Um halb acht haute ich mich schließlich aufs Ohr und wachte vier Stunden später im Bett zusammengerollt wieder auf, zitterte, war missmutig, aber auf merkwürdige Weise ausgeruht. Ich ging nach unten und rief zu Hause an, doch Beth und Emma waren schon auf dem Schulweg.
Der Anrufbeantworter sprang an, und ich hinterließ eine Nachricht: »Hallo, Leute, bei mir ist alles in Ordnung. Der Fall läuft gut. Mir geht’s gut. Ich komme am Wochenende heim, wenn der Fall nicht schon vorher abgeschlossen ist.«
Ich wusste, dass die Katze sich die Nachricht mit eisiger Gleichgültigkeit anhörte, wie das so ihre Art war. Ich sah hinaus auf die Coronation Road. Die Regenrinnen flossen über und ergossen sich über die Scheiben.
Das Außenthermometer zeigte vier Grad Celsius. Das überraschte mich nicht. Um diese Jahreszeit würde es auf Meereshöhe niemals schneien, ansonsten aber war jede Form von Wetter möglich.
Ich hatte mich in meine Decke gewickelt und öffnete die Haustür. Keine Milch. Das kapierte ich nicht. Trevor, der Milchmann, wusste doch, dass ich jeden Tag, den ich in der Coronation Road war, eine Flasche Vorzugsmilch bekam, und er wusste, wann ich anwesend war, weil ich das kleine Fähnchen an dem Milchkasten hochklappte. Ich schaute nach, ob das Fähnchen der Molkerei Antrim oben war – war es. Trotzdem gab es keine Milch.
»Suchen Sie nach Ihrer Milch?«, fragte jemand.
Ich sah zum Nachbarhaus hinüber. Neue Nachbarin. Das Haus hatte ein halbes Jahr lang leergestanden, aber Mrs Campbell von der anderen Seite hatte gemeint, neulich sei dort eine Frau eingezogen.
Das war sie offenkundig.
Hübsch, Mitte zwanzig, schwarze, zu einem Bob geschnittene Haare, Adlernase, blaue Augen. Sie trug Pyjama und puschelige Hausschuhe.
»Guten Morgen. Ja, ich suche nach meiner Milch.«
»Montag war der allerletzte Liefertag. Die Molkerei Antrim verkauft jetzt nur noch über die Supermärkte.«
»Haben Sie mit Trevor darüber gesprochen?«
»Wer ist Trevor?«
»Der Milchmann.«
»Nein. Mrs Campbell hat es mir erzählt.«
»Und jetzt kommt kein Milchmann mehr?«
»Nein, nie wieder«, sagte sie.
»Und die Flaschen?«
»Flaschen gibt es auch nicht mehr, glaube ich. Jetzt gibt es Milch nur noch im Karton.«
»Und was nehmen die Kinder dann für die Molotow-Cocktails?«
»Eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, an die mal wieder niemand gedacht hat.«
Ich schaute sie mir an. Diese Augen. »Wenn es keine Milch gibt, was machen Sie dann hier draußen?«, fragte ich.
Sie wedelte mit ein paar Briefumschlägen. »Es gibt ja immer noch die Post.«
»Ja, aber wie lange noch? Haben Sie schon von diesen E-Mails gehört? Erst der Milchmann, dann der Postbote, Sie werden schon sehen.«
»Sie sind ja vielleicht ein Pessimist«, sagte sie und lächelte.
Ich nickte und streckte die Hand über den Zaun. »Sean Duffy«, sagte ich.
»Rachel Melville.«
»Und, was machen Sie so, Rachel?«
»Ich unterrichte Englisch an der neuen integrativen Schule für protestantische und katholische Kinder.«
»Ich habe davon gehört. Wie heißt denn die Schule?«
»Wir nennen sie Sweeney School.«
»Nach der Fernsehserie?«
Sie lächelte nicht.
»Oder nach dem Barbier?«, versuchte ich es noch mal.
Sie schüttelte den Kopf. »Nach König Sweeney, der hier aus der Gegend war.«
Sweeney war der König von Dál nAraide, der hier in der Gegend bis zur Schlacht von Mag Rath (Moira) 637 n. Chr. herrschte. Wenn ich hätte angeben wollen, dann hätte ich an dieser Stelle der Unterhaltung aus der Geschichte des verrückten Sweeney auf Irisch zitieren können oder aus Seamus Heaneys Übersetzung der Irrungen des verrückten Sweeney. Ich hätte ihr sogar ein Stück aus T. S. Eliots »Sweeney unter den Nachtigallen« zitieren können.
Ich tat nichts dergleichen. Ich lächelte nur und nickte.
»Ist denn heute keine Schule?«, fragte ich.
»Es ist Juli.«
»Ach ja. Das Wetter. Kommt einem vor wie im Winter.«
»Und was machen Sie?«
»Ich bin Teilzeitpolizist.«
»Tatsächlich?«
»Aye.«
»Ich habe Sie hier in der Gegend noch nicht oft gesehen.«
»Ich bin nur sechs, sieben Tage im Monat hier, normalerweise. Gerade arbeite ich allerdings an einem Fall und bin noch die nächste Woche etwa hier.«
»Und wo wohnen Sie die restliche Zeit?«
»In Schottland.«
»Nett da?«
»Sehr nett.«
»Na, schön, Sie kennengelernt zu haben«, sagte sie.
»Ebenso.«
Sie ging mit ihrer Post hinein.
Schade, das mit dem Milchmann. Wenn ich gewusst hätte, dass Montag sein letzter Tag sein würde, hätte ich ihm ein Trinkgeld dagelassen. Aber so ist das. Auf der einen Seite bauen sie einem eine integrative Grundschule praktisch in den Garten, auf der anderen liefern sie einem keine Milch mehr ins Haus. Und so was nennt sich Fortschritt.
Eine gut aussehende Frau allerdings. Interessant, dass ich in unserer kurzen Unterhaltung die Tatsache unerwähnt gelassen habe, dass in dem Haus in Schottland Frau und Kind warteten.
Ich betrat den Hausflur und besah mich im Spiegel.
»Du solltest besser aufpassen, Duffy. Ich kenne dich.«
Der Spiegel-Duffy nickte nur und sagte nichts. Der Spiegel-Duffy konnte sich mit seiner Angeberei nicht zurückhalten und murmelte: »Das stille Wirbeltier in Braun / spreizt sich, verschwindet, stummer Fisch / Rachel, geborene Rabinowitsch / Greift nach den Trauben mörderisch.«
Der wirklich recht brillante Anthony Julius hatte kürzlich ziemlich viel Tinte verbraucht und sich im Times Literary Supplement über diese beiden Zeilen ausgelassen. Julius argumentierte darin einigermaßen überzeugend über Eliots zwar höflichen, aber beharrlichen Antisemitismus.
Meine Intuition sagte mir, dass Rachel nebenan Katholikin war. Ich fragte mich, ob sie verheiratet war oder nicht. Wieder tauchte eine Textzeile an der Oberfläche meines geschundenen Gehirns auf.
»Es war die vom rechten Kurs abgekommene Rachel«, sagte ich bei mir, »die bei der Suche nach ihren verschollenen Kindern nur auf ein weiteres Waisenkind stieß.«
Ich duschte, zog weißes Hemd, blauen Pullover, schwarze Jeans und feste Doc Martens an.
Dann machte ich mir Spiegelei, Kartoffelbrot und Kaffee.
Ein Blick unter den Wagen auf der Suche nach Sprengsätzen.
Dann aufs Revier.
Kein Crabbie, also ging ich Einträge und Unterlagen allein durch. Der Range Rover hatte sich in Luft aufgelöst. Die Patronenhülsen aus der AK ähnelten keiner Munition, die schon bei früheren Verbrechen verwendet worden war. Es gab keine weiteren Informationen zu Alan Locke. Er hatte keinen anderen Wohnsitz gehabt, weder in Irland noch in Großbritannien.
Ich ließ ihn durch alle Datenbanken laufen, doch fand sich nichts, was in den letzten fünf Jahren mit ihm zu tun gehabt hatte. Er war spurlos vom Radar verschwunden.
Auch keine Treffer zu angeblichen jugendlichen Autodieben/Mördern.
Ich rief Jill Dumont bei RUC Operational Research an; nach einer Sekretärin und einem verfluchten Assistenten wurde ich endlich durchgestellt.
Wir hielten ein Schwätzchen, ich fragte nach den Kindern und kam zum Anlass meines Anrufs, aber sie hatte noch nie von Locke gehört. Sie wollte wissen, warum ich nach ihm fragte, und ich berichtete ihr, dass er das Opfer in einem Mordfall sei, den ich ermitteln würde, und dass ich es für möglich hielt, dass er ein Attentäter der IRA gewesen sei.
»Und wer hat ihn umgebracht?«, fragte sie.
»Das ist die Frage.«
»Die protestantischen Paras können es nicht gewesen sein, die würden die Ermordung eines Killers der IRA mit Feuerwerk und jeder Menge Anrufen bei den Medien feiern.«
»Eine Fehde innerhalb der IRA?«
»Auch hier würde es Anrufe geben.«
»Und wer bringt ihn um, ohne hinterher die Medien anzurufen?«
»So wie es aussieht zwei Burschen, die versuchen, seinen Wagen zu stehlen, und die Sache gerät aus dem Ruder«, sagte Jill, die den Fall offensichtlich auf dem PC aufgerufen hatte.
»Nein, das ist es nicht, Jill, die Sache geht tiefer«, entgegnete ich.
Langes Schweigen in der Leitung. »Na ja, bei diesen Dingen liegst du meistens richtig, Sean. Wenn du etwas Konkretes hast, kann ich dir vielleicht behilflich sein.«
Ich bedankte mich bei ihr und legte auf.
Schwarze Wolken jenseits von Lawsons Fenster. Schwarze Wolken über einer blaugrauen See. Andere Meldungen bevölkerten die Titelseiten: Unruhen in Derry, Unruhen in Portadown, die kommenden Wahlen in Großbritannien und in den USA. Nichts davon interessierte mich.
In den vergangenen Jahren war der Kalte Krieg zu Ende gegangen, Thatcher war abgetreten, Reagan war abgetreten, die Berliner Mauer war gefallen, Nirvana hatte Michael Jackson von den oberen Rängen der Charts verdrängt, doch hier in Irland spielten die Männer der Gewalt weiter lustig ihr Spielchen.
Ich nahm meine Einkaufstaschen und stellte die Whiskyflaschen in den Getränkeschrank. Jetzt konnte Lawson einem zumindest einen ordentlichen Schluck anbieten, wenn man ihn aufsuchte.
Es klopfte an der Tür.
»Wie geht’s?«, fragte Crabbie.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst erst am Nachmittag herkommen.«
»Es ist Nachmittag.«
»Whisky?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht, dass der junge Lawson …«
»Ich habe seinen Vorrat aufgefüllt.«
Wir tranken ein Glas Jura und schauten hinaus auf die schwere schwarze Regenfront, die sich über den Lough vorarbeitete. Hagel prasselte gegen die Scheiben des Reviers.
»Wenn Irland vor der Südküste Frankreichs liegen würde statt im Nordatlantik, dann würden sich eine Menge unserer Probleme bei schönstem Sonnenschein in nichts auflösen, schätze ich.«
Crabbie schüttelte den Kopf. »Die Butter in der Gegend ist erschreckend schlecht. Die Schwägerin war mal dort unten und sagte, die Butter sei weiß. Kannst du so etwas glauben? Weiße Butter.«
»Aber der Käse, Crabbie, der Käse …«
»Aye, der Käse«, meinte er nachdenklich. Der gute Crabbie mochte Käse.
Den ganzen Nachmittag über gingen wir den Spuren nach. Es tat sich nichts.
Keine Norton. Kein Range Rover. Nichts Neues zu Locke.
Wir starrten gerade auf das Whiteboard im Einsatzraum, als der Chief Inspector hereinkam. All unsere blauen Pfeile wiesen auf Brendan O’Roarke in Dundalk.
»Sie haben endlich herausgefunden, wie unser Opfer heißt, habe ich gehört, Duffy«, sagte er.
»Haben wir.«
»Verdächtige?«
»In dieser Richtung verfolgen wir noch einige Hinweise.«
»Motiv?«
»Wir gehen davon aus, dass Locke ein Killer der IRA war und womöglich für Brendan O’Roarke von Dundalk aus gearbeitet hat.«
»Und der Killer wurde ermordet?«
»So unsere Arbeitshypothese.«
»Tatsächlich?«
»Alles scheint in diese Richtung zu weisen, Sir.«
»Was ist aus den jugendlichen Joyridern geworden?«
»Die haben wir schon lange ad acta gelegt, Sir. Dies hier scheint ein wenig interessanter zu sein.«
»Interessanter ist manchmal gefährlich.«
»Nun, es ist ein Fortschritt, Sir.«
»Gut. Sehr gut. Endlich Fortschritte. Ja«, sagte er mit einem merkwürdig unangenehmen, verschwörerischen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Sir?«
»Hm«, sagte er und zwinkerte uns tatsächlich zu. Man konnte sehen, dass er von uns erwartete, ihn zu fragen, was denn los sei, aber das war so offenkundig, dass Crabbie und ich keinerlei Problem damit hatten, uns telepathisch darüber zu verständigen, wie wichtig es war, ihn nichts zu fragen.
Die Stille hielt eine volle Minute an, dann platzte der Chief Inspector heraus: »Womöglich bin ich die Ursache für Ihren Fortschritt«, sagte er.
Ich sah ihn an und runzelte die Stirn.
»Wie denn das, Sir?«
»Ich habe Lawson in Spanien angerufen. Ich habe ihm gesagt, die Ermittlungen seien vor die Wand gefahren. Und er meinte, er wolle sehen, was er tun könne, um zu helfen. Und siehe da, schon haben wir den Namen des Opfers und seine ganze Geschichte. Hm?«
Ich war fassungslos und wütend. »Sir, unser Fortschritt hat nichts mit Lawson zu tun. Sergeant McCrabban hat gestern gute alte Fußarbeit geleistet und …«
Er hob die Hand und unterbrach mich. »Na, na, Duffy. Jetzt fahren Sie mal nicht gleich aus der Haut, nur weil Sie ein wenig Hilfe vom neuen Besen bekommen haben.«
»Sir, ich würde liebend gern zugeben, dass Lawson uns geholfen hat, wenn er dies tatsächlich getan hätte, hat er aber nicht. Wir haben den Wohnwagen ganz allein gefunden. Auf die gute alte Weise.«
Der Chief Inspector stand auf und wollte hinausgehen. Er schüttelte gnädig den Kopf. »Wir stehen doch alle auf derselben Seite, nicht wahr?«, sagte er und machte die Tür hinter sich zu.
Ich sah Crabbie an. »Glaubst du, er versucht absichtlich, mir auf die Nerven zu gehen?«
»Nein.«
»Ich rufe Lawson in Spanien an.«
»Tu das nicht, Sean. Er ist doch im Urlaub.«
»Ich rufe ihn an, verdammt.«
Ich rief die Nummer an, die er mir gegeben hatte. Am anderen Ende teilte man mir mit, man werde ihn am Pool ausrufen lassen. Eine Minute verging, dann war ein atemloser Lawson in der Leitung.
»Ach, Sir, Sie sind das? Soll ich nach Hause fliegen?«
»Nein. Ich habe eine Frage für Sie. Kreuzworträtsel. ›Slogan zur Gemüseverbrüderung. An sich ein Geschehen gemäß Novemberwetterbericht.‹ Zehn Buchstaben. Das geht mir schon seit dem letzten …«
»Eintrübung«, antwortete Lawson wie aus der Pistole geschossen.
»Was?«
»Na ja. Das Wetter im November trübt sich ein, und ein anderes, wenn auch komisches Wort für Gemüseverbrüderung wäre Eint-Rübung.«
Und der kleine Scheißer hatte gerade mal eine Sekunde dafür gebraucht.
»Sehr gut, Lawson. Na, dann lasse ich Sie mal wieder in den Pool springen.«
»Brauchen Sie sonst noch Hilfe?«
»Wir verfügen vielleicht nicht über Ihren Scharfsinn, aber Sergeant McCrabban und ich sind alte Hasen, und wir haben ein paar vielversprechende Fährten, ich schätze, die ganze Sache wird erledigt sein, bis Sie zurückkommen.«
»Sind Sie sicher?«
»Klar. Wann kommen Sie denn zurück, Sonntag?«
»Sonntagabend.«
»In Ordnung. Tja, bis dahin haben wir es wohl herausbekommen. Genießen Sie den Rest des Urlaubs.«
»Mach ich, danke, Sir.«
Ich legte auf.
»Das ist ja wohl ein wenig nach hinten losgegangen, nicht wahr, Sean?«, meinte Crabbie mit einem leichten Zwinkern in den Augen.
»Du bist in letzter Zeit ganz schön unloyal.«
»Na, komm schon, Sean. Wie der Chief Inspector schon sagte, wir stehen alle auf derselben Seite.«
Ich griff erneut nach dem Telefonhörer und rief Inspector O’Neill in Dundalk an.
»Aye, Duffy, ich habe Ihr Fax gekriegt. Sehr gute Polizeiarbeit, dass Sie herausbekommen haben, wer das Opfer ist.«
»Hören Sie, O’Neill, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
»Um was geht’s?«
»Ich möchte Brendan O’Roarke befragen.«
»Warum?«
»Einer seiner Männer ist umgelegt worden, und ich möchte herausfinden, warum.«
»Wir wissen nicht, ob Locke für O’Roarke gearbeitet hat.«
»Davon können wir ausgehen. Es war irgendein verdeckter Einsatz. Locke war ausgebildeter Scharfschütze. Ein Attentäter. Er hat in den Siebzigern versucht, den irischen Premier umzubringen. Er war Spezialist für verdeckte Einsätze, der getarnt in Nordirland lebte, in meinem Hinterhof, und ich möchte den Grund dafür wissen.«
»Was sagen denn Ihre Geheimdienstleute dazu?«
»Die wissen von gar nichts. Hören Sie, fragen Sie ihn, ob er mit mir reden will.«
»Er hat eine ganze Meute hochkarätiger Anwälte in Dublin, Dundalk und Drogheda, die auf ihn aufpassen, wohin er auch geht.«
»Trotzdem möchte ich gern einen Termin mit ihm ausmachen, wann immer es ihm passt.«
»Mal sehen, was ich tun kann, Sean.«
»Danke, Mann.«
Ich legte auf und schaute in Crabbies langgezogenes Gesicht, bis der kleine Zeiger der Uhr endlich in die Pötte kam und schließlich auf die fünf zeigte.
Ich räumte mein Zeug im Einsatzraum zusammen und stellte fest, dass einer der Picassos auf dem Boden lag; offenbar war das Bild von einer Putzfrau oder einem tollpatschigen Polizisten umgestoßen worden. Wenn ich die Bilder dort ließ, würde noch irgendein Tölpel ein Loch hineinhauen. Nicht anders in der feuchten Asservatenkammer. Ich beschloss, die beiden Bilder vorübergehend in die Coronation Road mitzunehmen.
Ich fuhr nach Hause. Auf Radio 3 wurde ich fündig. Arvo Pärt, Tabula Rasa. Nett.
Ich trug die Bilder ins Haus. Das konnte nur eine vorübergehende Lösung sein, bis sich Verwandtschaft meldete, aber eine nette vorübergehende Lösung. So wie ich das verstand, handelte es sich bei der Serie Repos du Sculpteur im Grunde um eine Reihe von Radierungen von einem nackten bärtigen Mann, der mit einer jungen Frau in seinem Atelier herumlag. Von den beiden Radierungen, die Mr Locke hatte, stellte die eine den nackten Bildhauer auf seinem Bett und die andere den nackten Bildhauer auf dem Sofa dar. Womöglich sollte es sich um einen idealisierten Picasso mit seiner Geliebten handeln. Ich hängte sie ins Wohnzimmer, und im Licht, das von draußen hereinfiel, sahen sie fantastisch aus.
Gegenüber bellte ein Hund.
Der Hund bellte nur, wenn es Ärger gab.
Ich schaute aus dem Fenster und sah den bescheuerten Skinhead von neulich Nacht, der eine brennende Tüte mit – so nahm ich an – Hundekot auf die Treppe zum Haus meiner neuen Nachbarin legte. Offensichtlich galt dieser brennende Scheißhaufen mir, aber der Skinhead war zu blöd und hatte sich das falsche Haus ausgesucht. Sein Kumpel wartete in einem grünen Reliant Robin auf ihn, wohl der mieseste Fluchtwagen, den sich je ein Mensch ausgedacht hatte.
Ich stapfte zur Tür hinaus und sprang über den Zaun.
»He, du! Mach das aus!«, brüllte ich den Kerl an, der, wie ich mich erinnerte, Pete Irgendwie hieß.
Pete war überrascht, mich von der Seite kommen zu sehen. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Früher mal, da waren die Nazis auch mal ganz gewieft. Gute Taktiker. Rommel zum Beispiel. Woher kommt es, dass alle verdammten Nazis, die man heute trifft, so verflucht blöd sind? Hast du dafür eine Erklärung?«
»Wovon redest du?«, fragte Pete und baute sich zu voller Größe auf.
»Das ist nicht mein Haus. Das ist das Nachbarhaus.«
»Das ist nicht Nummer 113?«
»Nein, das da ist Nummer 113. Und jetzt hebst du das Päckchen auf und nimmst es wieder mit.«
»Sonst passiert was …«, setzte er an, doch ich trat ihm in die Eier.
Er ging in die Knie, und ich schlug ihm mit beiden Fäusten auf die Schläfen. Dann stapfte ich durch den Garten zu dem Reliant Robin und kippte das dreirädrige Monstrum auf die Seite.
Ich kehrte zu Pete zurück.
»Nimm den Scheiß mit und verschwinde. Und komm nicht wieder her, es sei denn, du willst dich mit Bobby Cameron anlegen, der wohnt da drüben und ist ein Freund von mir.«
»Du kennst Bobby?«, sagte Pete unter Schmerzen.
»Aye, das tue ich. Und jetzt nimmst du den Scheiß, stellst dein kleines Schrottauto wieder richtig hin und verpisst dich.«
Pete stand langsam auf und ging hinüber, um die brennende Tüte mit der Hundekacke aufzuheben.
»Alles«, verlangte ich.
Er griff mit beiden Händen zu und ging zu seinem Fluchtauto.
Ich half ihm dabei, den Robin wieder aufzurichten, und schubste ihn hinein. »Hau ab und komm nicht wieder, du Blödmann.«
»Du bist schon ein komischer Kerl, aber ehrlich«, sagte Pete.
»Und du, mein Freund, bist eine kleine Erbse. Eine kleine Erbse in einem grünen Durcheinander, die keine Ahnung vom größeren Zusammenhang hat. Ab heute gibt es keine Milch mehr an der Haustür. Die Zukunft zieht uns mit ihrer Bugwelle hinter sich her, Junge, wir müssen nicht unbedingt mitziehen, aber wir wollen auch nicht mit dir und deinem Wahnsinn zurück in die Vergangenheit, also wäre es wohl besser, wir ziehen mit, hm?«
»Du bist ja verrückt, Mann«, sagte Pete, als die beiden losfuhren.
Er muss wohl ziemlich durcheinander gewesen sein, denn er vergaß den üblichen Stinkefinger und brüllte nicht »Scheiß auf die RUC!«.
»Die Jugend von heute, hm?«, fragte ich den nun erheblich ruhigeren Hund, der mitten auf der Straße stand.
Ich ging wieder ins Haus.
Pasta. Ein Bootleg-Album von Lou Reed aus der Berliner Zeit.
Es klopfte an der Tür.
Rachel Melville.
»Hallo«, sagte sie.
»Hi.«
»Was war das denn gerade?«, fragte sie leicht verdattert.
»Ach, Sie haben das mitbekommen?«
»Wie denn auch nicht, es war ja vor meiner Haustür.«
»Es war nichts. Ich habe nur einem Außenstehenden die Geografie und das Machtgefüge der Coronation Road erläutert.«
»Hat er versucht, eine Tüte mit Hundekacke auf meiner Tür abzulegen?«
»Ich muss mich dafür entschuldigen. Er hat sie mit meiner Tür verwechselt. Er wird nicht wieder herkommen, zumindest nicht an Ihre Tür.«
»Passiert so etwas hier in der Gegend öfter?«
Das und noch ganz andere Dinge, Schwester. »Nein, eigentlich nicht; ist eine ruhige kleine Straße. Es wird Ihnen hier gefallen.«
»Aber Sie ziehen aus?«, fragte sie und wies auf das Verkaufsschild.
»Ja, es geht nicht anders. Das Haus ist zu groß, ich brauche nur eine kleine Wohnung am Wasser; ich bin so selten hier.«
»Sie haben mich davor bewahrt, in die Hundekacke zu treten.«
»Das können Sie so sehen, andererseits könnten Sie auch sagen, dass ich der Grund dafür bin, dass dieser Skinhead in Ihre Gegend gekommen ist.«
»Was haben Sie ihm denn getan?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ähm, hören Sie, ich hab mich gefragt, ob Sie zum Essen rüberkommen wollen, wenn Sie nichts anderes vorhaben.«
Ich weiß, was ein jüngerer Sean Duffy gesagt hätte, aber der ältere Duffy war das kleine Stückchen weiser.
»Ich hab mir gerade was gekocht«, erwiderte ich.
Sie nickte lächelnd. Ein wirklich bezauberndes Lächeln, das bis in die Lenden zog. »Ein andermal vielleicht.«
»Ja«, sagte ich, »ein andermal.«
Sie winkte und ging wieder nach nebenan.
Spiegel-Duffy: »Du hast ihr immer noch nichts von Frau und Kind in Schottland gesagt, oder, Sean?«
Nein. Hatte ich nicht, verdammt.
Ich aß die Pasta, hörte Lou Reed und bewunderte die Picassos an der Wohnzimmerwand. Sie passten gut ins Zimmer. Ich legte Miles Davis auf und stand auf einem Bein. Schätze, ich war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der sich auf einem Bein stehend Miles Davis anhörte und einen echten Picasso betrachtete.
Mit einem, wie ich gestehen muss, mächtigen Ständer.
Schluss mit der Musik. Schluss mit dem Yoga. Geh nach nebenan und vögle sie um den Verstand.
Nein. »Nein, nein, nein.«
Aber vielleicht doch.
Nein.
Das Telefon klingelte.
»Sean, Emma vermisst dich, und ich hab mich gefragt, ob du …«
»Ich komme sofort.«
Ich ging hinaus zum Wagen und schaute darunter nach Sprengsätzen. Keine Sprengsätze. Ich schoss die Coronation Road entlang.
Ich war so schnell, dass ich den Fremden, der unter dem Dachvorsprung von Mr Benns Taubenschlag stand und sich eine Zigarette anzündete, kaum registrierte. Ich bemerkte ihn, verarbeitete den Eindruck aber nicht sofort, weil ich in dem Augenblick an etwas anderes dachte.
Ich hätte ihn beinah ganz übersehen, denn er war wirklich sehr gut.
Einer der Besten. Und ich fuhr ziemlich schnell. Aber ich nahm ihn wahr und erinnerte mich später an ihn. Nicht seine Schuld. Er war ein Profi, was Überwachung anging, und stand gute hundert Meter von meinem Haus entfernt bei Einbruch der Nacht im Schatten; er konnte nicht wissen, dass ich jede einzelne Person kannte, die in dieser Straße wohnte. Ich kannte Geografie, Geschichte und Soziologie der Coronation Road auswendig. Dieser Straßenabschnitt (und möglicherweise noch Ella Fitzgeralds Liedgut) wäre mein Spezialgebiet bei Mastermind. Ich hatte eine Tiefenkarte der Gegend erstellt, und ich bemerkte sofort, wenn etwas nicht stimmte.
Ich verarbeitete den Eindruck von diesem Mann noch nicht in jener Nacht.
Das kam erst später.
Coronation Road, Victoria Road, Shore Road, Motorway, Belfast, Ferry Terminal, Ferry, Stranraer, Portpatrick, heimwärts.
Die Bremsen quietschten, und schon war ich zur Hintertür herein.
»Emma schläft schon«, sagte Beth.
»Wie geht’s dir?«
»Was ist das denn für ein Blick in deinen Augen?«
»Was für ein Blick?«
»Ich weiß nicht. Leicht irre?«
»Mir geht’s gut.«
»Notgeil.«
»Notgeil?«
»Ja, notgeil. Du meine Güte, ist das eine Pistole in deiner Tasche oder bist du …«
»Beides.«