Durch die Hintertür gelangte ich in einen Raum voller Stiefel, Outdoorbekleidung, einer Fliegenangel und einem Netz. Ich suchte nach einer Alarmanlage, aber es gab keine. Hier draußen am Ende der Welt war man sicher, da brauchte man so etwas nicht.
Ich nahm das Paar Latexhandschuhe heraus, das ich in einem örtlichen Drugstore gekauft hatte, und zog sie an. Ich zog die Schuhe aus und ließ sie im Schuhraum stehen. Dann trat ich in eine Küche, die vor kurzem renoviert und neu eingerichtet worden war. Auf den Regalen stand ein Dutzend verschiedene Pastasorten, im Kühlschrank selbstgemachte Spaghettisauce. Daneben stand ein offenbar selbstgemachter Käsekuchen. Wilson war ein Gourmet.
Von der Küche kam ich in ein gepflegtes Esszimmer mit einem großen, gewienerten Esstisch aus Schwarz-Esche und Stühlen ringsum, darauf ein alt aussehender silberner Kandelaber. Das Silber war erst kürzlich poliert worden; im ganzen Esszimmer fand sich nicht ein Stäubchen. Die Wände waren himmelblau gestrichen und mit gerahmten Postern der französischen Eisenbahn aus den Zwanzigern dekoriert. Ein schönes Zimmer, aber merkwürdig nichtssagend.
Auch im angrenzenden Wohnzimmer hingen mehrere französische Eisenbahnposter, dazu gab es einen großen Fernseher mit einem Videorekorder darunter. Der CD-Player mit dem großen Stapel CDs daneben war von größerem Interesse. Wilsons Musikgeschmack ließ zu wünschen übrig: Phil Collins, The Eagles, Van Halen, Journey, ABBA, Air Supply – Mainstream, der die musikalische Vorstellungskraft nicht sonderlich strapazierte.
Im Wohnzimmer stand ein Bücherregal, das gefüllt war mit Kochbüchern, Geschichtsbüchern und ein paar Selbsthilfetiteln über Zeitmanagement. Ich blätterte durch ein paar der Bücher, fand aber keine versteckten Briefe oder sonst etwas Interessantes.
Das nächste Zimmer war eine Art Arbeitszimmer oder eher Raum zur inneren Einkehr. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Teppich. An der Wand hing ein großes Kreuz und in einer Ecknische stand eine Figur der Jungfrau Maria. Interessant.
Ich ging nach oben.
Gleich an der Treppe lag ein Badezimmer, das nicht viel verriet. Mr Wilson benutzte einen Elektrorasierer und putzte sich die Zähne mit Colgate. Neben der Toilette gab es eine kleine Ablage mit den aktuellen Ausgaben vom New Yorker und von Guns and Ammo – keine übliche Kombination.
Es gab fünf Zimmer, nicht vier, wie ich erwartet hatte. Das Haus war, ganz wie TARDIS, innen größer, als man von außen erwarten würde. Allerdings war nur eins der Zimmer bewohnt. Keine Spuren von Frau, Kindern oder dergleichen.
Das Zimmer nach hinten raus war in ein Arbeitszimmer umgewandelt worden. Hier gab es einen Balkon mit Blick über die Chesapeake Bay nach Kent Island. Im Büro gab es einen PC und einen schwarzen Aktenschrank aus Metall. Der Aktenschrank war mit einem nutzlosen kleinen Schloss gesichert.
Ich öffnete den Schrank, doch er war leer.
Ich schaltete den PC ein; passwortgeschützt. Ein paar Minuten lang versuchte ich, das Passwort zu erraten, hatte aber kein Glück. So etwas war nicht meine starke Seite.
Ich schaute in den Schubladen im Büro nach, auch in den anderen Räumen, doch so langsam ging mir auf, dass ich im ganzen Haus nichts Persönliches finden würde.
Mr Wilson war die amerikanische Ausgabe von Mr Townes.
Ich suchte unter dem Bett nach einer Waffe, als eine Stimme sagte: »Hallo.«
Ich wirbelte herum, und da stand Wilson und richtete eine Heckler und Koch MP5 mit Schalldämpfer auf mich. Ich wusste nicht mal, dass es dafür überhaupt einen Schalldämpfer gab.
»Also gut, du Arschloch, auf den Boden und die Hände auf den Rücken. Ich habe gerade erst einen neuen Teppichboden legen lassen, und ich möchte nicht abdrücken, aber ich tu’s.«
Ich gehorchte. Er legte mir Handschellen an, nahm meine Brieftasche und hob mich hoch.
»Auf geht’s«, sagte er.
»Wohin?«
»In den Keller.«
»Das gefällt mir nicht.«
»Das soll es auch nicht.«
Ich hatte keine Wahl, also ging ich die Treppe hinunter und stellte fest, dass die Tür im Flur, die in den Keller führte, offen stand. Ich ging die wacklige Holztreppe hinunter in einen nicht ausgebauten Keller: Betonboden, Waschmaschine, Trockner, Kisten. Wilson klappte einen Gartenstuhl auf und ließ mich hinsetzen. Dann setzte er sich mir gegenüber.
Er nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an.
»Zigarette?«, fragte er.
»Ich hab das Rauchen aufgegeben.«
»Tatsächlich?«
»Ja, vor zwei Jahren.«
»Ich hab’s versucht, aber ich schaff’s nicht. Wie haben Sie das geschafft? Pflaster? Kaugummi?«
»Schiere Willensanstrengung«, antwortete ich.
Er lachte und zog an seiner Zigarette. Er besah sich meinen Führerschein, den Dienstausweis und die Kreditkarten. Nichts davon interessierte ihn. Er wusste bereits, wer ich war.
»Wann haben Sie mich entdeckt?«, fragte ich.
»Am allerersten Morgen, als Sie mich verfolgt haben. Was um alles in der Welt ist denn in Sie gefahren, sich einen schwarzen Buick GNX geben zu lassen?«
»Ich habe um ein schnelles Auto gebeten.«
»Auffällig wie ein bunter Hund, Mann. Von der Karre sind keine tausend Stück gebaut worden.«
»Das wusste ich nicht.«
»Sie sind eh nicht gut, wenn Sie nicht auf heimatlichem Boden sind, Duffy, oder?«
»Geht schon.«
»Das FBI hat Sie 1982 praktisch des Landes verwiesen. Was haben Sie sich dabei gedacht, für etwas anderes herzukommen als Urlaub?«
»Ich dachte, es sei genügend Gras über die Sache gewachsen.«
»Kein Gras, Duffy. Wenn Sie das Land betreten, schrillen alle möglichen Alarmglocken. Ich hätte Sie wahrscheinlich auch ohne den schwarzen Buick GNX entdeckt.«
Ich nickte. »Vielleicht nehme ich doch eine Zigarette.«
Er zündete sie an und steckte sie mir in den Mund, und ich atmete den Qualm des unglaublich tröstenden Virginia-Tabaks der Marlboro Red ein.
»Wozu Island?«, fragte ich.
»Da mache ich immer Zwischenstation, wenn ich nach Europa fliege. Die Station Reykjavík ist einer unserer Umschlagplätze. Ich wechsle dort meine Pässe. Und dann noch einmal in London. Haben Sie mich so aufgestöbert? Im Hotel? Sie haben alle Hotels in Reykjavík mit meinem Foto vom Flughafen abgeklappert?«
»So ungefähr.«
»Gute Polizeiarbeit. Hätte mir denken können, dass Sie so etwas unternehmen würden … Na, jetzt müssen wir uns wohl etwas anderes ausdenken.«
»Ja. Und was war heute Morgen? Sie haben wieder umgedreht?«, fragte ich.
»Ja. Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie so etwas versuchen würden. Gestern oder heute. Sie sind ziemlich vorhersagbar.«
»Ach herrje.«
»Machen Sie sich nichts draus. Das ist ziemlich gefährliches Terrain für jemanden wie Sie.«
»Wie mich?«
»Für einen Polizisten, selbst für einen so unkonventionellen Polizisten wie Sie. Das ist weit über Ihrer Gehaltsklasse.«
»Verraten Sie mir doch mal eins, Mr Wilson, falls Sie überhaupt so heißen, was gibt Ihnen das Recht, herumzulaufen und irische Männer und Frauen umzubringen?«, fragte ich.
»Was mir das Recht gibt? Das ist Ihre Frage?«
»Ja.«
»Sie sind mir gefolgt. Sie wissen, wo ich arbeite. Sie wissen, für wen ich arbeite.«
»Das beantwortet meine Frage nicht. Was gibt Ihnen das Recht …«
»Ach, halt die Fresse«, sagte er, nahm mir die Zigarette aus dem Mund und trat sie auf dem Betonboden aus. Er drückte mir den Lauf der MP5 in die Wange.
Ich fingerte verzweifelt an der Geheimtasche meiner Lederjacke herum, bekam aber den Klettverschluss nicht auf, der Dietrich und Rasierklinge bedeckte.
Ich hatte mich auf genau eine solche Situation vorbereitet, aber vorher nicht geübt.
Mist.
Oh Duffy, was bist du bloß für ein Idiot.
Denk an die sieben Vs: Vernünftige Vorbereitung und Voraussicht verhindern verfluchtes völliges Versagen.
Ich versuchte es wieder und wieder, aber sosehr ich mich auch bemühte, es wollte nicht. Ich bekam den Klettverschluss nicht auf und den Dietrich nicht heraus, was bedeutete, dass ich keine Chance hatte und er mich erschießen konnte wie einen Batzen Fleisch. Ich hatte es wohl auch nicht anders verdient. Das kam eben davon, wenn man seine Nase in anderer Leute Dinge steckte. Sehr, sehr wenige Polizisten besaßen die Ausdauer oder das Geld oder die Blödheit, einer Spur bis in die Staaten zu folgen. Wofür? Für die Wahrheit? Was hatte uns Dr. Creery immer von John Milton zitiert? »Die Wahrheit kommt stets nur als Bankert auf die Welt, zur Schande jener, die sie auf die Welt gebracht haben.« Ha! Ja, das traf es genau. Komisch, dass mir so etwas nach dreißig Jahren wieder einfiel. Das langweiligste Fach in der Schule. Ich sitze neben dem großen Cormac McCann, der später zum Meisterbomber der IRA werden sollte, ich werde beim Quatschen erwischt, und Cormac wird aufgefordert zu sagen, worüber wir geredet haben, also steht er auf und behauptet aus der kalten Hose, wir hätten über betonte und unbetonte Silben und die Vorzüge der Schreibstile von Seneca und Cicero gesprochen. Der Gesichtsausdruck von Dr. Creery – unbezahlbar.
Ich lächelte.
Wilson trat einen Schritt zurück und ließ die Waffe sinken. Er hatte mich völlig in der Gewalt, und das wusste er. »Woran denkst du gerade, Duffy?«, fragte er triumphierend.
»An Milton.«
»An welchen Milton?«
»John Milton.«
»Und was hat er mit alldem zu tun?«
»Gar nichts. Das ist ein toter Dichter.«
»Das weiß ich«, sagte er.
»Tatsächlich?«
»Ja. Hauptfach Englisch im Studium.«
»Welches College?«
»Ich stelle hier die Fragen. Ich gehe nach oben und hole mir etwas. Rühr dich nicht vom Fleck. Wenn du den Stuhl verrückst, betrachte ich das als Vertrauensbruch, und ich muss dich sofort erschießen, nicht dass du noch irgendetwas unternimmst, was mich in Gefahr bringen könnte. Verstanden?«
»Ich rühr mich nicht.«
»Besser wär’s«, sagte er und ging nach oben. Ich verbrachte die folgenden dreihundertsechzig Sekunden damit, an den Klettverschluss im linken Ärmel meiner Lederjacke heranzukommen, aber nichts ging. Ich hatte ihn zu tief im Ärmel eingenäht; ich kam nicht mit den Fingern dran.
Wilson kam fünf Minuten später mit einem bedrohlich wirkenden Stück schwarzer Plane. Er hatte nun eine Glock statt der MP5 dabei, ebenfalls mit Schalldämpfer. Er breitete die Plane rings um den Stuhl auf dem Betonboden aus. Blut sickert manchmal in Beton ein, wenn er zu porös ist, und lässt sich nicht wieder entfernen.
»Ach, ich hab noch etwas vergessen«, sagte er und ging wieder zur Kellertreppe. Auf halber Höhe blieb er stehen. »Denk dran, wenn du dich auch nur einen Millimeter aus dem Stuhl bewegst, erschieße ich dich auf der Stelle.«
Ich hatte eh keine Chance. Der einzige Weg hinaus ging über die laute, knarzende Kellertreppe.
Mist, Mist, Mist.
Ich dachte an Beth und Emma. Daran, sie nie wiederzusehen. Das war der hohe Preis der Selbstsüchtigkeit. Dieses amerikanische Abenteuer, dieser Wunsch, etwas zu Ende zu bringen, dieser Drang, etwas zu wissen. Neugier/Katze.
Wilson kam mit einem Becher Kaffee und einem Aschenbecher die Treppe hinunter. Er zündete sich wieder eine Zigarette an. »Ich biete dir keine mehr an, Duffy. Du hast nicht gelogen. Du hast das Rauchen aufgegeben. Seit der medizinischen Diensttauglichkeitsprüfung 1988. Die Prüfung, bei der dein Arzt, Doktor Havercamp hieß er, glaub ich, Asthma diagnostizierte und dich für, Zitat, möglicherweise dienstuntauglich, Zitat Ende, hielt.«
Ich versuchte, nicht überrascht zu wirken. Amerikaner waren immer erstaunt, wie kaltblütig Europäer sein konnten. »War meine Akte unterhaltsam?«
»Sehr. Für einen Amateur hast du eine große Begabung, dich andauernd tief in die Scheiße zu reiten.«
»Vielleicht bin ich verhext.«
»Tja, jedenfalls bin nicht ich derjenige, der mit Handschellen gefesselt auf einem Stuhl im Keller eines anderen sitzt«, sagte er.
»Nein.«
Er trank einen Schluck Kaffee.
»Du hättest mir auch einen Kaffee machen können.«
Er schüttelte den Kopf. »Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ich kann ja nicht zulassen, dass du damit nach mir wirfst und das gute Porzellan kaputtmachst.«
Das gute Porzellan. Amerikaner sagten so etwas nicht. Vielleicht hatte er viel Zeit in Großbritannien verbracht, vielleicht hatte er eine britische Mutter oder Großmutter …
»›Es ist der Geist sein eigner Raum, er kann in sich selbst einen Himmel aus der Hölle und aus dem Himmel eine Hölle schaffen.‹ Der John Milton«, sagte er.
Ich fragte mich, warum er mich zu beeindrucken versuchte. Welchen Zweck verfolgte er damit, wenn ich in fünf Minuten Würmerfutter sein würde? Vielleicht war das seine Masche, das Opfer wissen zu lassen, dass es nicht von irgendwem erledigt wurde. Er war etwas Besonderes. Er war gut. Er las vorher deine Akte. Und er hatte an seiner altehrwürdigen Schule einen Haufen alter Gedichte auswendig gelernt.
»›Besser ist, der Hölle Herr sein, als des Himmels Sklav‹«, beendete ich das Zitat für ihn.
Er nickte und trank noch einen Schluck. »Das habe ich in deiner Akte auch gelesen. Du bist gebildet, und du bist ein ziemlicher Angeber.«
»Was steht denn noch da drin?«
»Hast du sie nicht gelesen?«
»Ist nicht erlaubt.«
»Faszinierende Dinge – na ja, bis vor zwei Jahren. Da bist du in die Teilzeitreserve gewechselt, was immer das sein soll, und dann wird die Akte ziemlich stumm. Und stumm gefällt mir nicht. Gefällt uns nicht.«
»Wer sind denn ›uns‹?«
»Ich glaube, du weißt das … Jedenfalls, ein paar Telefonate, ein paar E-Mails, und schon erhalten wir Einsicht in eine andere Akte über Sean Patrick Duffy, Teilzeitpolizist.«
»Und was steht da drin?«
Er lächelte und trank wieder einen Schluck. »Tja, die Akte gibt einem zu denken. Denn da steht drin, dass wir beinah Kollegen sind, du und ich.«
»Das hier ist keine Art, mit Kollegen umzuspringen«, sagte ich.
»Beinah Kollegen. Ein wahrer Kollege wäre nicht über den Atlantik geflogen, um in mein Haus einzubrechen. Ein wahrer Kollege hätte angerufen, sich der Tatsache versichert, dass wir alle auf derselben Seite stehen, und es dabei belassen.«
»Stehen wir denn auf derselben Seite?«
»Aber natürlich.«
»Da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, du wolltest mich umbringen.«
»Nein, du hast recht. Wahrscheinlich bringe ich dich um. Das werde ich ganz sicher tun, wenn du nicht alle meine Fragen beantwortest«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
»Warum?«
»Was – ›warum‹?«
»Warum würdest du mich umbringen?«
»Du bist ein zerstörerisches Element, Duffy. Kommst den ganzen Weg hierher und brichst in mein Haus ein? Dir ist schon klar, dass die Arbeit, die ich verrichte, nicht von jemandem wie dir in Gefahr gebracht werden darf.«
»Was verrichtest du denn für eine Arbeit?«
»Wie gesagt, bin ich derjenige, der die Fragen stellt«, sagte er und richtete die Waffe auf meine Stirn.
»Nimm die Handschellen ab, und ich sage dir alles, was du wissen willst.«
Er schüttelte den Kopf.
»Aber du würdest mich doch nicht einfach kaltblütig umbringen?«
»Wie du dir sicher denken kannst, ist dieser Keller schalldicht. Ich habe hier früher sogar mal einen Schießplatz drin gehabt. Draußen würde es überhaupt keinen Lärm geben.«
»Und wenn ich zu schreien anfange …«
»Das würde ich gar nicht erst zulassen. Und einer der Vorteile des Landlebens besteht darin, dass jeder den anderen in Ruhe lässt.«
»Ich habe mich schon gefragt, was du hier am Ende einer langen Pendlerstrecke so treibst.«
Er nickte. »Alle anderen wohnen innerhalb des Autobahnrings. Ich mag aber nicht mit allen anderen rumhängen. Ich bin froh, wenn ich weg bin von D. C. und Langley und all diesen Flaggen in Arlington. Wenn man an diesem Haus vorbeifährt, dann denkt man an einen Lehrer im Ruhestand oder so etwas.«
»Man kommt nicht auf einen Experten für Schmutzarbeit aus der Abteilung für Sondereinsätze der CIA.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, darauf kommt man nicht. Niemand stört mich, ich kann tun und lassen, was ich will. Wenn ich dich umbringe, wird es niemand hören, niemand wird davon erfahren, niemand wird wissen, dass du jemals hier gewesen bist, und ich nehme heute Nacht das Boot raus aufs Wasser, wie ich das häufig mache, und niemand wird bemerken, dass ich in der Dunkelheit ein paar Müllsäcke über Bord werfe.«
»Und was ist mit dem Auto?«
»Das lasse ich in South Baltimore stehen.«
»Ich habe meinem Sergeant in Carrickfergus mitgeteilt, dass ich hierher fahre.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht zu dieser Adresse«, sagte er mit einer Stimme, die klarstellte: Lassen wir diese Spielchen. »Das hier ist ein klassischer Sean Duffy, der einsame Wolf. Du hast Format, Kumpel. Außerdem wäre es egal, ob du es ihm mitgeteilt hast. Es gibt keinen Beweis, dass du jemals hier angekommen bist, und es wird keine Spuren geben, dass du jemals in diesem Haus gewesen bist, das kann ich dir versichern … Also, nachdem das geklärt ist, Zeit für die Fragestunde. Wie genau hast du mich gefunden? Ich dachte, ich wäre sehr vorsichtig gewesen.«
»Ein junger Bursche hat dich am Belfast Airport erkannt. Ein Informant von mir. Dann bin ich deiner Spur von Knock über Inverness nach Island gefolgt.«
Er stöhnte. »Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand all die Mühe machen würde. Hast du denn nichts Besseres zu tun?«
»Eigentlich nicht.«
»Sag mir genau, was du gemacht hast, damit ich diesen Fehler nie wieder begehe.«
»Ich habe der Empfangsdame im Hotel Borg dein Foto gezeigt, und sie hat dich sofort erkannt, weil du dich darüber beklagt hast, dass sich in deinem Zimmer die Vorhänge nicht richtig schließen lassen.«
Wieder stöhnte er auf. »Ich werde langsam unvorsichtig auf meine alten Tage.«
»Und sie konnte mir Namen und Anschrift geben. Deinen richtigen Namen und die richtige Anschrift, nach einer ganzen Reihe von Falschnamen, die ich natürlich sofort an Special Branch RUC weitergegeben habe.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Duffy. Nein, nein, nein. Es lief doch so gut. Du hast mir die Wahrheit gesagt, ich habe dir geglaubt, und wir haben ein gutes Verhältnis aufgebaut. Und jetzt zwingst du mich zu so etwas.«
Er legte die Waffe auf den Tisch, stellte die Tasse ab, baute sich hinter mir auf, fixierte meinen Kopf mit dem linken Arm und drückte dann einen behandschuhten Daumen in mein rechtes Auge. Er wusste ganz genau, was er tat. Der Schmerz war unerträglich.
»Und das ist nur ein Vorgeschmack«, sagte er, setzte sich hin und nahm die Tasse. »Also, nur die Tatsachen, Duffy, nur die Tatsachen, dann brauchen wir keine Unannehmlichkeiten mehr zu ertragen.«
Mein Auge pochte vor Schmerz.
Ich brauchte eine Weile, bis ich wieder Luft holen konnte.
»Ich kriege keine Luft. Ich brauche meinen Inhalator, der steckt in der Innentasche.«
»Natürlich sollst du Luft kriegen. Zumindest, bis du alle meine Fragen beantwortet hast«, sagte er, griff in meine Jacke und zog den Inhalator raus. Die Ärmel lösten sich ein wenig an den Schultern und rutschten etwas an meinen Armen runter.
Ich kam an die Geheimtasche.
Er hielt mir den Inhalator an den Mund, und ich holte tief Luft.
»Besser?«, fragte er.
Ich nickte.
»Also, wem hast du davon erzählt?«
»Niemandem. Die Polizei in Inverness weiß, dass ich nach Island geflogen bin, und die isländische Polizei weiß, dass ich nach jemandem gesucht habe. Ich habe keine Namen genannt. Dein Name steht nur in meinem Notizbuch im Hotel«, sagte ich und räusperte mich so laut, dass es das Geräusch des Klettverschlusses übertönte, als er sich endlich öffnete; dann nahm ich den Dietrich aus dem Geheimversteck.
»Das ist alles? Du hast niemandem sonst meinen Namen gegeben?«
»Nein.«
»Hab ich mir gedacht. Das ist nun mal deine Vorgehensweise. Der blöde einsame Wolf. Weißt du, was in der Wildnis mit einsamen Wölfen passiert?«
»Nein.«
»Sie verhungern. Wölfe brauchen ihr Rudel, ohne das Rudel sind sie nichts. Ich bin kein einsamer Wolf. Ich habe eine ganze Organisation hinter mir, ein ganzes Land«, sagte er.
Ich steckte den Dietrich ins Schloss der Handschelle.
Das hatte ich geübt. Zigmal. Wenn man nur oft genug übt, dann kriegt man Handschellen auch mit einer Büroklammer auf. Und mit einem Dietrich ist es erst recht keine Kunst.
Ich hüstelte, um das Geräusch der aufklickenden Handschellen zu übertönen.
»Und wie lautet nun der Plan? Wirst du mich umbringen?«
»Das wäre nun wirklich die einfachste Lösung«, antwortete er. »Du bist ein wirklich lästiger Kerl, und du machst uns nichts als Är…«
Noch bevor er seinen Satz zu Ende bekam, sprang ich auf, kippte ihm mit der linken Hand den Kaffee ins Gesicht und griff mit der rechten die Glock vom Tisch. Wilson gehörte zur Firma, und nicht nur das, er gehörte auch zu den Spezialeinheiten, und war deshalb in allen möglichen Formen der schwarzen Künste geübt – er würde schneller und gewitzter sein als ich, und er würde mir wahrscheinlich die Waffe wieder abnehmen, wenn ich nicht sofort handelte. Also schoss ich ihm in den linken Knöchel und trat den Stuhl unter ihm weg, bevor er reagieren konnte.
»Die nächste Kugel landet in deinem Schädel! Mit dem Gesicht auf den Boden, Hände hinter den Rücken!«
Er gehorchte, und ich legte ihm die Handschellen an. Dann begutachtete ich die Knöchelverletzung. Der Schuss hatte die großen Adern unversehrt gelassen. Er würde nicht verbluten, aber es würde weh tun. Gut so.
Ich zog seine Brieftasche hervor. Kreditkarten, Dienstausweis der CIA und Führerschein verrieten, dass es sich bei ihm tatsächlich um einen Mann namens Kevin Donnolly, 33, handelte. Er versuchte aufzustehen, aber ich würde nicht zulassen, dass er dieselbe Nummer mit mir abzog.
»Bleib schön ruhig liegen, Mann. Mach es dir bequem, ich habe selber ein paar Fragen.«
»Ich werd dir gar nichts sagen«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Glaubst du, ich würde dich nicht erschießen?«
»Ich weiß es.«
»Ich erzähl dir mal von einem Fall, der nicht in den Akten steht«, sagte ich und verriet ihm, wie ich Freddie Scavanni mehr oder weniger kaltblütig umgelegt hatte.
»Aber das war ein schlimmer Finger, und wir beide stehen auf derselben Seite«, protestierte Donnolly.
»Tatsächlich? Davon muss ich mich erst noch überzeugen. Außerdem gibt es ja noch andere Dinge, die ich mit dir anstellen könnte, ohne dich umzubringen. Hast du jemals vom Belfaster Sixpack gehört?«
Ich erklärte es ihm. Kugeln in Knöchel, Kniescheiben und Ellbogen. Das würde ihn nicht umbringen, aber er würde für den Rest seiner Zeit bei der CIA den Schreibtischhengst machen. Das überzeugte ihn so weit, dass ich mich ermutigt fühlte, am Walkman den Aufnahmeknopf zu drücken. Das Band lief, das Lämpchen am eingebauten Mikro leuchtete auf.
»Als Erstes, ist Kevin Donnolly dein richtiger Name?«
Er antwortete nicht.
»Ich habe deinen Dienstausweis hier vor mir.«
»Ja«, murrte er.
»Woher kommst du, Kevin?«
»Aus New York City.«
»Geburtsdatum?«
»7. 7. 1969.«
»Und für wen arbeitest du?«
»Was steht denn auf dem Ausweis?«
»CIA.«
»Für die arbeite ich.«
»Was glauben denn die Nachbarn, was du tust?«
»Die halten mich für einen Büromenschen, der im Landwirtschaftsministerium für die Düngerkontrolle zuständig ist.«
»Das hört sich so langweilig an, ich wette, die glauben alle, dass du bei der CIA bist.«
»Kann sein.«
»Was hast du in Irland gemacht?«
»Das darf ich nicht sagen.«
Ich drückte auf den Pausenknopf und schoss fünf Zentimeter neben seinem Gesicht in den Boden. Als er aufgehört hatte zu schreien, drückte ich wieder auf Aufnahme.
»Was hast du in Irland gemacht?«
»Drecksarbeit erledigt.«
»Und konkret?«
»Ich wurde angeheuert, um einen Mann und eine Frau umzubringen.«
»Welchen Mann und welche Frau?«
»Alan Locke und Eileen Cavanagh.«
»Und das hast du auch gemacht.«
»Ja.«
»Warum?«
»Das ist kompliziert.«
»Versuch’s mal.«
»Du bist nicht befugt, das zu wissen.«
»Vielleicht nicht, aber du wirst es mir trotzdem verraten«, sagte ich, drückte auf den Pausenknopf und drückte ihm den Lauf der Waffe in die Kniekehle.
»Schon gut, schon gut! Tu die Waffe weg. Ich sag’s dir ja.«
Ich drückte wieder auf den Aufnahmeknopf.
»Sprich.«
»Brendan O’Roarke«, sagte Donnolly.
»Was ist mit ihm?«
»Alan Locke und Eileen Cavanagh waren Attentäter, die für ihn arbeiteten.«
»Und?«
Donnolly seufzte. »Seit einem Jahr verhandeln die Regierungen Großbritanniens, Irlands und der Vereinigten Staaten mit dem Armeerat der IRA darüber, die Troubles zu beenden.«
Ich musste aufpassen, nicht überrascht nach Luft zu schnappen. Das war mir neu. Nicht der Hauch einer Andeutung davon war an die Presse gelangt.
»Weiter«, sagte ich.
»In ein paar Monaten oder Anfang nächsten Jahres wird die IRA einen Waffenstillstand ausrufen und alle militärischen Aktivitäten aussetzen. Im Gegenzug werden die Briten eine Nordirland-Versammlung einberufen und mit der Freilassung aller IRA-Gefangenen beginnen.«
»Und die haben eingewilligt?« Dieses Angebot lag seit den Siebzigern auf dem Tisch, doch hatte sich bislang nichts bewegt.
»Der Armeerat ist gespalten. Seamus O’Roarke und Brendan O’Roarke sind zwei der stärksten Hardliner.«
So langsam verstand ich.
»Brendan O’Roarke war dabei, einen Staatsstreich im Armeerat zu vollziehen, und die CIA wurde beauftragt, ihn zu stoppen?«, fragte ich.
»Nicht ganz. Wir haben bislang noch keine Erlaubnis erhalten, auf irischem Boden tätig zu werden, wir können O’Roarke also nicht direkt treffen …«
»Aber O’Roarkes Leute in Nordirland waren Freiwild?«
»O’Roarke hat ein Team in Nordirland installiert, um drei seiner Rivalen im Armeerat auszuschalten. Er plante einen Coup über Nacht. Die Briten und Iren durften auf keinen Fall etwas damit zu tun haben, diese Attentäter auszuschalten. Viel zu heiß. Also wurden wir gebeten.«
»Und die CIA hat zugestimmt.«
»Die CIA hat gesagt, sie würden sich die Sache mal anschauen.«
»Na, das war wohl mehr als nur anschauen, Mann.«
»O’Roarkes Plan war gut. Wenn ***** ****, Liam Flaherty und ****** ******** erst tot waren, hätten die Brüder O’Roarke und ihre Anhänger die Mehrheit im Armeerat gehabt. Das hätte jeden Deal mit den Briten torpediert. Der Frieden würde auch in den kommenden zwanzig Jahren nicht eintreten.«
»Die Troubles würden bis weit ins nächste Jahrhundert anhalten.«
»Ganz genau. Aber wir haben die Attentäter ausgeschaltet. O’Roarkes Feinde sind in Sicherheit. Die Weichen sind gestellt, um die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Jetzt, wo O’Roarkes drei höchstgeschätzte und gefährliche Killer in Nordirland tot …«
»Warte mal. Drei?«
»Einer meiner Kollegen hat letzte Nacht in Derry das letzte Mitglied von O’Roarkes Team erledigt.«
»Mist. Und was kommt als Nächstes?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Du kannst und du wirst. Ich kann den Mund halten, das weißt du. Aber ich muss es wissen.«
Ich steckte ihm den Lauf der Waffe ins Ohr. Als das nichts brachte, trat ich ihm gegen den Knöchel.
»Schon gut! Aufhören!«
»Rede.«
»Du darfst kein Wort davon verlauten lassen, Duffy«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Mach ich nicht.«
»Wir haben ein Team in Paris, das Seamus O’Roarke auf der Spur ist.«
»Und ein weiteres für seinen kleinen Bruder Brendan?«
»Anders geht es nicht.«
»Zurück zu meiner Ausgangsfrage. Was gibt dir das Recht, durch die Gegend zu fliegen und Iren und Irinnen umzubringen?«, fragte ich.
»Wir haben die volle Unterstützung der britischen und der irischen Regierung. Auf höchster Ebene.«
»Wie hoch? Innenministerium?«
»Noch höher. Zu beiden Seiten des Atlantik. Und in Frankreich.«
Präsident Bush, Premierminister Major und Präsident Mitterand.
Dem war ich nicht gewachsen.
Ich holte tief Luft.
»Hättest du mich wirklich umgebracht?«
»Ja.«
»Warum?«
»Diese Verhandlungen sind zu wichtig. Sie dürfen nicht gefährdet werden.«
»Und warum der Flug nach Knock zum Marienschrein?«
»Was ich tue, ist richtig. Trotzdem. Menschen umzubringen – da braucht man Vergebung, oder nicht?«
»Und du glaubst, dass dir vergeben worden ist?«
»Was ich tue, dient einem höheren Wohl. Das ist dir doch klar.«
Ich nahm den Walkman und stand auf.
»Wo sind die Seile?«, fragte ich.