Unterwegs in einem neuen Land

»Was wir heute als Trimoria kennen«, erklärte Throll, während sie in südöstlicher Richtung durch die Graslandschaft wanderten, »ist ein Land auf vier Seiten von verschiedenen, unüberwindbaren Barrieren begrenztes Land. Im Osten und Westen ragen unwegsame Berge auf. Die Sümpfe im Norden kennt ihr ja schon. Und im Süden sind die trimorianischen Nebel – der Tod für jeden, der sie betritt.«

Ryan schauderte bei den unheilvollen Worten.

»Sind alle so groß wie du?«, wollte Aaron wissen.

»Aaron!«, schimpfte Ma.

Throll lachte. »Ist schon gut, Aubrey. Ich bin ungewöhnlich groß. Manch einer meint scherzhaft, ich hätte wahrscheinlich einen Oger in meinem Stammbaum. Ihr Rivertons entsprecht durchaus dem, was ich von einem gewöhnlichen Trimorianer erwarten würde. Obwohl es in den Bergen auch Zwerge gibt, und gelegentlich sieht man sogar den einen oder anderen auf dem Markt.«

»Zwerge?«, fragte Aaron.

»Oh ja«, bestätigte Throll. »Anständige Burschen, diese Zwerge, aber zumeist bleiben sie unter sich.« Er deutete nach Osten und fügte hinzu: »Und es heißt, dass Elfen in den Wäldern leben. Ich habe zwar selbst noch nie einen Elf gesehen, stoße aber gelegentlich auf Spuren.«

Ryan lachte bei dem Gedanken, sich in einer Welt mit Zwergen, Ogern und Elfen zu befinden. Es war, als wäre er in einem Fantasy-Roman gelandet.

»Was hast du noch mal über die Nebel gesagt?«, hakte Aaron nach. »Der Tod für jeden, der sie betritt? Aber wir waren im Nebel und sind nicht gestorben.«

Throll schüttelte den Kopf. »Ich habe damit die Nebel im Süden gemeint. Die Nebel in den nördlichen Sümpfen sind gewöhnliche Nebel. Aber im Süden ... Noch niemand, der hineingegangen ist, hat überlebt, um davon zu berichten. Ich weiß von mehreren gut ausgerüsteten Waldhütern, die in den Nebeln verschwunden und nie zurückgekehrt sind.«

»Das heißt nicht unbedingt, dass sie gestorben sind«, warf Jared ein. »Vielleicht haben sie nur einen Grund gefunden, nicht zurückzukehren.«

Throll schüttelte den Kopf. »Möglich, aber ich glaube es nicht. Diese Waldhüter hatten Familien. Für solche Männer wäre kein Grund ausreichend, um ihre Kinder im Stich zu lassen.«

Dad schaute zweifelnd drein, wechselte aber das Thema. »Du hast gesagt, du bist Protektor. Ist das so was wie ein Statthalter oder ein König?«

»Du schätzt mich zu hoch ein. Ich bin nicht adlig, ich beschütze lediglich die Bewohner von Aubgherle. Früher hatte Trimoria einen König, aber jetzt nicht mehr«, fügte Throll bedauernd hinzu. »Die königliche Familie ist vor langer Zeit ausgestorben. Was in Trimoria einem Herrscher am nächsten kommt, ist der Zauberer Azazel. Aber er lebt weit im Westen und behelligt uns hier selten.«

»Hast du ›Zauberer‹ gesagt?«, hakte Ryan nach. »Meinst du einen echten Zauberer, der richtige Magie wirken kann?«

Throll sah Ryan neugierig an. »Gibt es dort, wo du herkommst, etwa keine Zauberer?«

Ryan schüttelte den Kopf. »Nein. Nur in Märchen. Es gibt auch keine Magie. Nur Kartentricks, Taschenspielertricks und so. Keine echte Magie.«

»Deine Lichthand hat für mich wie echte Magie ausgesehen«, meinte Throll.

»Lichthand?« Ryan brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte. »Ach so. Aber das kann ich erst, seit wir hier sind. Und Aaron war vorher auch nicht so stark. Wo wir herkommen, gibt es keine Magie. Hier hingegen ...« Er blickte auf seine Hände hinab. »Hier gibt es sie wohl.«

»Oh ja«, bestätigte Throll. »Obwohl ich weder selbst viel an Magie bezeugt noch mit Leuten gesprochen habe, die ihrer gewahr geworden sind. Außer der Magie von Azazel. Und er ist kein freundlicher Zauberer. Es heißt, dass er eine gesamte Ortschaft mit magischem Feuer vernichtet hat. Es heißt auch, dass er die Macht besitzt, sich in die Gestalt eines Raben zu verwandeln, und dass alle schwarzen Vögel die Spitzel des Zauberers sind.«

Selbst die düsteren Worte des Waldhüters konnten Ryans Aufregung über ein Land, in dem es waschechte Magie gab, kaum dämpfen. »Kann man Magie erlernen?«, fragte er. »Oder besitzen manche einfach Magie und andere nicht?«

Throll hob die Hände. »Langsam, Junge. Eine Frage nach der anderen.« Er lächelte. »Ich weiß nicht, ob man Magie erlernen kann. Ich bin bisher nie jemandem mit magischen Fähigkeiten begegnet. Auch niemandem, der behauptet hat, jemanden mit solchen Fähigkeiten zu kennen. Außer Azazel natürlich. Und ich besitze keine, obwohl meine Frau oft meint, dass ich ihr Essen wie von Zauberhand verschwinden lasse.«

Er schmunzelte. »Aber ... in Azazels Turm lebt seit Jahrhunderten ein Zauberer. Manch einer behauptet, dass Zauberer ewig leben. Andere sagen, die magischen Fähigkeiten gehen vom Vater auf den Sohn über, und wenn ein Zauberer stirbt – an Altersschwäche oder durch den Verrat des Sohns –, tritt der Sohn die Nachfolge an. Aber in Wirklichkeit gibt es dafür keinerlei Beweise. Ich würde nicht mehr als ein Gerücht darin sehen.«

Throlls Miene verfinsterte sich. »Aber etwas weiß ich mit Sicherheit: Es gibt nur einen Zauberer in Trimoria. Und ich glaube nicht, dass sich das zufällig so ergeben hat.«

Ryans Augen wurden groß, als er begriff, was Throll damit sagen wollte. »Du glaubst, er ... bringt alle anderen um? Als würde er Konkurrenz loswerden wollen?«

Throll nickte mit ernster Miene. »Deshalb mein Rat, deine magischen Fähigkeiten für dich zu behalten.«

Danach verstummte Ryan. Sein Magen zog sich zusammen, während er geradeaus starrte. Magie gab es also wirklich. Er konnte sie wirken.

Und es könnte sein Tod sein.

* * *

Sie hatten das Grasland hinter sich gelassen und einen steinigen Pfad eingeschlagen, als Ma letztlich das Schweigen brach, in das sie sich bisher den ganzen Tag gehüllt hatte.

»Sag, Throll«, ergriff sie das Wort. »Ich hab gehört, dass du vorhin eine Ehefrau erwähnt hast. Habt ihr Kinder?«

Throll lächelte. »Ich habe eine Tochter. Sie ist 14 Jahre alt. Ich denke, deine Jungen werden sich gut mit ihr verstehen.«

»Keine Jungs?«, fragte Aaron unverkennbar enttäuscht.

Ma lachte. »Du weißt, dass du auch mit Mädchen auskommst, Aaron.«

Throll schaltete sich ein. »Würdest du dich besser fühlen, wenn du weißt, dass meine Tochter und ich uns regelmäßig heimlich aus dem Haus schleichen, um Bogenschießen zu üben? Aber sagt es nicht meiner Frau. Sie würde es für sehr undamenhaft halten.«

»Ich wette, ich kann sie im Bogenschießen schlagen«, prahlte Aaron.

»Keine Chance«, widersprach Ryan. »Du gewinnst ja nicht mal gegen mich.«

Aaron schleuderte ihm einen finsteren Blick zu.

»Ich kann’s kaum erwarten, deine Familie kennenzulernen«, sagte Ma.

»Ich denke, auch du und Gwen werden gut miteinander auskommen«, meinte Throll. »Sie ist eine kluge und schöne Frau. Keine Ahnung, warum sie sich in einen alten Stiefel wie mich verliebt hat. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich ein so liebreizendes Wesen wie sie nicht verdiene. Und sie ist gerade in anderen Umständen«, fügte er voll Stolz hinzu.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Ma. »Wie weit ist sie schon?«

»Im sechsten Monat, glaube ich. Den Großteil der ersten Schwangerschaft war ich nicht da, deshalb ist das alles neu für mich. Ich hoffe nur, dass sich beim Baden keine bösen Omen zeigen.«

»Beim Baden?«, hakte Ma nach.

»Ach ja. Das könnt ihr nicht wissen. In Trimoria gibt es vor jeder Ortschaft einen Brunnen, den eine natürliche Quelle speist. In der Mitte jedes Brunnens steht eine Statue des ersten Protektors, der die Arme mit einer Kugel hoch über den Kopf erhoben hält. Tatsächlich sind die Brunnen das einzig Bedeutende, was aus der Zeit des ersten Protektors erhalten geblieben ist. Der genaue Zweck der Brunnen ist in der Geschichte untergegangen. Was nicht verloren gegangen ist, steht in den Sockel jedes Brunnens gemeißelt:

›Bringt mir eure Neugeborenen, auf dass sie im Wasser dieses Brunnens gereinigt werden.‹«

Throlls Pferd wieherte, als wollte es Respekt zollen.

»Deshalb ist es zur Tradition geworden, jedes Neugeborene dorthin zu bringen, um es in den Wassern des ersten Protektors zu baden«, erklärte Throll.

»Was ist der erste Protektor?«, fragte Dad.

Throll schüttelte den Kopf. »Ihr kommt wirklich aus einer anderen Welt. Der erste Protektor gehört zu den meistverehrten Persönlichkeiten in der Geschichte Trimorias. Vor langer Zeit, vor mindestens 20 Generationen und wahrscheinlich mehr, hat sich das Volk von Trimoria zu einer epischen Schlacht gegen die Dämonenhorde versammelt. Die wackeren Kämpfer standen kurz vor einer verheerenden Niederlage, als der erste Protektor, ein großer Zauberer, seine Kräfte gegen die Dämonen entfesselte und das Land von ihnen befreite.«

Ryans Herz setzte einen Schlag aus. »Warte! Davon habe ich geträumt! Das war so seltsam, weil ich vorher noch nie im Leben auch nur an einen Dämon gedacht hatte. Aber ich habe die Schlacht gesehen, den Zauberer, alles!«

Throll wirkte nicht überrascht. »In Trimoria haben wir alle diesen Traum. Er dient zum Gedenken an die Opfer derer, die vor uns gelebt haben. Ich vermute, mit der Zeit werdet ihr alle diesen Traum haben.«

»Also wurden alle Dämonen besiegt?«, hakte Aaron nach.

»Die Schlacht wurde gewonnen, aber angeblich gibt es die Dämonen außerhalb der Barriere nach wie vor. Dafür sind die Nebel da. Sie sind Rückstände der vom ersten Protektor hinterlassenen Kräfte. Die Nebel schützen uns vor Dämonenangriffen.«

»Du wolltest uns von dem Baderitual erzählen«, erinnerte Ma den Waldhüter. »Du hast etwas von Omen erwähnt.«

»Richtig. In seltenen Fällen prophezeit der Brunnen Unheil für das Kind. Zuletzt vor fünf Jahren, als Lydia Hackenbeth ihr Neugeborenes gebadet hat. Ich habe selbst bezeugt, wie die Statue geleuchtet hat – und keinen Monat später ist das Kind in seinem Bett gestorben.« Throll schüttelte traurig den Kopf. »So ist der Lauf der Dinge. Wann immer der Brunnen leuchtet, stirbt das jeweilige Kind. Ihr könnt euch also bestimmt vorstellen, warum Gwen und ich besorgt sind.«

»Ich hätte entsetzliche Angst«, sagte Ma und legte dem Waldhüter die Hand auf die Schulter – oder zumindest so nah an die Schulter, wie es ihr angesichts seiner gewaltigen Größe gelang. »Kann man das Baderitual einfach auslassen? Besteht die Möglichkeit?«

»Daran haben schon viele gedacht«, antwortete Throll. »Aber Eltern, die sich vor ihrer Pflicht drücken, zahlen einen Preis ...« Kurz verstummte er. »Zu Zeiten meines Vaters hat sich eine Frau geweigert, ihr Kind zu baden. Sie hatte Angst vor dem Ritual, umso mehr, da ihr die Ruhr das erste Kind genommen hatte. Wenige Wochen nach der Geburt hat man sie in einer Ecke ihrer Hütte gefunden, wo sie weinend die Arme um sich geschlungen hatte. Als man sie befragen wollte, konnte sie nur unablässig wiederholen: ›Dämonen kommen. Dämonen kommen.‹ Also hat mein Vater das Kind selbst zum Brunnen gebracht. Beim Ritual gab es keine bösen Omen. Als er das Kind in die Kabine der Frau zurückgebracht hat, fand er sie zusammengerollt auf dem Boden vor, wo sie tief und fest geschlafen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass wir das Baden überspringen können.«

Eine Zeit lang herrschte Schweigen, während sie dem Pfad weiter folgten. Als Throll wieder das Wort ergriff, wirkte seine Stimmung heiterer, als hätte er die Sorgen, über die sie gesprochen hatten, mittlerweile hinter sich gelassen.

»Jared«, meinte er, »du hast gesagt, du kannst eine Klinge schmieden. Darf ich fragen, ob du je Rüstung hergestellt hast? Oder Hufeisen? Oder Nägel?«

»Nein, nein und nein«, antwortete Dad, ohne zu zögern. »Ich habe auch noch nie eine Klinge angefertigt«, fügte er hinzu. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es könnte.«

Throll wirkte enttäuscht – und verwirrt. »Aber du kannst Metall härten?«

»Ich habe zu Hause eine Schmiede«, erklärte Dad stolz. »Ich habe nur ... nie diese speziellen Gegenstände angefertigt.«

Throll nickte. »Mein Vater war Schmied. Ich könnte dir beibringen, wie man Gegenstände formt, die für die Bewohner der Stadt nützlich sein könnten.«

»Du meinst, du willst mich zum Schmied ausbilden?«, fragte Dad. Seine Aufregung ließ sich nicht übersehen. »Gibt es in deiner Stadt nicht schon einen?«

Der Waldhüter schüttelte den Kopf. »Wie es der Zufall will, ist unser Schmied vor fast einem Jahr gestorben. Ich bemühe mich, auszuhelfen, so gut ich kann, aber durch meine Pflichten als Waldhüter bin ich oft Tage am Stück unterwegs. Seine Witwe kann die Werkstatt nicht allein betreiben. Ich weiß, ihr wollt zurück nach Benson. Aber bis wir herausfinden können, wo das ist und wie man hingelangen kann, brauchst du eine Beschäftigung. Natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist.«

»Auf jeden Fall«, erwiderte Dad strahlend. »Ich mache alles, was gemacht werden muss.«

Throll sah Ryan und Aaron an. »Die Tradition sieht vor, dass deine Jungen mit dir in die Lehre gehen können. Vielleicht wären sie damit einverstanden, das Handwerk auch zu erlernen.«

»Spitze!«, rief Aaron.

Ryan verspürte weniger Begeisterung. »Sicher, ja«, sagte er leise. »Das wäre schon in Ordnung.«

»Was ist mit mir?«, fragte Ma.

»Gwen könnte dir beibringen, was man erwarten würde, dass du weißt«, sagte Throll. »Wie man Mahlzeiten zubereitet, sich um die Felder und Tiere kümmert, das Haus instand hält. Außer du bist mit all dem schon vertraut.«

Ma setzte eine mürrische Miene auf und gab sich keine Mühe, ihren Unmut zu verbergen.

* * *

Als sie einen Hügel erklommen, geriet die Stadt Aubgherle vor ihnen in Sicht. In Ryans Augen war sie nicht besonders groß – vielleicht ein paar Hundert Gebäude. Aber sie war umgeben von einer riesigen Fläche bewirtschafteter Felder.

»Mit ihm müssen wir uns etwas einfallen lassen«, meinte Throll und deutete auf Silver. »Wenn eine Sumpfkatze mitten durch die Stadt läuft, bricht Panik aus. Meint ihr, er würde sich eine Leine anlegen lassen? Um zu zeigen, dass er zahm ist und kein wildes Tier?«

»Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, meinte Dad.

Throll reichte Dad ein Stück Seil, das Dad zu einer Leine knotete. Dann näherte er sich damit Silver. Der Kater schnupperte daran, aber als es ihm über den Hals gestülpt wurde, schien er es nicht mal zu bemerken.

Dad tätschelte Silver den Kopf. »So weit, so gut. Jetzt versuchen wir mal, ob er sich auch damit führen lässt.«

Dad zog behutsam am Seil. Silver leistete nur einen Moment lang Widerstand, bevor er Dad gehorsam folgte. Es war, als wäre er seit seiner Geburt auf eine Leine dressiert worden.

»Braver Junge.« Dad lächelte.

Throll schüttelte den Kopf. »Eine zahme Sumpfkatze«, sagte er. »Das hätte ich nie für möglich gehalten.«

Mit Silver im Gefolge marschierten sie geradewegs in den Ort. Als sie sich mitten in der Stadt befanden, wirkte sie größer, erfüllt von Leuten, Leben und Geräuschen. Aus Gaststätten drang Musik, Händler feilschten mit Kunden, und während die Bewohner ihren täglichen Besorgungen nachgingen, tratschten sie eifrig. Es war auf Anhieb deutlich, dass es in dieser Stadt keine moderne Technik gab. In dem Moment dämmerte Ryan, dass eine Rückkehr nach Hause wohl aussichtslos war. Seine Familie und er waren mitten hinein in ein mittelalterliches Fantasiereich geraten. Mittlerweile würde ihn nicht mehr wundern, wenn ein Hobbit durch eine runde Türöffnung herauskäme und sie begrüßte.

Während sie die kopfsteingepflasterten Straßen entlanggingen, blieben viele Leute stehen und starrten sie an, wenn sie Silver erblickten – und kaum war die große Sumpfkatze an ihnen vorüber, verbreitete sich noch mehr Klatsch. Ryan hörte Gemurmel über die »gefährliche Bestie« und das »Haustier des Protektors«.

Sie setzten den Weg durch die Ortsmitte fort zum Stadtrand auf der anderen Seite, wo Throll sie zu seinem Haus führte. Es war größer als die meisten anderen, die Ryan gesehen hatte, und es besaß einen stattlichen Viehstall. Dahinter erstreckte sich weitläufiges Ackerland – er konnte nicht mal erkennen, wo es endete.

Eine unübersehbar schwangere Frau fütterte im Stall gerade Hühner. Als sie die Gruppe kommen sah, unterbrach sie die Arbeit und steuerte auf sie zu.

»Throll, du hellsichtiger Narr!«, rief sie. »Wie kommt es, dass du immer weißt, wann ich zu viel Essen für uns allein gekocht habe?« Ihre stirnrunzelnde Miene verwandelte sich in ein Lächeln. Dann lachte sie, packte ihren hünenhaften Ehemann und zog sein Gesicht auf ihre Höhe, damit sie ihm einen kurzen, aber innigen Kuss geben konnte.

Anschließend richtete sie die Aufmerksamkeit auf die Rivertons. »Mein Name ist Gwen Lancaster«, stellte sie sich mit einem breiten Lächeln vor. »Willkommen in Aubgherle.«

* * *

Azazel erzitterte auf seinem Thron aus Damantit. Er fand ironisch, dass flammendes Blut eines alten Dämonenfürsten ein Metall geformt hatte, das die Wärme aus allem saugte, das es berührte. Aber er schloss die Augen, verdrängte die Kälte aus den Gedanken und konzentrierte sich.

Sein Geist wanderte durch Zeit und Raum ... zu einer Begebenheit, die sich vor über fünf Jahrhunderten zugetragen hatte. Damals war er noch so unschuldig und nur von einem schlichten Wunsch beseelt gewesen: Magie zu erlernen und zu beherrschen. Ein junger Mann, ein Mensch, der sich auf eine gewöhnliche menschliche Lebenszeit gefreut hatte.

Dann jedoch geschah etwas Unerwartetes.

Der König – der später als der erste Protektor bekannt werden sollte – verbannte die Dämonen aus Trimoria. Azazel war an jenem schicksalhaften Tag dabei und kämpfte in der Schlacht. Die Dämonen waren zu stark und zu zahlreich. Wie seine Mitstreiter dachte Azazel, alles wäre verloren.

Und ohne den Retter des Volks, König Zenethar, wäre es das auch gewesen. Die Dämonen hätten die Welt überrannt. All ihre Bewohner wären abgeschlachtet worden.

Azazel erinnerte sich an das Licht, das die Dämonen verbrannt hatte, an die verhallenden Schreie und daran, wie Zenethar strahlend über sein Volk geblickt hatte. Aber danach ...

Schon viele Male hatte er versucht, aus dem Gedächtnis zu kramen, was als Nächstes geschehen war, doch es verblasste immer in verschwommenem Grau, verloren in den trüben Tiefen der Zeit. Tatsächlich setzte seine nächste Erinnerung erst Jahre später ein – bei seiner ersten Begegnung mit der legendären Königin der Elfen, der schönen Ellisandrea.

Jenen Moment hatte er deutlich vor sich. Er sah, wie sie die Hände auf seinen Kopf legte, wie sich ihre Lippen bewegten und lautlose Worte bildeten.

Dann verblasste auch diese Szene zu Grau.

Es war so frustrierend. Warum konnte er sich nicht an mehr erinnern? Es war, als wäre sein Gedächtnis fast vollständig gelöscht worden, bis es sich viele, viele Jahre später fortsetzte, zu einem Zeitpunkt, als es all die Leute, die er gekannt hatte, mit denen er aufgewachsen war, die er als Freunde bezeichnet hatte, längst nicht mehr gab und er bereits den Mantel als Fürst Azazel übergestreift hatte.

Da wurde er bereits gefürchtet. Wahrscheinlich auch verabscheut. Aber Angst genügte.

Er schlug die Augen auf. Gefürchtet wurde er immer noch. Auch wurde er Jahrhunderte später in seinem unnatürlich langen Leben nach wie vor verabscheut. Und doch beschützte er allein Trimoria. Es hatte Trimorias Wohl gedient, dass sämtliche Nachkommen König Zenethars, des ersten Beschützers, getötet worden waren. Die Zeit der Linie Zenethar war vorbei, die Zeit Azazels angebrochen.

Während Azazel auf seinem Thron über seine Erinnerungen an den König nachdachte, spürte er, wie Wut in ihm aufstieg. Eine Wut, die er nicht vernünftig erklären konnte. Vielleicht entstand sie aus Bedauern – darüber, dass es keine zu vernichtenden Nachkommen des Königs mehr gab. Niemanden, an dem er seinen gerechten Zorn auslassen konnte.

Eine große schwarze Krähe flog durch eines der Fenster hoch an den Wänden in den Turm. Sie hockte sich auf ihre Sitzstange neben dem Thron und krächzte wild, bevor ein einziges, klares Wort aus ihrem Schnabel drang.

»Aubgherle.«

Ein Lächeln breitete sich in Azazels Zügen aus.

Er gab einem Wachmann ein Zeichen, der wie eine Statue neben der Tür stand. Der Mann rannte herbei und kniete sich vor die Füße seines Herrn.

»Schick Botschaften an den Vertreter in Cammoria«, befahl Azazel. »Wir müssen uns eines weiteren Verräters entledigen.«

»Ja, Herr.«

Als der Soldat die Kammer fluchtartig verließ, verspürte Azazel einen kurzen Anflug von Schuldgefühlen. Doch dann setzten sich wieder die Worte der Elfenkönigin fest. Sie hatte irgendeinen Zauber gewirkt, das wusste er, aber der Zauber ... fühlte sich gut an. Ihre tonlosen Worte durchwirkten seine Gedanken, veränderten sie, wischten seine widersprüchlichen Gefühle weg. Sie erinnerten ihn daran, dass er der Besondere war.

Der einzige Zauberer.

Solange die Menschheit leben sollte, musste er dafür sorgen, dass er der einzige Zauberer blieb . Alle künftig geborenen Wesen, die über Magie verfügten, mussten ausgelöscht werden. So lautete ihr Befehl.

Und auf diese Weise erfüllte er lediglich ihre Anweisungen. Er war ein unbestreitbar gelehriger Schüler. Und eines Tages würden sie zusammen sein.

Trotzdem konnte er nicht umhin, sich zu fragen, warum ausgerechnet er für diese Rolle auserkoren worden war. Als Kind war er nicht besonders geschickt im Umgang mit Magie gewesen. Obwohl er hart an sich gearbeitet hatte, war es immer ein Kampf – manchmal ein demütigender. Daraus war eine Unsicherheit entstanden, die selbst nach all den Jahrhunderten noch in ihm nachhallte. Er fürchtete, ihm könnte die Stärke für die Ewigkeit fehlen. Ohne die stets beruhigende Präsenz der Königin in seinem Kopf hätte er wahrscheinlich längst alles beendet. Sie verkörperte sein Versprechen für die Zukunft.

Allerdings zeigte sie sich ihm nur noch so selten. Und nicht mehr in Fleisch und Blut wie früher, sondern nur noch in Form einer Erscheinung.

»Azazel«, hatte sie bei ihrem letzten solchen Besuch zu ihm gesagt. »Du hast deine Aufgabe noch nicht erfüllt. Das Ende ist nah. Wenn die Zeit gekommen ist und nicht alle anderen Zauberer von der Welt verschwunden sind, drohen dir schlimme Folgen.«

Die Worte der Elfenkönigin strotzten oft vor doppelten oder gar dreifachen Bedeutungen. In diesem Fall war es nicht anders. Azazel besaß nicht die Gabe der Voraussicht, daher vermochte er nicht zu sagen, was sie mit dem »nahen Ende« meinte. Ein Teil von ihm wünschte, es wäre der Tod, dem er so viele Jahrhunderte lang ein Schnippchen geschlagen hatte. Aber es steckte noch ein anderer Teil in ihm – ein Teil, der gegen all die Ungerechtigkeiten wütete, die er im Leben erlitten hatte. Dieser Teil hoffte, dass sie etwas Größeres meinte. Etwas Dunkleres.

»Was hat die Elfenkönigin gemeint?«, fragte er sich gedankenverloren.

Der am nächsten stehende Wachmann verneigte sich. Offenbar dachte er, die Worte wären an ihn gerichtet gewesen. »Es tut mir leid, Herr, aber ich verstehe die Frage nicht.«

Azazels Zorn schwoll wie von selbst an. Er scharte die dunkle Macht in sich, kostete ihren Kupfergeschmack und ließ sie wachsen. Und als die Dunkelheit drohte, alles zu verschlingen, entfesselte er sie auf den Soldaten in Form eines brodelnden Strudels aus Feuer und Funken.

Dann verließ Azazel die Wut so abrupt, wie sie über ihn hereingebrochen war. Die zerstörerischen Kräfte verschwanden. Von dem Wachmann blieb nur ein weiterer geschwärzter Fleck neben all den anderen auf dem Boden zurück.

Azazel lächelte.