlich war der Range Rover trotz der Tatsache, dass Nordirland gesteckt voll mit Polizisten und Straßensperren der Armee war, von der Bildfläche verschwunden. Falls er jemals auftauchen sollte, dann nur als ausgebranntes Wrack.
Als die Oberschwester meinte, ich könne gehen, wollte Crabbie mich nach Hause bringen, doch ich bestand darauf, zum Campingplatz zurückzufahren. Wir rissen das Absperrband ab, schalteten unsere Taschenlampen ein und schauten uns im Campingwagen um.
Gewehrständer und beißender Geruch nach Schmiere, Waffenöl und Kordit. In einer Schublade fanden wir ein Dutzend Gewehrhülsen und zwei Papierziele, denen die Mitte herausgeschossen worden war. Ich reichte sie Crabbie.
»Nette kleine Bude hat er hier. Einen Campingwagen voller Gewehre und Munition. Er hat seine beiden Welten hübsch säuberlich getrennt, hm? Wir wären ihm nie auf die Schliche gekommen, höchstens durch reinen Zufall.«
»Durch gute, altmodische Polizeiarbeit, Sean«, verbesserte mich Crabbie.
»Ja, tatsächlich. Gute, altmodische Polizeiarbeit.«
Ich bewunderte die Zielscheiben noch eine Weile.
»Was denkst du, Sean?«, fragte Crabbie.
»Ich denke dasselbe wie du.«
»Und was denke ich?«
»Ein Auftragskiller ist erschossen worden.«
Crabbie nickte. »Sieht ganz so aus.«
»Alan Locke war Mitspieler. Wahrscheinlich Attentäter. Wahrscheinlich für O’Roarke.«
»Noch können wir die Verbindung nicht herstellen, oder?«
»Die Frage ist nur, warum? Warum wurde er in den Norden geschickt, warum lebte er in den letzten paar Monaten unter falschem Namen in Carrickfergus? Dieser Elitesoldat des gefährlichsten Mannes in Irland. Worum ging es hier?«
»Keine Ahnung.«
»Sicherlich nicht darum, alte Damen und ihre Katzen zu porträtieren, so viel steht schon mal fest. Er war ein Schläfer und wartete auf Befehle. Und dann wird der Attentäter aus irgendeinem Grund selbst umgebracht. Von einer Person, die uns beinah hat weismachen können, dass Locke bei einem fehlgeschlagenen Autodiebstahl umgekommen ist. Beinah.«
Crabbie schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass er einen auch nur halbwegs ordentlichen Detective hätte reinlegen können.«
»Schau dich doch um, Mann. Fähige Detectives in der RUC? In einer vielbeschäftigten Einheit in Belfast hätten die das unter Joyriding verbucht. Aye, Crabbie, dieser Mörder eines Mörders war gut, und er wäre damit durchgekommen, wenn wir uns da nicht eingemischt hätten. Und dann tauchen O’Roarkes Männer hier oben auf diesem Campingplatz auf, um das Waffenarsenal des verstorbenen Mr Locke auszuräumen? Das geht mir gegen den Strich, Mann. Wenn wir seinen Namen vier oder fünf Stunden früher herausgefunden hätten, dann hätten wir den Laden hier unter Beobachtung stellen oder zumindest Waffen sicherstellen können, die bei zahlreichen Morden und Überfällen eingesetzt worden sind.«
»Aye«, pflichtete Crabbie mir traurig bei.
Ich steckte die Zielscheiben und die Hülsen in Asservatenbeutel, wir schlossen die Tür und klebten das Absperrband wieder darüber.
Es war bereits halb fünf Uhr morgens. Zu dieser Jahreszeit hätte sich die Sonne üblicherweise über den schottischen Hügeln blicken lassen. Heute versteckte sie sich hinter grauen Wolken und Regen, und es fühlte sich völlig lächerlich an, zu Beginn eines neuen Tages noch immer bei der Arbeit zu sein.
»Wir müssen nach Hause und schlafen. Ich erwarte dich erst gegen Nachmittag im Büro«, sagte ich zu Crabbie.
Er machte ein ernstes Gesicht. »Ich komme erst am Nachmittag zur Arbeit, wenn du mir versprichst, dass du auch erst am Nachmittag kommst.«
»Versprochen«, sagte ich.
Wir sahen uns an. Jemand hatte vor ein paar Stunden mit einem Maschinengewehr auf uns geschossen. Und jetzt sollten wir nach Hause in unsere Betten und schlafen, als sei nichts gewesen.
»Ein blöder Job«, sagte ich. »Ein verdammt blöder Job für Männer im fortgeschrittenen Alter.«
»Wir hatten es beide fast hinter uns.«
»Aye.«
Ich seufzte und schaute den großen Kerl an. Wenn man mit heißem Blei beschossen wird, dann kann das den hartherzigsten Burschen in einen Philosophen verwandeln. »Was denn?«, fragte er.
»Ich wollte dich fragen, worum es hier eigentlich geht. Aber das hat ja keinen Sinn. Du wirst sagen, dass Gottes Wille geschehen wird, und ich werde entgegnen, dass ich mir nicht mal sicher bin, ob es überhaupt einen Gott gibt, der dieses Leichenhaus leitet. Und dann wirst du antworten, wenn du das glauben würdest, würdest du völlig verzweifeln. Und darauf würde ich erwidern, was du wohl glauben würdest, warum ich so deprimiert sei. Dann würdest du fragen, wie denn mein Glaube an den heiligen Michael als Schutzheiligen mit der Nummer in Einklang stehe, es gäbe keinen Gott. Und ich würde antworten, dass es nun mal mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gäbe usw. Und dann würdest du sagen, nun, vielleicht ist eines dieser Dinge eben Gott. Worauf ich entgegnen würde, schau dich doch mal um, Mann, schaut das so aus, als wäre in diesem Kaff hier eine Gottheit am Werk? Und du würdest sagen, das führt uns nicht weiter, worauf ich dir zustimmen würde.«
Crabbie nickte. »Ich bin froh, dass wir das schon mal geklärt haben.«
Wir gingen zum BMW und hatten den Wagen schon fast erreicht, als eines der älteren Tinker-Kinder herauskam und uns blöd von der Seite anquatschte, wir hätten sein Motorrad geklaut. Er griff mich ausschweifend auf Shelta und auf Irisch an und faselte was von der Selbstherrlichkeit der Polizei, als ich ihn erkannte: Killian, ein wohlbekannter Autodieb und Schwindler, dessen Vorstrafenregister schon ellenlang war. Er war ein Scherzbold und Ganove, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er es geschafft hatte, einer langen Haftstrafe zu entgehen.
»Ich will Holländer sein, wenn das dein Motorrad war, und jetzt gib Ruhe, wir müssen nach Hause und schlafen«, entgegnete ich auf Irisch.
Einen Augenblick lang sah er mich verschlagen an. »Na ja, ich bin kein Spitzel«, sagte er auf Englisch.
»Sprich weiter«, meinte ich.
»Ich weiß nichts über den Mann, der den Wohnwagen am Wald gemietet hat. Hat nie mit jemandem gesprochen, hat nur zu Joshy McDermott, der den Platz leitet, gesagt, falls irgendwann mal etwas aus seinem Campingwagen fehlen sollte, dann würde er es nicht mit ihm zu tun kriegen, sondern mit den Jungs aus Dundalk.«
»Wen meinte er damit?«
»Das wissen Sie doch.«
»Das IRA-Oberkommando jenseits der Grenze.«
»Das war keine Drohung. Das war ein Versprechen. Das konnte man in seinen Augen sehen. Niemand ist auch nur in die Nähe von seinem Wohnwagen gegangen. Oder hat durchs Fenster geschaut.«
Ich konnte sehen, dass das noch nicht alles war. »Was noch?«
»Manchmal kam er früh am Morgen her, holte ein langes Gewehr aus dem Wohnwagen, verschwand dann da drüben im Wald und machte ein paar Schießübungen.«
Ich zückte mein Notizbuch und versuchte, das alles mitzuschreiben, aber nach dem Sturz mit dem Motorrad war Schreiben doch nicht so leicht, wie ich dachte.
»Wir müssen alles über ihn wissen. Sie verpfeifen ihn nicht. Er ist tot. Das war der Mann, der neulich in der Prospect Avenue umgebracht worden ist. Er nannte sich Quentin Townes«, sagte Crabbie.
»Richtig hieß er aber Alan Locke«, fügte ich hinzu.
»Hier hat er keinen von beiden Namen benutzt. Er hat nie einen Namen benutzt. Aber ich habe ihn in der Stadt in seinem Jaguar rumfahren sehen.«
»Was hast du noch gesehen, Killian?«
Seine Augen wurden schmal. Er war eh schon keine Schönheit, aber mit den zu Schlitzen zusammengedrückten Augen wirkte er noch reptilienhafter und ungemütlicher. »Was ist Ihnen das bisher wert?«, fragte er.
»Zwanzig Pfund?«
»Wie wär’s mit fünfzig?«
»Wie wär’s mit fünfzig, wenn du uns etwas richtig Gutes erzählst?«, schlug ich vor.
»Ist die Tatsache, dass er wahrscheinlich bei der IRA war, nicht gut?«
»Das wussten wir schon, und wir waren bereits in Dundalk und haben dort nach ihm gefragt«, antwortete Crabbie; Killian konnte erkennen, dass Crabbie nicht log.
»Etwas Gutes, hm?«, meinte Killian. »Wie wär’s mit der Norton Commando?«
»Was ist damit?«
»Es hieß in den Nachrichten, dass die Polizei um die Mithilfe bei der Fahndung nach einem Mann bittet, der eine Norton Commando gefahren hat.«
»Und?«
»Was, wenn ich sage, dass ein Mann auf einer schwarzen Norton Commando hier herumgeschnüffelt hat?«
Selbst meine halb zugeschwollenen Augen blitzten auf.
»Und was genau hat er gemacht?«
»Ist um Townes’ Wohnwagen herumgeschlichen. Ich hab zwar nicht gesehen, ob er eingebrochen ist, aber man kann nie wissen, vielleicht schon. Es war schon merkwürdig. Wir haben nicht allzu viele zwanglose Besucher oder Touristen hier in der Gegend, deshalb sind er und seine Maschine aufgefallen, und ich habe gesehen, wie er beiläufig zu dem Wohnwagen von Ihrem Typen geschlendert ist.«
»Wann war das?«
»Weiß nicht, vor ein paar Tagen. Ganz in der Frühe, hat wohl gedacht, wir schlafen alle noch. Ich war aber wach.«
»Vor dem Mord?«
»Aye, vor ein paar Tagen.«
»Du hast gute Augen, mein Junge. Hast du dir das Kennzeichen gemerkt?«, fragte Crabbie.
»Hab nicht dran gedacht. Sorry.«
»Wie sah der Typ aus?«, fragte ich.
»Das kann ich Ihnen verraten«, sagte er und schwieg.
Ich zückte meine Brieftasche und zählte fünfzig Piepen ab. Er streckte die Hand aus, doch ich zog das Geld à la Rockford zurück. »Und wehe, es stimmt nicht.«
Killian schnappte sich das Geld. »Ehrlich gesagt, habe ich ihn nur von hinten …«, fing er an, und ich wollte mir schon das Geld zurückschnappen, doch er steckte sich die Scheine in die Hosentasche.
»Eins fündundachtzig, mittelkräftig, rotblonde Haare, blass, Linkshänder womöglich, weil er den Helm mit der linken Hand trug. Ein Shoei. Levi’s und schwarze Motorradjacke«, sagte er schnell.
»Na, das ist doch schon was«, sagte Crabbie und nahm seine Pfeife heraus.
»Aber nicht für fünfzig Piepen«, murmelte ich. Ich gab Killian meine Karte. »Wenn du ihn hier in der Gegend oder sonst irgendwo in Carrickfergus wieder siehst, rufst du mich an. Da warten weitere fünfzig auf dich.«
»Abgemacht. Hey, Duffy.«
»Was denn?«
»Kennen Sie den schon? Der Vorteil an Klugheit ist, dass man sich dumm stellen kann. Andersrum ist es schwierig.«
Ich wollte ihm eine hinter die Ohren geben, aber Killian war schon wieder verschwunden.
Auf dem Revier reichten wir unsere Berichte beim Diensthabenden ein und schauten in den Protokollen nach, ob der Range Rover aufgetaucht war, doch hatte es keine Spur von ihm gegeben.
Die Sonne war schon über Schottland aufgegangen, und der Verkehr auf dem Marine Highway jenseits von Lawsons Bürofenster nahm bereits zu.
»Hör mal, Crabbie«, sagte ich. »Als ich letzte Nacht den Unfall hatte, ist ein Motorrad an mir vorbeigekommen. Eine schwarze Maschine. Könnte eine schwarze Norton gewesen sein. Ich war noch ganz benommen und nicht ganz bei mir, aber vielleicht war es eine schwarze Norton.«
»Ganz schöner Zufall, hm?«, sagte McCrabban.
»Dabei magst du gar keine Zufälle, richtig?«
»Und du auch nicht.«
»Nein. Ich kann diese Mistviecher nicht ausstehen.«