Willkommen in Aubgherle

Throll erklärte seiner Frau rasch, wie die Rivertons in Trimoria gelandet waren und was sich seit ihrer Ankunft ereignet hatte. Ryan bemerkte, dass er bei der Zusammenfassung jede Erwähnung ihrer magischen Fähigkeiten ausließ.

Zu Ryans Erstaunen äußerte Gwen nicht die geringste Ungläubigkeit über ihre Geschichte. Als ihr Mann zu Ende gesprochen hatte, meinte sie nur: »Die Armen! Wir müssen ihnen ein paar gute Mahlzeiten auftischen.«

»Lass mich erst mit Sloane reden«, erwiderte der Waldhüter. »Sie soll wissen, dass wir Gäste haben.« Er wandte sich an die Rivertons und deutete mit dem Daumen zum Haus. »Bin gleich wieder da.« Damit lief er los.

Gwen drehte sich Ma zu und nahm sie an der Hand. »Ich bin froh, dass es euch hierher verschlagen hat«, meinte sie lächelnd. »Beim Essen haben wir viel zu besprechen.« Sie schaute zu Silver. »Ich kann nicht fassen, dass ihr eine Sumpfkatze gezähmt habt. Der Kater ist ein wunderschönes Geschöpf.«

Ma lächelte. »Manchmal kommt es mir eher so vor, dass er uns gezähmt hat. Aber er war ... kleiner, als wir ihn bekommen haben.« Sie sah sich um. »Das ist ein herrlicher Hof. Gehört euch das ganze Land?«

»Ja, wir haben großes Glück«, bestätigte Gwen erfreut. »Throll stammt aus einer Familie erfolgreicher Schmiede in Cammoria. Als er erwachsen wurde, besaß seine Familie hier bereits ein Grundstück. Und als der Hof an uns übergeben wurde, haben wir ihn ausgebaut.« Sie schaute zurück zum Haus. »Also, wir müssen nicht auf Throll warten, wer weiß, wie lange das noch dauert. Ist ja nicht so, als hätten wir noch nie Besuch gehabt. Gehen wir rein und kümmern wir uns darum, euch die Bäuche zu füllen.«

Gwen nahm die Zügel des Pferds und führte sie alle die Anhöhe hinunter in Richtung des Hauses, das viel zu groß für drei Personen wirkte. Es besaß zwei Geschosse und mindestens ein Dutzend Fenster.

Als sie sich näherten, kam Throll durch die Eingangstür heraus und marschierte ihnen entgegen. Er forderte seine Frau auf, schon mal hineinzugehen, und meinte, er würde das Pferd in den Stall bringen. Auch der Stall erwies sich als riesig – groß genug für eine ganze Herde von Pferden oder Kühen – oder was auch immer die Familie an Vieh unterhielt.

Andererseits, dachte Ryan, war er durch und durch ein Junge aus der Stadt. Tatsächlich handelte es sich um die erste Farm, die er in natura zu sehen bekam. Vielleicht waren Farmen einfach allgemein so. Er fragte sich, ob er lernen müsste, den Hof zu bewirtschaften. Würde sein Leben künftig so aussehen?

Dann jedoch fiel ihm wieder ein, was bereits beschlossen worden war – er würde mit seinem Bruder die Lehre zum Schmied beginnen. Wenn er zwischen Schmied und Bauer wählen müsste ... würde er sich weder für das eine noch für das andere entscheiden.

An der Eingangstür zum Haus blieb Dad stehen. »Wir müssen uns wohl überlegen, was wir mit Silver machen. Er ist, äh ... daran gewöhnt, mit uns im Haus zu leben.«

Gwens Augen wurden zwar groß, aber nicht vor Angst. »Dann muss er ja ziemlich zahm sein. Darf ich?« Sie streckte eine Hand in Richtung der großen Katze aus.

»Natürlich«, antwortete Dad.

Sie bewegte sich näher zu Silver und kraulte ihm sanft die Wange. Sofort ließ sich der große Kater auf die Seite plumpsen, womit er anzeigte, dass er am Bauch gestreichelt werden wollte.

Gwen lachte, und Ma bückte sich, um Silver den Wunsch zu erfüllen.

»Wenn er in eurem Haus willkommen ist, dann auch in unserem«, verkündete Gwen.

Ryan bemühte sich, keine Besorgnis zu zeigen. Silver war zwar ein gutmütiger Kater, aber nicht daran gewöhnt, weit über 100 Kilo zu wiegen. Zahm hin, zahm her, wenn seine verspielte Seite hervorkäme, würde etwas zu Bruch gehen.

»Sloane!«, rief Gwen ins Haus. »Warum bist du noch nicht da, um unsere Gäste zu begrüßen?«

Von drinnen ertönte eine gedämpfte Antwort. Ryan konnte die Worte nicht verstehen.

»Ich habe es satt, dass du dich alle fünf Minuten umziehst«, brüllte Gwen zurück. »Was auch immer du gerade anhast, es passt schon!«

Zur Antwort ertönte nur ein empörter Aufschrei.

Gwen sah Ma an und fuhr sich mit den Händen über den Bauch. »Mädchen können ganz schön anstrengend sein. Ich hoffe, da drin ist ein Junge.«

»Ich kann dir versichern, dass Jungs ihre eigenen Probleme mit sich bringen«, erwiderte Ma trocken.

Ein verlockender Duft wehte durch die offene Eingangstür heraus, und Ryans Magen knurrte.

Ma lachte. »Siehst du? Sie neigen dazu, mit dem Magen zu denken, bevor der Kopf nachziehen kann.«

»Mein Throll ist genauso«, sagte Gwen und zwinkerte. »Keine Sorge, Jungs. Sobald sich Sloane fertig angezogen hat, können ihr nach Herzenslust schlemmen.«

»Ich muss zugeben, was immer du kochst, es riecht fantastisch«, merkte Ma an.

»Danke.« Gwen strahlte übers ganze Gesicht.

Schließlich legte ein Mädchen, vermutlich Sloane, ihren großen Auftritt an der Tür hin. Sie hatte sich für ein geblümtes Kleid entschieden und sich das lange blonde Haar zu einem dicken Zopf zusammengebunden. Ohne die dramatische Schmollmiene, die sie ihrer Mutter präsentierte, wäre sie hübsch, ging Ryan durch den Kopf.

»Sloane«, sagte Gwen in herzlichem Ton, »bitte begrüß unsere Gäste, Jared, Aubrey, Ryan und Aaron Riverton. Und der Kater heißt Silver.«

Sloanes Augen weiteten sich beim Anblick des Tiers, aber sie trat offensichtlich eingeübt vor, knickste verlegen und errötete dabei leicht. »Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte sie. »Ich bin Sloane.« Dann umarmte sie nacheinander flüchtig alle Familienmitglieder und begrüßte sie namentlich. Unwillkürlich fühlte sich Ryan unbehaglich, als er an die Reihe kam. Sie war wirklich ziemlich hübsch, obwohl sie erst 14 war.

Sloane näherte sich Silver wesentlich zurückhaltender als zuvor ihre Mutter. Doch Silver ließ sich vorsorglich zu ihren Füßen auf den Boden plumpsen, entblößte den Bauch und stimmte ein lautes Schnurren tief aus der Brust an.

»Ich glaube, er mag dich, Sloane«, meinte Gwen. »Und er wird gern am Bauch gekrault.«

Zögernd fuhr Sloane mit der Hand über Silvers Bauch. Die große Katze streckte sich träge. Die Aufmerksamkeit gefiel ihr eindeutig.

Sloane schaute verzückt zu ihrer Mutter auf. »Er ist hinreißend!« Nachdem sie Silver ausgiebig gestreichelt hatte, richtete sie sich auf und stellte sich vor Ryan und Aaron. »Willkommen in unserem Haus. Vielleicht hättet ihr zwei Lust, mit reinzukommen und mir beim Tischdecken zu helfen.«

»Gern.« Aaron sauste an Sloane vorbei und verschwand im Haus. »Je eher wir den Tisch gedeckt haben, desto eher können wir essen!«, rief er zurück.

Ma vergrub das Gesicht in den Händen. »Tut mir so leid. Meine Söhne könnten eindeutig ein paar Lektionen in Sachen Höflichkeit von deiner Tochter vertragen.«

Gwen lachte nur. »Überhaupt nicht. Alle Kinder haben ihre eigenen ... Herausforderungen.« Sie warf Sloane einen vielsagenden Blick zu. Das Mädchen errötete erneut, bevor sie Ryan am Arm packte und hineinführte.

Trotz der Größe des Hauses von außen gab es keine weitläufige Diele, nur ein bescheidenes, mit Möbeln aus Holz eingerichtetes Wohnzimmer. Aber es ging offen in eine überaus beeindruckende Küche über. Größer als ihre Küche zu Hause, mit einem riesigen Holztisch in der Mitte.

Ryan und Aaron folgten rasch Sloanes Beispiel, nahmen Porzellanteller von einem Stapel und ordneten sie auf dem Tisch an. Außerdem legten sie Gabeln und Messer daneben, allesamt eindeutig handgeschmiedet. Die Gabeln wiesen nur zwei Zinken auf. Ryan platzierte sie bestmöglich neben den Tellern, stellte aber fest, dass jedes Mal Sloane hinter ihm her die Position korrigierte. Dabei kam von ihr keine Zurechtweisung. Stattdessen lächelte sie ständig und wirkte, als hätte sie Spaß. Das Lächeln musste wohl ansteckend sein, denn Ma kommentierte aus dem Wohnzimmer: »Ich hab euch zwei noch nie so gern den Tisch decken gesehen.«

Kaum waren sie fertig, kehrte Throll zurück. Er lud Dad ein, ihn in den Hinterhof zu begleiten, damit er ihm das Grundstück zeigen konnte. Gwen nahm Ma an der Hand.

»Wenn es dir nichts ausmacht, Aubrey, könnte ich ein bisschen Hilfe bei dem Braten gebrauchen.«

Ma lächelte unbehaglich.

Sloane setzte sich an den Tisch und bedeutete Ryan und Aaron, es ihr gleichzutun. Dann flüsterte sie: »Eure Mutter ist wohl in der Küche nicht so zu Hause, oder?«

Lächelnd schüttelte Aaron den Kopf.

»Mein Vater hat mir erzählt, dass eure Familie nicht aus Trimoria stammt«, fuhr Sloane fort. »Keine Sorge – er hat mir eingebläut, dass ich es niemandem erzählen darf, aber ... Macht’s euch was aus, wenn ich euch ein paar Fragen darüber stelle?«

»Ich wüsste nicht, was dagegenspricht«, erwiderte Ryan. »Es muss eben nur unter uns bleiben.«

»Also ... wo genau kommt ihr her? Euren Akzent habe ich noch nie gehört.«

»Wir kommen aus, äh ... Benson«, sagte Ryan. Natürlich hatten sie in Wahrheit weniger als einen Tag in Benson in Arizona verbracht. Aber den Ort hatte sich Throll gemerkt, deshalb hielt es Ryan für besser, nicht durch einen weiteren Namen unnötige Verwirrung zu stiften.

»Ja«, bestätigte Aaron. »Und wir wissen nicht mal, wie wir hier gelandet sind. Oder wo hier ist , um ehrlich zu sein. Irgendwie überrascht mich, dass ihr überhaupt unsere Sprache sprecht.«

Ryan runzelte die Stirn. Damit hatte Aaron nicht unrecht. Wenn es sich um eine völlig andere Welt handelte – worauf sich die Anzeichen verdichteten –, sollte sie wohl auch eine völlig andere Sprache haben.

»Na, egal«, meinte Sloane. »Vater hat mich für morgen von meinen üblichen Aufgaben entbunden, damit ich mit euch in die Stadt gehen und euch zeigen kann, wie wir hier leben.«

»Wann musst du zur Schule?«, fragte Ryan.

»Schule?«, gab Sloane zurück. »Du meinst, wann ich zur Lehre gehe? Oh Mann ... ihr Jungs seid wirklich nicht von hier. Mädchen gehen nicht in die Lehre. Mädchen helfen ihren Müttern bei der Hausarbeit. Sie lernen, wie man sich um Haus und Hof kümmert und eine gute Mutter ist.«

»Irgendwie glaub ich, dass Ma das ... nicht so prickelnd finden wird«, meinte Ryan lachend.

Er stellte fest, dass er sich in Sloanes Gegenwart entspannte. Sie war wie jede andere 14-jährige – nur eben von einem anderen Ort. Einem völlig anderen Ort.

»Wo lernst du Lesen und Rechnen und all so was?«, wollte Aaron von Sloane wissen.

»Gar nicht«, antwortete Sloane und klang dabei fast verlegen. »Die meisten Leute können nicht lesen und schreiben«, fügte sie rechtfertigend hinzu. »Aber mein Vater kann es. Er hat mir immer Geschichten vorgelesen, als ich kleiner war, und er hat mir beim Lesen die Buchstaben gezeigt. Deshalb erinnere ich mich ein bisschen daran. Warum? Könnt ihr lesen?«

»Ja«, antwortete Aaron. »Wir beide.«

Sloane wirkte noch beschämter. Offenbar handelte es sich um ein empfindliches Thema. Was Aaron anscheinend nicht mitbekam, denn er bohrte weiter.

»Und was ist mit Mathe?«, fragte er. »Kennst du ... kennst du dich mit Zahlen aus?«

Sloane runzelte die Stirn. »Meinst du, ob ich zum Beispiel weiß, wie viele Silber- oder Goldstücke es ergibt, wenn ich 100 Eier auf dem Markt für je ein Kupferstück verkaufe?«

Aaron nickte. »Das ist eine Art von Mathematik, ja.«

»Dann ja. So was mache ich jedes Mal, wenn ich auf den Markt gehe.«

Ryan lächelte. »Ich finde, deine Art von Rechnen ist viel praktischer als das Zeug, das ich lernen muss.«

Sloane belohnte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

Sie unterhielten sich noch ein wenig, bis Gwen und Aubrey große Teller mit Essen auf den Tisch stellten und die Eltern sich zu den Kindern gesellten.

Als alle Platz genommen hatten, fragte Aaron: »Kann ich vor dem Essen noch was sagen?«

»Natürlich«, erwiderten Gwen und Throll gleichzeitig.

Aaron stand tatsächlich auf, und Ryan wappnete sich für einen peinlichen Auftritt.

»Ich möchte mich bei Throll dafür bedanken, dass er meine Familie gefunden und uns hierhergebracht hat«, begann Aaron. »Ihnen möchte ich auch danken, Frau Lancaster.«

»Nenn mich Gwen und sag du zu mir«, gab sie zurück.

Aaron nickte. »Ich möchte mich also bei dir bedanken, Gwen, und bei dir, Sloane, und auch noch mal bei dir. Für die Einladung in euer Haus und dafür, dass ihr dieses feine Essen in diesem wunderbaren Haus mit uns teilt. Das werd ich nie vergessen.«

»Ja, danke«, fügte Ryan hinzu und schenkte allen ein verlegenes Lächeln. Das hatte Aaron unerwartet gut hinbekommen.

Ma lächelte stolz auf ihre beiden Jungs, und Ryan bemerkte, dass Gwen Tränen in die Augen traten. Sloane umarmte Ryan, was sich diesmal eindeutig weniger schräg anfühlte. Dann eilte sie um den Tisch herum und wiederholte es bei Aaron. »Ihr seid hier immer willkommen!«

Throll räusperte sich. »Junger Aaron, du und deine Familie seid uns herzlich willkommen. Sehr gern geschehen. Und jetzt ...« Er grinste. »Lasst uns essen!«

* * *

Nach dem Abendessen fühlte sich Ryan erschöpft. Alle hatten tüchtig geschlemmt und getrunken. Sogar Silver hatte die Keule irgendeines großen Tiers bekommen – wahrscheinlich die beste Mahlzeit seines Lebens und mit Sicherheit die größte.

Ryan konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen, und Aaron rieb sich die Augen. Gwen bemerkte es.

»Wir haben ein Gästezimmer, das ihr Jungs euch teilen könnt«, sagte sie. »Sloane, zeigst du es ihnen? Aubrey und Jared, ich führe euch zu eurem Zimmer.«

Sloane nahm die Jungen an den Händen und führte sie zum hinteren Ende des Erdgeschosses. Silver dackelte hinter ihnen her. Sie öffnete eine Tür zu einer Treppe, die nach unten führte, schnappte sich eine Laterne, drehte an deren Messingknauf und drückte ihn dann, bis ein Klicken ertönte. Der Docht entzündete sich, und die Laterne strahlte einen gelblichen Lichtschein ab.

»Hier lang«, sagte Sloane.

Sie gingen die Treppe hinunter in einen kalten Keller, und Ryan spürte, wie die Wärme aus ihm sickerte. Hier sollten sie schlafen?

Sloane bemerkte die Gesichtsausdrücke der Jungs und lachte. »Keine Sorge, ihr bleibst nicht im Kühllager. Euer Zimmer ist gleich dahinter.«

Im »Kühllager« stapelten sich Fässer und Säcke, während von den Dachsparren allerlei Fleisch hing. Letzteres fand Silver besonders interessant. Zum Glück beschränkte er sich darauf, nur zu schnuppern.

Sie durchquerten das Kühllager, gingen einen kurzen Korridor entlang und dann durch eine weitere Tür.

»Da sind wir«, verkündete Sloane vergnügt.

Viel gab es an dem Ort nicht zu sehen. Ein schlichtes Zimmer mit Wänden aus Stein, eingerichtet nur mit einem Bett mit Holzrahmen. Aber es war viel wärmer.

»Hier schlafe ich, wenn ich sauer auf Mama bin und allein sein will«, verriet Sloane. »Es ist sehr gemütlich. Und falls ihr Hunger kriegt – na ja, ihr habt ja all das Essen im Kühllager gesehen. Dort könnt ihr euch gern bedienen.«

Ohne Vorwarnung umarmte sie nacheinander Ryan und Aaron. Es ließ sich nicht übersehen, dass sie unheimlich gern umarmte.

»Schlaft gut«, wünschte sie ihnen und ließ die Laterne an einem Haken an der Wand zurück. »Ich wecke euch zum Frühstück. Normalerweise essen wir gleich bei Sonnenaufgang.« Damit ging sie und schloss die Tür hinter sich.

Die zwei Brüder sahen sich gegenseitig an.

»Tja«, meinte Aaron. »Schätze, wir teilen uns wohl ein Bett.«

»Na wunderbar«, gab Ryan zurück.