Fünf Minuten massiver Granatenbeschuss, dann Stille. Stockfinster, abgesehen von den
Sternen und der Mondsichel und einem trüben Schein im Norden, der von der Gemeinde
Warrenpoint stammen mochte.
Der Hagel war in Regen und dann in das übliche Geniesel in dieser Grenzgegend übergegangen.
Seit neunzig Sekunden hatten sie uns nicht mehr beschossen. Ich wusste, was alle dachten
und hofften. Jetzt sind sie abgezogen, sie sind abgezogen, weil sie nicht wissen,
dass die Funkgeräte kaputt sind. Sie verduften, bevor die irische Armee auftaucht.
Ich sah John McCrabban an. Er hielt meinem Blick stand: mürrisch, presbyterianisch,
vernünftig. Er schüttelte den Kopf. Sie waren noch nicht abgezogen.
»Sie beziehen neue Positionen«, sagte ich. Und sie kamen näher.
Crabbie nickte, und plötzlich machte es Wuumm und eine Leuchtspur zog über den Himmel auf unseren Graben zu.
»Alle runter!«
Die Granate landete in der Böschung hinter uns, grub sich tief ein und explodierte
mit einem dumpfen Knall.
Die nächste Granate landete eine Minute später direkt auf dem Asphalt vor uns und
schleuderte Schrapnell in alle Richtungen.
Eine Minute später landete eine Granate mit einem ungeheuren Schlag auf dem Wrack
des Land Rover.
Sie schienen nur zwei Granatwerfer zu haben, aber sie waren ziemlich gut beim Zielen
(hatten wohl in Libyen trainiert), und wenn sie mit einer Granate mitten in den Graben
trafen, waren wir geliefert.
»Die Einschläge kommen näher!«, sagte Mitchell.
Er hatte recht. Es war dunkel, und der Anstellwinkel musste ziemlich steil sein, aber
langsam wurde es ungemütlich.
»Vielleicht sollten wir aufgeben?«, schlug McGuinness vor.
»Aufgeben? Nein, das ist die Provisional IRA«, schrie Lawson.
Die IRA ließ keine gefangenen Polizisten frei. Die wurden gefoltert und mit einem Kopfschuss
erledigt. Soldaten wurden gefoltert und durch einen Kopfschuss erledigt. Gelegentlich
ließen sie Gefängniswärter und Terroristen anderer Gruppen frei, aber niemals Polizisten
oder Soldaten.
Lawson hatte einen schwarzen Kasten aus der Tasche gezogen und reckte ihn in die Höhe.
»Was wird das?«, fragte ich.
»Ich habe ein Mobiltelefon. Es funktioniert nur in Belfast und Carrickfergus, aber
vielleicht gibt es hier irgendwo einen Funkmast«, sagte er.
»Ein Mobiltelefon?«
»Ja. Für Notfälle und so.«
»Na dann, ein Versuch kann ja nicht schaden.«
Er wedelte mit dem Mobiltelefon herum und versuchte ein Signal auf dem Ding einzufangen.
Keine schlechte Idee, allerdings war es recht unwahrscheinlich, dass es im nächsten
Ort überhaupt ein Stromnetz gab, geschweige denn einen Funkmast.
Crabbie reichte mir eine Feldflasche mit Wasser. Ich schraubte sie auf und trank einen
Schluck.
»Keine Spur von einem Signal«, sagte Lawson und steckte das Telefon wieder ein.
»Einen Versuch war es wert. Achtung!«, brüllte ich, als eine weitere Granate auf der
Straße vor uns landete.
»Wenn die uns im Graben erwischen …«, sagte Crabbie.
»Ich weiß.«
Und jetzt schossen sie tatsächlich eine Leuchtrakete. Ein phosphorweißer Schweif,
der die Nacht zum Tag machte.
Maschinengewehre und Granatwerfer eröffneten erneut ihr gut gezieltes Trommelfeuer.
»Alle runter!«, brüllte ich über das Gewummer hinweg.
Eine Explosion fast direkt über uns. Eine Explosion, die viele grüne Sterne freisetzte.
Beinah hätte ich bei so viel Schönheit aufgelacht.
»Ich glaube nicht, dass Clare rechtzeitig Hilfe holen kann«, sagte Crabbie direkt
neben mir.
Aye, Clare hatte sich wahrscheinlich vom Acker gemacht und versteckte sich bis zum
Morgengrauen irgendwo.
»Schätze, du hast recht, Mann. Aber wir können ja nicht einfach losrennen. Eine Salve,
und wir sind in Stücke geschossen.«
»Hier können wir auch nicht bleiben, Sean, der Granatwerfer hat unsere Position erfasst!«
Er hatte recht.
Verdammt.
Als die Leuchtrakete verglühte, brüllte ich zu den anderen hinüber: »O’Leary, McGuinness,
herkommen!«
Der völlig verschreckte O’Leary hockte zitternd neben Lawson und hatte sich die Hände
über den Kopf gelegt. McGuinness hatte mich nicht gehört.
»Lawson, schnappen Sie sich die Tränengasdosen von O’Leary und McGuinness. Her damit!«
Lawson kroch über McGuinness und Mitchell hinweg und fand die Dosen. Drei Stück. Er
kroch zurück und gab sie mir.
»Okay, Folgendes! Ihr kriecht nach Norden zurück zum ersten Land Rover. Wenn ihr dort
seid, werfe ich diese drei Tränengasdosen auf die Straße und feuere die MP5 ab. Die
werden auf den Qualm feuern, weil sie denken, dass wir rauskommen. Ich schieße weiter,
und wenn ich sie davon überzeugt habe, dass wir in dem Qualm stecken, kommt ihr aus
dem Graben und rennt die Straße runter, so schnell ihr nur könnt.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Crabbie.
»In dem Durcheinander krieche ich den Graben runter und laufe euch hinterher.«
»Die Straße lang? Wahnsinn!«, meinte O’Leary.
»Wir haben keine Wahl. Die haben uns im Visier. Mit jeder Granate kommen sie näher.
Noch fünf Minuten, dann haben sie uns.«
»Ich bleibe bei dir und nehme die andere MP5«, stellte Crabbie fest.
»Nein, du gehst mit den anderen«, befahl ich.
Crabbie grinste und schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei dir, Sean«, bekräftigte er,
und damit war das letzte Wort gesprochen.
»Also gut, Lawson, Sie nehmen die anderen mit und kriechen zum ersten Land Rover,
und wenn Sie den Qualm sehen und meine Schüsse hören, dann rennen Sie so schnell Sie
können die Straße entlang. Wenn ich richtig liege, dann ist die Grenze nur ein paar
hundert Meter entfernt. Auf dieser Straße gibt es keinen Kontrollposten. Nur ein paar
Steinpoller. Geht über die Grenze und immer weiter bis zum Newry River, und wenn ihr
ein Haus oder eine Farm seht, geht rein und ruft die Newry RUC an.«
Lawson schüttelte den Kopf und wollte schon etwas erwidern, doch bevor er den Mund
aufmachte, landete erneut eine Granate in der Böschung, gerade mal drei Meter rechts
hinter uns. Sie verschwand in der feuchten Erde, explodierte und schleuderte große
Klumpen Gras auf uns.
»Sir, die Schussposition scheint auf einer Anhöhe hinter der Steinmauer links von
dem Hügel da zu sein, wenn wir also in den Graben auf der linken Straßenseite gelangen,
sollten wir im toten Winkel sein. Wir könnten zu der Hecke dort kriechen, das Feuer
erwidern und Ihnen helfen, Sir.«
»Nein, Lawson, Sie laufen alle los. Sie werden die nicht treffen können. Die stehen
höher, die stehen hinter einer Mauer, und die haben ein Maschinengewehr. Sie rennen
los, okay? Ihre Aufgabe ist es, diese Leute in Sicherheit zu bringen. Haben Sie verstanden,
Junge?«
»Ja, Sir.«
»Okay, Leute, alle mal zuhören. Ihr tut, was Sergeant Lawson euch sagt, dann kommt
ihr heil aus dieser Sache raus!«
»Ja, Sir!«, erwiderte einer von ihnen.
»Denken Sie dran, Lawson. Den ganzen Weg bis zum Land Rover auf dem Bauch, und so
bald Sie den Qualm sehen und uns schießen hören und die das Feuer erwidern, rennen
Sie von dort aus los.«
»Ja, Sir.«
Er kroch den Graben entlang, und die anderen folgten ihm. Als ich sicher war, dass
Lawson die Männer und die Frau bis zum ersten Land Rover gebracht hatte, gab ich Crabbie
eine der beiden MP5 und legte die andere vor mich.
Ich untersuchte die erste Dose Tränengas und las die Anweisungen. Die Dose war länger
und schwerer als eine Coladose und hatte oben einen Stift. Den zog man ab und warf
die Dose.
»Was macht dein Wurfarm?«, fragte ich Crabbie.
»Besser als deiner, schätze ich, ich habe Cricket für Ballymena gespielt. Fast Bowler.«
Ich hatte mein Lebtag noch nicht Cricket gespielt, aber der Begriff »Fast Bowler«
klang beeindruckend. Ich reichte ihm die erste Dose. »Den Stift abziehen und werfen,
steht drauf.«
Crabbie lächelte.
»Hör mal, Crabbie, wegen dem, was passiert ist, was ich gesagt habe, ich, ich …«,
doch dann blieben mir die Worte aus.
Crabbie nickte. »Ich weiß schon, Sean. Wir sind Brüder, du und ich.«
»Ja.«
Er zog den Stift ab und warf die Dose über die Straße. Sie zündete noch im Flug, und
sofort war die Straße voller milchigblauem Tränengas.
Ich schleuderte die zweite Dose in einem weniger beeindruckenden Bogen, dann warf
Crabbie die dritte Dose. Zum Glück für uns kam der Wind von Süden und blies das Tränengas
den Hügel hinauf zum Versteck der IRA. Die Männer begannen sofort, in die Gaswolke zu feuern.
»Jetzt!«, brüllte ich, und wir schossen unsere Magazine leer. Das Antwortfeuer wurde
immer ungestümer, und eine weitere Granate landete nur ein paar Meter von uns entfernt
auf der Straße.
Ich schaute den Sheugh entlang, wo Lawson sein sollte, doch er und die anderen rannten
bereits die Straße entlang auf die Grenze zu.
Ich feuerte den letzten Schuss aus meiner MP5 in die Tränengaswolke, und der Lauf
spuckte Feuer in die körnige Dunkelheit. Ich würde nichts treffen, aber es würde den
Arschlöchern zu denken geben.
»Na los!«, sagte Crabbie, und wir krochen den Graben entlang zum ersten Land Rover.
Zwischen Husten und Fluchen schossen die IRA-Leute auf die Tränengaswolke fünfzig Meter hinter uns.
»Los«, sagte Crabbie, wir kletterten aus dem Graben und rannten die Straße entlang.
Die Grenze war noch näher, als ich gedacht hatte. Nach zwei Minuten waren wir an ein
paar Betonblöcken und einem Schild angelangt, auf dem stand: »Vereinigtes Königreich:
Durchfahrt nur für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge.«
»Wenn ich gewusst hätte, dass ich in diesem Fall derart viel herumrennen muss«, murmelte
ich und suchte in meinen Taschen nach dem Inhalator, »dann hätte ich ihn nie angenommen.«
»Spar dir den Atem!«, sagte Crabbie und zog mich am Arm.
Wir überquerten die Grenze und rannten einen Hügel hinauf.
Hinter uns fielen immer noch Schüsse. Wenn die Mistkerle uns sahen, würden sie uns
folgen, also mussten wir uns ducken.
»Sir, hier drüben!«, hörten wir Lawson aus einer Hecke.
»Sind alle in Ordnung?«
»Ja, Sir, ein paar von uns sind hingefallen, aber alle sind okay.«
»Also gut, weiter geht’s. Einzelreihe, Grundhaltung Fußstreife und Trab. Ich übernehme
die Spitze.«
»Ich übernehme die Spitze«, widersprach Crabbie. »Du nimmst deinen Inhalator.«
Wir liefen den Hügel hinunter, bis wir an den River Newry kamen. Weit und breit kein
Haus und keine Farm. Nur der fünfzig Meter breite Fluss. Dieser Abschnitt des Grenzgebiets
war ziemlich verwirrend. Gingen wir in nordwestlicher Richtung am Flussufer entlang,
kamen wir nach Newry, gingen wir nach Südosten, würden wir wieder in der Republik
landen. Überquerten wir den Fluss, waren wir in der Garnisonsstadt Warrenpoint in
Sicherheit.
»Wie tief ist das Wasser, was glauben Sie?«, fragte Lawson.
»Tief und schnell. Es wäre bezeichnend, wenn wir dem Hinterhalt entkommen und dann
ertrinken. Wir gehen nach Newry. Das sind nur ein paar Meilen die Straße entlang.«
Newry war eine Bastion der Republikaner, man würde dort eine verdreckte Polizeipatrouille
nicht gerade mit offenen Armen empfangen, aber am anderen Ende der Gemeinde gab es
ein Revier der RUC.
»Hier lang«, sagte Crabbie, und wir folgten ihm.
Wir brauchten nicht bis Newry zu gehen. Eine halbe Meile den Fluss entlang stießen
wir auf eine Patrouille des Ulster Defence Regiment, die beim Lärm der Explosionen
aus der Garnison entsandt worden war. Sie hatten eine Straßensperre aufgestellt und
richteten nervös ihre Gewehre auf uns, als wir uns näherten.
»Wer da?«, fragte ein junger Soldat. Er roch förmlich nach schießwütigem Teenager,
der am liebsten jemanden abgeknallt hätte. Das wäre noch so ein ironisches Ende, das
ich nicht wollte, also reckte ich die Hände in die Höhe und rief zurück: »Wir sind
die Polizei. Wir sind jenseits der Grenze in einen Hinterhalt der IRA geraten.«
»Weisen Sie sich aus!«, rief jemand anderer.
»Wir sind die Polizei! Detective Inspector Sean Duffy, Carrickfergus RUC!«
»Gerade eben ist Alarm gegeben worden, Sie seien schon lange überfällig!«, sagte die
Stimme, die Soldaten senkten die Waffen, und wir wussten, wir waren in Sicherheit.