Ich fuhr mit mehr Fragen als Antworten zurück in die Coronation Road. Konnte die IRA oder irgendeine andere terroristische Gruppe tatsächlich CIA-Ausrüstung gestohlen haben? Unterstützte die amerikanische Regierung heimlich die IRA? Das schien äußerst unwahrscheinlich, Präsident Bush und die britische Regierung waren eng befreundet, aber vielleicht handelte es sich um eine abtrünnige Einheit oder Einzelperson innerhalb der CIA?
Und würde sich Brendan O’Roarkes persönlicher Killer tatsächlich in Carrickfergus verstecken? Und wer hätte den Mumm, Brendan O’Roarkes persönlichen Killer umzubringen, mal abgesehen von einem unwissenden und dummen jugendlichen Joyrider?
Vor dreißig Jahren hatten die Jesuiten mir das Konzept von Ockhams Rasiermesser erklärt. »Erklären« war in diesem Fall ein Synonym dafür, mir mit einem Lederriemen das Konzept einzubläuen. Sind alle Punkte gleichwertig, so ist die einfachste Lösung vermutlich die richtige.
Locke wurde von ein paar zugedröhnten Kindern umgebracht, die nach einem Auto suchten. Stimmt schon, er war kein Maler, sondern ein IRA-Attentäter in Diensten von Brendan O’Roarke, aber selbst IRA-Attentäter hatten auch mal Pech.
Aber das Motorrad …
Und die Wanze …
Im Radio lief Classic FM (späte Schubert-Lieder, gespielt vom London Symphony Orchestra – ausgezeichnet), ich trank Bass und dachte alles viel zu lange durch, bis ich erschöpft zu Bett ging.
Am frühen Morgen stieß ich im Revier auf Crabbie.
Ich ging mit ihm in Lawsons Büro, schloss die Tür und weihte ihn in alles ein.
»Bist du sicher, dass du abgehört wirst?«
»Ja, bin ich. Jill auch.«
»Könnte das der UVF-Kommandant sein, der bei dir in der Straße wohnt? Er könnte doch bei dir eingebrochen sein, um die Wanze in deinem Telefon zu verstecken.«
»Schon möglich, aber Jill meint, das Ding ist nagelneu. Ziemlich unwahrscheinlich, dass er so etwas in die Finger bekommt.«
Wir grübelten bei einem Glas Islay darüber nach, doch fiel uns nichts Erhellendes ein.
»Bis ich das offiziell bei Special Branch melde, gibst du mir übers Telefon keinerlei Informationen zu dem Fall, okay?«, sagte ich.
»Okay. Gute Idee.«
»Und noch was. Ich hab mir etwas ausgedacht, wie wir vielleicht unsere Lauscher in die Falle locken«, deutete ich an.
»Wie denn?«
»Nur mal laut gedacht. Du rufst mich an und sagst, es würde in dem Fall einen entscheidenden Durchbruch geben, wir müssten da und da hinfahren – an einen entlegenen Ort, den wir uns vorher ausgesucht haben. Toll, sage ich, wir fahren dorthin und warten darauf, dass eine Norton 750 auftaucht?«
Crabbie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, meinte er.
»Ja, du hast recht, das ist Mist. Aber lass uns das im Hinterkopf behalten, hm? Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie wir das zu unserem Vorteil ausnutzen können. Wir sind gewitzt, und wir sind alte Hasen.«
Wieder schaute mich McCrabban zweifelnd an, was nicht gerade Vertrauen auslöste.
Der Stundenzeiger schlich ums Zifferblatt, bis er auf die große Zwölf zeigte. Shepherd’s Pie im Ownies, begleitet von einem Pint von dem schwarzen Zeug für jeden.
Als es gegen sechzehn Uhr noch immer nichts Neues gab, wollte ich nach Hause fahren. »Na, schätze, ich mache Feierabend«, sagte ich. »Kommst du mit?«
»Ich kann nicht, ich hab mal wieder Dienst – wir haben heute Nacht Praktikanten hier.«
»Was für Praktikanten?«
»Die sollten erst nach Lawsons Rückkehr kommen, aber nun sind sie schon früher da.«
»So ein Mist. Genau das, was wir brauchen. Und wir müssen uns um sie kümmern?«
»Sagt der Chief Inspector.«
Ich schüttelte den Kopf. »Scheiß drauf. Das ist nicht unser Job. Wir sind die Unsichtbaren. Die Teilzeitler. Die alten Knacker in der Ecke, die jeden Monat nur ein paar Tage lang auftauchen, um ihre Pensionen zu sichern. Banquo und Banquos noch bankrotterer, geisterhafter Freund.«
»Der Chief Inspector hat ein Schwätzchen mit mir gehalten und gesagt, ich müsse mich um sie kümmern, bis Lawson wieder da ist.«
»Aye, zu dir traut er sich. Er weiß genau, was ich ihm sagen würde, wohin er sie sich stecken kann.«
»Irgendwelche Ideen, was wir mit ihnen anstellen?«
»Sind die jetzt hier auf dem Revier?«, fragte ich erschüttert.
»Aye. Da drüben sind sie«, antwortete er und wies durch das Fenster hinaus auf eine braunhaarige Frau mit Brille, grüner Jeans und knallrotem Pullover. Bei ihr standen zwei picklige Burschen in schlechtsitzenden Anzügen und spitzen Schuhen. Die beiden Männer hatten sich die Haare blond gefärbt und mit Haargel hochgeigelt. Einer von ihnen trug ein Unterlippenbärtchen.
Crabbie erkannte meine sofortige und tiefsitzende Abscheu ihnen gegenüber.
»Geh heim, Sean«, sagte er schnell. »Ich lass mir was einfallen, was ich mit ihnen anstellen kann.«
Ich zog meine Jacke an und ging zum Auto. Unterwegs kam mir eine Idee, und ich kehrte in den Einsatzraum zurück, wo Crabbie das Junggemüse zusammengerufen hatte, um ihnen einen Vortrag zu halten.
»Sean, was …«
»Wie wär’s, wenn du unsere Praktikanten mal an den Tatort führst. Ich bin nicht überzeugt, dass wir tatsächlich alles gefunden haben, was man in Lockes Haus oder in seinem verfluchten geheimen Wohnwagen finden kann.«
»Praktische Arbeit! Tolle Idee, Sean«, sagte Crabbie mit vermutlich gespieltem Enthusiasmus.
»Nur weil die KT sagt, sie könnten nichts finden, heißt das ja noch nicht, dass wir aufhören müssen zu suchen, oder?«
»Nein«, pflichtete mir Crabbie bei.
»Sind Sie Sean Duffy?«, fragte der Bursche mit dem Unterlippenbärtchen.
Mir blähten sich die Nasenflügel vor Verärgerung auf. »Ja, ich bin Detective Inspector Sean Duffy. Und Sie sind?«
»William Mitchell.«
Die anderen beiden fühlten sich ebenfalls genötigt, mir ihre Namen zu sagen: Judy Irgendwas und Patrick Soundso.
»Wir haben in unserem Kurs einen Ihrer Fälle durchgenommen«, sagte Mitchell.
»Ach ja, welchen Fall denn?«, fragte ich.
»Der Mord in Carrickfergus Castle«, antwortete Mitchell.
»Und was haben Sie daraus gelernt?«, fragte Crabbie mit einem furchteinflößenden ›Das sollte jetzt besser nicht ungemütlich werden‹-Grinsen auf den Lippen.
»Dass Carrickfergus CID einen der Verdächtigen umgebracht hat und den anderen hat flüchten lassen«, antwortete Mitchell mit einem frechen Grinsen.
»So etwas bringen die Ihnen auf der Akademie bei?«, fragte ich wutschnaubend. So sahen sie mich also? Das war das Ergebnis meiner Detektivarbeit bei der RUC? Dass ich einen Fall vermurkst und dafür gesorgt hatte, dass ein Verdächtiger entwischte?
»Das war das Rätsel der verschlossenen Tür, Mann! Schwer zu knacken! Das hat viel Fußarbeit, Intelligenz und Kombinatorik …«
»Sean, bitte, vielleicht gehst du besser nach Hause«, sagte Crabbie und schob mich zur Tür hinaus, bevor ich noch einen Schlaganfall bekam.
BMW.
Regen.
Marine Highway.
Daheim.
Ich legte Neil Young auf. Den Song mit den Raumschiffen und den Aliens.
Ein Pint Wodka Gimlet à la Duffy: Pintglas aus dem Gefrierfach, Crushed Ice, siebeneinhalb Zentimeter Wodka, Eis, Soda und Limettensaft.
Ich dachte gerade daran, mir etwas zu essen zu machen, und fragte mich, woher Neil Young nur diese hohe Stimme hatte, als es an meiner Haustür klopfte.
Rachel, die neue Nachbarin.
»Hallo. Was haben Sie mir diesmal Neues aus der Hölle mitgebracht? Ich bin immer noch ganz fertig von der Geschichte mit dem Milchmann.«
»Na ja, es sind nicht gerade die letzten Kapitel aus Gibbons Verfall und Untergang des römischen Imperiums, aber meine Spüle läuft über.«
»Ihre Spüle läuft über?«
»Ja.«
»Und Sie sind zu mir gekommen, weil ich ein Mann bin und Sie daher annehmen, dass ich mich mit verstopften Spülbecken und solchen Dingen auskenne?«
»Exakt.«
Ihre hübschen grauen Augen blitzten auf, und sie grinste. Sie sah ein wenig so aus wie Andrea Corr von dieser neuen Folkband The Corrs – ein erheblich netterer Import aus Dundalk.
»Na, da kann ich die Erwartung ja schlecht enttäuschen, richtig? Lassen Sie mich mal sehen.«
Wir gingen nach nebenan.
Die Küche stand unter Wasser.
Der Siphon war verstopft, ganz einfach. Abschrauben der Dichtungsringe, Abziehen des Siphons, Schmier und Schleim daraus entfernen, Einsetzen des Siphons, Festziehen der Dichtungsringe, Wasser laufen lassen, und schon floss wieder alles ab.
»Das war beeindruckend«, sagte sie. »Das Mindeste, was ich tun kann, ist, Sie zum Essen einzuladen. Es sei denn, Sie haben andere Pläne?«
»Heute Abend nicht. Essen wäre prima.«
Spaghetti Bolognese. Das Übliche. Ein ordentlicher Roter aus dem Schnapsladen.
Das Esszimmer war mit Blümchenmuster tapeziert, und sie hatte ein paar Impressionisten-Plakate aufgehängt. Ansonsten hatte sie nicht viel am Haus getan. Nicht, dass nicht jede Menge zu tun gewesen wäre – alle Reihenhäuser in der Straße waren identisch.
»Sehr lecker«, sagte ich. »Haben Sie das Knoblauchbrot selbst gemacht?«
»Ja. Knoblauchbrot geht erschreckend einfach. Mich beeindruckt vor allem der Wein. Den habe ich in Carrickfergus gekauft! Der ist aus dem Medoc. Man kann inzwischen ganz ordentliche Weine kaufen.«
»Ach ja? Ich bin eher nicht so der Weintrinker, um ehrlich zu sein.«
»Sie sind schon ein besonderer Fall, oder? Sie reparieren Spülbecken und verscheuchen furchteinflößende Raufbolde aus meinem Garten.«
»Das hat Sie beeindruckt, hm?«, meinte ich selbstironisch. Aber sie schien tatsächlich beeindruckt davon gewesen zu sein, wie ich diese beiden billigen Skinheadrowdys weggejagt hatte.
»Und Sie sind Musikexperte?«, fragte sie.
»Das würde ich nicht behaupten. Ich bin kein sonderlicher Experte von irgendwas. Aber ich mag gute Musik.«
»Mrs Campbell meint, Sie hätten die größte Plattensammlung in Carrickfergus.«
»Sie übertreibt. Und das Meiste ist eh drüben in Schottland«, erwiderte ich, insgeheim erfreut.
»Sie sagt, man könne Ihnen jede Schallplatte der Welt vorspielen, und Sie wüssten, was es ist.«
»Das ist eine blanke Übertreibung.«
»Also los, was läuft gerade im Radio im Wohnzimmer?«
Ich legte die Gabel beiseite und horchte. Aus den schwächlichen Lautsprechern ihrer uralten Stereoanlage kam Radio 3.
Schostakowitsch.
Unverkennbar. Aber welche Symphonie?
Die Nachbarin schaute mich mit einem netten Lächeln an. Sie war schon etwas Besonderes. Graue Augen, lange Haare, kurvig und feminin. Ganz das Gegenteil von Beth, die kurze Haare hatte, dünn, hübsch und jungenhaft wirkte.
Ich trank einen Schluck Wein und schenkte uns nach.
Die Symphonie schwoll an und marschierte auf jene unnachahmliche Weise voran, wie das nur Schostakowitsch schafft, ohne bombastisch zu werden.
»Also, wissen Sie, wer das komponiert hat? Sie könnten mir eh irgendwas erzählen, ohne dass ich merken würde, ob Sie mich reinlegen oder nicht.«
Ich hörte mir noch ein paar Takte an. Aber ja, das war die Symphonie Nr. 10. Die hatte Schostakowitsch nach Stalins Tod geschrieben, zumindest hatte er das behauptet, auch wenn er einer Schülerin zufolge, die seine Geliebte geworden war, einen Großteil davon bereits 1951 geschrieben hatte.
Enttäuschung huschte über ihr Gesicht; sie nahm wohl an, dass ich es tatsächlich nicht wusste. Der Wunsch, vor attraktiven jungen Frauen anzugeben, war wohl eine Schwäche von uns Männern.
Tu das nicht, Duffy. Das ist nur ein nettes Essen mit deiner Nachbarin von nebenan. Iss und geh, Kumpel. Gib dich keiner blöden Schwäche hin. Sei klug …
Sie schaute mürrisch auf ihren Teller. Ich hielt es nicht länger aus.
»Dmitri Schostakowitsch, Symphonie Nr. 10, dritter Satz mit einer Art Hommage an Mahler. Das dürften die Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan sein.«
Sie blickte auf und grinste. »Meinen Sie das wirklich, oder wollen Sie mich veräppeln?«
Der dritte Satz ging zu Ende; mitten in die vorgesehene Pause zwischen den Sätzen platzte der Sprecher von Radio 3 dazwischen, um die Zuhörer daran zu erinnern, welchen Sender und welches Stück sie gerade hörten: »Es ist kurz nach halb sieben, hier ist BBC Radio 3 und Sie hören Schostakowitschs Symphonie Nr. 10 in einer Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan aus dem Jahr 1981.«
Sie legte ihre Gabel beiseite und grinste. »Jetzt bin ich aber platt!«, sagte sie.
Das war ein gefährlicher Augenblick. Sie war sehr hübsch, und wir hatten die Flasche Wein fast ausgetrunken.
»Ich weiß, Sie sind mutig, ich weiß, Sie sind geschickt, und jetzt weiß ich auch noch, Sie sind klug!«, sagte sie erfreut.
»Um Schostakowitsch zu erkennen, muss man nicht klug sein. Nur ein Nerd.«
Sie streckte die Hand aus und legte sie auf meine.
Ich zog meine Hand nicht weg.
Schwach, Duffy, sehr schwach.
»Wissen Sie, ich muss Ihnen etwas verraten. Keine Ahnung, warum ich das nicht schon neulich erwähnt habe, aber ich bin verheiratet. Na ja, nicht richtig verheiratet, Beth wollte nicht heiraten, aber so gut wie; und ich habe eine Tochter, Emma. Sie ist fast fünf.«
Rachel nickte und drückte leicht meine Hand. »Ich weiß«, sagte sie. »Mrs Campbell hat mir in aller Ausführlichkeit alles über Sie erzählt.«
Es wäre einfacher, viel einfacher, wenn Beth eine ihrer Launen gehabt oder wenn ich sie eine Woche oder länger nicht gesehen hätte. Aber nichts davon war der Fall. Ich hatte Beth vor zwei Tagen gesehen, wir hatten miteinander geschlafen, ich liebte sie; ich hatte also keinerlei Ausrede. Nichts von all dem, was Männer so als Ausreden für ihre Fehler anbringen.
Ich ging um den Tisch, und sie stand auf. Ich küsste sie auf den Mund und drückte sie an die Wand.
»Moment«, sagte sie und räumte schnell Teller und Weinflasche vom Küchentisch. Dann hob sie den Rock und drückte sich an mich. Ich war hart wie ein Stein.
Sie wollte, dass ich sie auf dem Küchentisch nahm.
Himmel, ich müsste doch schön blöd sein, eine solche Gelegenheit auszulassen.
Ich machte meinen Reißverschluss auf und küsste sie erneut. Dann küsste ich ihre großen, vollen, wunderschönen Brüste und ihren weichen Bauch. Sie war umwerfend.
Sie zog ihren Schlüpfer herunter.
Sie war atemberaubend.
Ich küsste sie und drang in sie ein.
»O ja«, sagte sie.
Über den Schostakowitsch hinweg hörte ich eine Türklingel.
»Komm schon«, sagte sie.
Ich hielt inne und lauschte.
Wieder klingelte es.
Ich löste mich von ihr, glitt vom Tisch und zog den Reißverschluss zu. »Da ist jemand an meiner Tür«, sagte ich.
»Vergiss es. Verflucht noch mal!«
Ich zückte die Glock, ging den Flur entlang und öffnete ihre Haustür. Dann sah ich zum Haus Nummer 113 hinüber.
Crabbie stand dort mit einem aus der neuen Scooby Gang. Er sah mich. Ich senkte die Waffe.
»Sean? Ich habe versucht, dich anzurufen. Ich konnte dich nicht erreichen.«
»Ich habe hier zu Abend gegessen. Was gibt’s?«
»Wir haben auf dem Campingplatz etwas gefunden. Das solltest du dir anschauen.«
Rachel tauchte hinter mir auf.
Ich konnte den blanken Zorn spüren, den sie ausstrahlte.
Ich drehte mich zu ihr um. »Ich muss gehen, ich …«
»Nur zu«, sagte sie.
Ich stieg über den Zaun zwischen den beiden Häusern, und sie warf die Tür hinter mir zu.
»Fahren wir mit meinem Wagen?«, schlug ich vor.
»Ich hab einen Dienst-Land-Rover dabei. Und du solltest dir vielleicht ein paar Schuhe anziehen«, sagte er kühl.
Ich schnappte mir ein paar Sneaker und ging mit Crabbie zum Land Rover, der Anlernling setzte sich nach hinten. Crabbie sagte nichts. Er mochte Beth. Sie war Presbyterianerin, Lehrerin, hatte mir eine schöne, altkluge Tochter geschenkt. Sie hatte für Crabbies Frau und ihn gekocht. Sie hatte ihn in ihr Haus eingeladen, und wir hatten gemeinsam das Brot gebrochen. Und selbst wenn nichts davon gestimmt hätte, hätte das keinen Unterschied gemacht. Er mochte Beth. Und Helen und Beth waren ebenfalls Freundinnen geworden.
Ich war so ein Blödmann.
Ich bemerkte seinen Seitenblick, doch er schaute sofort wieder weg.
So stinkig auf mich hatte ich ihn noch nie gesehen.
»Darf ich das Radio anmachen?«, fragte ich kleinlaut.
»Tu dir keinen Zwang an.«
Ich fand Radio 3, auf dem gerade die letzten paar Takte Schostakowitsch liefen, vollendete Musik, die mich aber nicht im mindesten aufmunterte. Sie machte alles nur noch schlimmer. Ich schaltete aus.
Schweigen bis zum Campingplatz, und dann fing es auch noch an zu regnen.
Die anderen beiden Praktikanten warteten auf uns; diese blöden Idioten standen draußen im Regen. Die Frau mit der Brille sah aus, als hätte man sie aus dem Fluss gezogen.
Ich stieg aus und nahm einen Zug aus meinem Asthmainhalator.
Augenblicklich floss mir der Regen in den Kragen meiner Lederjacke.
»Abend allerseits«, sagte ich zu den Praktikanten.
»Hier entlang, Detective Inspector Duffy«, sagte Crabbie, und ich folgte ihm über den schlammigen Campingplatz zu Lockes Wohnwagen.
»Sie haben etwas gefunden, das die KT übersehen hat?«, fragte ich erstaunt.
»Jamie hat es gefunden«, antwortete Crabbie.
»Im Toaster. Er hat es im Toaster versteckt«, sagte der Bursche mit dem Bärtchen.
Was versteckt?, fragte ich mich, doch als ich in den Wohnwagen stieg, zeigte Crabbie es mir, fein säuberlich in einen Aservatenbeutel verpackt.
Es handelte sich um ein Blatt, A4, auf dem ein Dutzend Namen und Adressen standen.
Ich kannte einige der Namen; es handelte sich um hochrangige republikanische Politiker und Aktivisten. Die meisten davon frühere oder jetzige IRA. Ein paar davon äußerst bekannte Personen, wie ****** ********** und ***** *****.
»Was ist das denn?«, fragte ein Junggemüse.
»Das ist eine Todesliste«, antwortete ich.
Crabbie nickte. »Sieht ganz so aus.«
»Schick die Kleinen raus, sie sollen im Land Rover warten«, sagte ich zu Crabbie.
Crabbie schickte sie hinaus und trat wieder zurück in den Wohnwagen, wo ich mich an den Resopaltisch gesetzt hatte.
»Das werden wir an Special Branch weitergeben«, sagte ich. »Die werden alle auf der Liste warnen müssen, dass ein Killer der IRA möglicherweise ihre Namen und Adressen hat.«
»Das sehe ich auch so.«
»Du kennst ja Special Branch. Sie werden womöglich die ganze Ermittlung an sich ziehen.«
»Dann ist das so.«
»Ich meine, die übernehmen alles, und wir sind wieder in der Teilzeitreserve.«
»Ich weiß, was du meinst, Sean. Ich bin ja nicht blöd.«
»Das habe ich nie behauptet.«
»Nein, aber viele Male gedacht.«
Ich sah ihn an. »Das ist hart, was du da sagst.«
»Nenn mich einen Lügner.«
»Du bist ein Lügner.«
Er schaute mich fünfzehn Sekunden lang unverwandt an und hob dann den Beweisbeutel in die Höhe. »Wir müssen Special Branch sofort davon informieren. Soll ich dich nach Hause fahren?«
»Ich hatte nicht vor zu laufen.«
»Dann fahre ich dich nach Hause.«
»Und du meldest das bei Special Branch?«
»Natürlich. Es wäre sonst ein Pflichtversäumnis. Diese Personen müssen darüber informiert werden, dass sie möglicherweise Ziel eines Angriffs sind.«
Crabbie fuhr mich zurück zur Coronation Road.
Den ganzen Weg über zeigte er mir die kalte Schulter.
»Danke, Mann, hoffentlich kriegen unsere Vorgesetzten das geregelt, hm?«
Crabbie erwiderte nichts.
Ich wollte schon die Wagentür zuwerfen, da schüttelte er ganz leicht den Kopf.
»Einen Moment noch, Sean«, sagte er.
»Ja?«
»Du hattest großes Glück, dass du Beth kennengelernt hast.«
»Ich weiß.«
»Sie ist eine gute Frau. Hübsch. Gutmütig. Und eine gute Mutter.«
»Ich weiß.«
»Und Lehrerin noch dazu.«
»Ja.«
»Hat euer kleines Kind gerettet, als sie euch damals umbringen wollten. Hat sie in die Arme genommen und war so tapfer wie die Besten.«
»Ich weiß. Worauf willst du hinaus?«
»Ein größeres Glück hättest du eigentlich nicht haben können, Sean.«
Er hatte mich zermürbt; ich schaute zu Boden und starrte die Ölflecken und Kippen im Rinnstein an.
»Es ist nichts passiert, Crabbie. Eigentlich nicht. Es hätte passieren können … aber …«
»Sorg dafür, dass es auch so bleibt«, sagte Crabbie, beugte sich vor und warf die Autotür derart laut zu, dass die Hälfte der Köter in der Coronation Road aufschreckte.
Ich ging zur Haustür.
Als Crabbie verschwunden war, stieg ich über den Zaun und klopfte an die Tür.
Rachel kam im Nachthemd die Treppe hinunter.
»Tut mir leid wegen vorhin.«
»Mir auch.«
»Aber wenn die Pflicht ruft und alles, du verstehst?«
»Ich verstehe.« Sie sah mich fest an. »Und willst du …«
»Nein, ich sollte …«
»Gute Nacht«, sagte sie und warf mir die Tür vor der Nase zu.
Ich ging rüber zu mir.
Ich rief zu Hause an, aber Emma hatte offensichtlich Einschlafprobleme und Beth hatte das Telefon ausgestöpselt. Mist.
Ich rief meine Eltern in Donegal an, aber Dad war schon im Bett, und Ma schaute sich »in der Open University eine faszinierende Sendung über die Chartisten an«.
Wen konnte ich sonst noch anrufen?
Crabbie kam nicht in Frage und Lawson war in Spanien.
Wen sonst?
Niemanden.
Das kam dabei heraus, wenn der Freundeskreis immer kleiner wurde.
Ich blätterte durch meine Schallplatten, aber mir war nicht nach Musik.
Ich setzte mich in den Sessel vor dem Kamin und goss mir einen ordentlichen Schluck 16 Jahre alten Bowmore ein.
Über mich Blödmann nachzudenken, hatte ja keinen Sinn.
Diesen tiefen, tiefen Brunnen der Blödheit zu erkunden, war ein andermal noch genug Gelegenheit.
Warum wollte ein geheimer Killer der IRA eine Todesliste haben, auf der sich ausschließlich Namen und Adressen anderer IRA-Leute befanden? Was zum Teufel war innerhalb der IRA los? Hatte das irgendetwas mit O’Roarkes Bemühungen zu tun, innerhalb des Armeerats eine härtere Linie zu fahren?
Hatte er tatsächlich eine Nacht der langen Messer geplant?
Würde Special Branch irgendetwas davon mitbekommen?
Angeblich saßen bei Special Branch ja die Klügsten und Besten der RUC. Tatsächlich aber gab es dort genauso viele Sesselpuper und Nieten wie in der restlichen Polizei.
Ich war bei meinem dritten Glas Bowmore, als das Telefon klingelte.
»Hallo?«
»Duffy, sind Sie das?«, fragte der Chief Inspector.
»Ja.«
»Alles in Ordnung, Sean?«
Ich hatte offensichtlich genuschelt. War ich betrunken? Ich schaute mir die Flasche an. Himmel, sie war nur noch zu zwei Dritteln voll.
»Eine leichte Erkältung, Sir. Das ist alles.«
»Geben Sie auf sich acht. Erkältungen im Sommer sind das Schlimmste.«
»Ja, Sir. Mach ich.«
»Ich habe einen Anruf von Superintendent Clare von Special Branch erhalten. Er meinte, Jill Dumont habe ihm befohlen, in diesem Fall eine beratende Rolle zu übernehmen. Chief Superintendent Jill Dumont, falls Sie nicht wissen, wer sie ist.«
Ich dachte kurz daran, einfach aufzulegen. Chief Inspector McArthur wusste nichts von der Wanze und konnte meinem Lauscher etwas über den Fall ausplaudern. McArthur war ein Plappermaul, aber selbst halbbetrunken wusste ich mit dem Mistkerl umzugehen. Ich würde ihn ablenken, das war besser, als einfach aufzulegen.
»Ja, Sir, ich habe Special Branch kontaktiert. Das Ganze ist womöglich eine Aufgabe für sie. Ach, haben die Ihnen übrigens von den Vorschriften erzählt?«
»Was für Vorschriften?«
»Na ja, wegen der heiklen Art des Dokuments, das wir gefunden haben, haben sie bei den Ermittlungen strikte Geheimhaltung angeordnet. Wir, ähm, wir dürften noch nicht mal darüber reden.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Sir, tut mir leid, Sir. Sie wissen ja, wie die sind.«
»O ja! Völlig von sich selbst eingenommen! Mistkerle. Und worüber dürfen wir reden?«
»Nur über den Mordfall, Sir.«
»Und gibt es irgendwelche Fortschritte dabei?«
Vielleicht war es der Alkohol. Aber vielleicht war es … nein, es war der Alkohol …
»Ich treffe mich heute Nacht mit einem Informanten, der behauptet, er könne unseren Täter identifizieren.«
»Ein Informant! Ausgezeichnet. Gut gemacht, Duffy.«
»Vielleicht stellt es sich als Niete heraus, aber man kann ja nie wissen.«
»Nein, kann man nicht. Wo treffen Sie denn Ihren Informanten, wenn ich fragen darf?«
»Am Kriegerdenkmal Knockagh oben auf Knockagh Mountain. Um eins. Schätze, um die Zeit ist sonst niemand mehr da oben.«
»Nicht in einer solchen Nacht«, pflichtete mir McArthur bei.
»Wie ich schon sagte, Sir, vielleicht kommt nichts dabei heraus, aber man kann nie wissen.«
»Also gut, Duffy, viel Glück. Bringen Sie mich morgen auf den neuesten Stand, okay?«
»Mach ich. Gute Nacht, Sir.«
Ich legte auf. Die Uhr im Flur zeigte Viertel nach zwölf. Ich schnappte meine Glock, ein Fernglas und einen Regenmantel.
Ich eilte zum BMW hinaus und schaute unter dem Wagen nach Sprengsätzen. Nichts.
Ich stieg ein, schaltete das Radio ein, suchte die John Peel Show und hörte mir einen ziemlich durchwachsenen Auftritt von The Fall an.
Ich bretterte über die neue Straße zur North Road, dann die North Road hinauf zur Marshallstown Road und dann mit satten hundertfünfzig zur Knockagh Road.
Ich sah Duffy im Rückspiegel in die Augen.
War das klug, was ich hier machte?
Spiegel-Duffy fand das in Ordnung. Spiegel-Duffy hatte eine drittel Flasche Whisky intus und war ansonsten eine wirre Mischung an Emotionen: Schuld, Wut, Reue und Erniedrigung. Spiegel-Duffy wollte, dass etwas unternommen wurde, und das hier war ein gewagtes Unternehmen.
Deshalb hast du niemandem von der Wanze erzählt. Weil du einen solchen Schritt in der Hinterhand halten wolltest. Das wolltest du auf jeden Fall machen, um die ganze Angelegenheit wieder offen zu gestalten, Mann. Ja!
Da sprach nicht nur der Alkohol aus mir.
Nein. Überhaupt nicht. Das war ein kluger Schachzug. Völlig zwecklos, Verstärkung anzufordern. Die würden doch nur alles vermasseln. Die Trottel vom Revier? Vergiss es. Die Schafsköpfe von der Schnellen Eingreiftruppe und von Special Branch? Amateure. Der Einzige, dem Spiegel-Duffy vertraute, war Crabbie, und den wollte niemand hier reinziehen.
Duffy solo. Wie in alten Zeiten.