Ein Vorfall auf dem Markt

Beide Jungen schauten mit schlaftrunkenen Augen zu Sloane auf. Sie wirkte wie eine kleinere Version ihrer Mutter, wie sie mit den Händen an den schmalen Hüften ungeduldig mit dem Fuß auf den Steinboden klopfte.

»W-wie spät ist es?« Ryan stöhnte.

Sloane schüttelte ungläubig den Kopf. »Eine Stunde nach Sonnenaufgang, ihr Faulpelze. Ich bin schon seit fast zwei Stunden wach. Kommt jetzt, aufgestanden.«

Es war klar, dass sie nicht die Absicht hatte, zu gehen. Leider.

Widerwillig kämpfte sich Ryan auf die Beine. Aaron tat es ihm gleich. Noch im Halbschlaf stiegen sie beide hinter ihrer Gastgeberin her die Treppe hinauf.

Erst, als sie die Küche erreichten, bekam Ryans die Augen vollständig auf. »Ma?«, fragte er. »Was ... was machst du da?«

Seine Mutter und Gwen waren bereits auf. Beide Frauen kneteten weiße Teigklumpen.

Ma lachte. »Gwen bringt mir Kochen bei.«

Ryan und Aaron wechselten einen belustigten Blick.

»Das hab ich gesehen«, sagte Ma. »Ich bin nicht zu alt, um Neues zu lernen. Jetzt rüber zum Tisch und holt euch etwas zu essen. Sloane ist heute für euch zuständig. Tut, was sie euch sagt. Sie ist ein kluges Mädchen. Sie wird dafür sorgen, dass ihr euch aus Ärger heraushaltet.«

Ryan und Aaron wechselten einen weiteren Blick, diesmal deutlich weniger belustigt. Aber Ryan konnte hören, wie Sloane hinter ihnen kicherte.

* * *

Während Sloane die beiden Brüder eine Straße entlang in Richtung der Stadtmitte führte, verkündete sie ihre Pläne für den Tag. »Wir fangen damit an, ein paar Dinge zu kaufen, die wir für die Schmiede deines Vaters brauchen. Wir haben auch kaum noch Hühnerfutter. Normalerweise würde ich nur die Sachen besorgen, die wir brauchen. Aber Mutter und Vater haben mich gebeten, euch den ganzen Markt zu zeigen, also werden wir jeden Winkel erkunden. Das sollte lustig werden!«

Ihre Begeisterung klang aufrichtig. Ryan teilte das Gefühl nicht. Er ging nicht gern einkaufen.

Sloane schaute zurück zu Silver, der gehorsam an der Leine lief. »Es dürfte ... interessant werden, mit einer Sumpfkatze einkaufen zu gehen. Wir werden mit Sicherheit Aufmerksamkeit erregen. Aber Vater hat gesagt, es ist in Ordnung, also ...« Darüber wirkte sie leicht verunsichert.

Ryan erinnerte sich daran, was Ma darüber gesagt hatte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht hätten sie die Katze zurücklassen sollen. Aber nun war es zu spät.

»Wie kauft man hier etwas?«, fragte Aaron. »Benutzt ihr Geld oder macht ihr Tauschgeschäfte oder so?«

Sloane lachte. »Natürlich benutzen wir Geld.« Sie zog eine Kupfermünze aus einem Beutel an ihrem Gürtel und zeigte sie ihnen. »Und keine Sorge, ich weiß, dass ihr keines habt. Was immer wir kaufen, ich bezahle.«

Ryan fand, dass Sloanes Beutel nicht so prall mit Münzen gefüllt war, wie er in Anbetracht der großen Einkäufe, die sie erledigen sollten, gedacht hätte. »Bist du sicher, dass du genug hast?«

»Ganz sicher.« Sie tätschelte den Beutel. »Das ist nur für das Hühnerfutter. Die Sachen für die Schmiede bezahlt Vater bei der Lieferung. Ihr habt doch nicht etwa gedacht, wir würden alles selbst zurücktragen, oder? Wir haben ja nicht mal ein Pferd dabei.«

Für einen Ort, an dem es nicht mal Autos gab, erwiesen sich diese Leute als nicht so rückständig, wie Ryan zunächst angenommen hatte, das musste er zugeben.

Als sie zu dritt mit Silver das Gedränge auf dem großen Markt der Stadt betraten, hängte sich Sloane bei Ryan und Aaron ein und führte sie von einem Händlerstand weg, an dem sich drei Soldaten in schwarzer Rüstung aufhielten.

»Meidet die Männer in Schwarz«, flüsterte sie.

»Warum?«, flüsterte Ryan zurück. »Wer sind sie?«

»Azazels Leibgarde. Sie sind vor ein paar Tagen eingetroffen, halten die Leute auf und stellen alle möglichen Fragen.«

Ryan erinnerte sich daran, was Throll über Azazel und Magie gesagt hatte. Plötzlich erschien es ihm als Fehler, zum Markt gegangen zu sein. Und doppelt bereute er, dass sie Silver mitgenommen hatten. Sie trugen noch nicht mal trimorianische Kleidung. Jeder Kopf auf dem Markt drehte sich nach ihnen um. Mehr Aufmerksamkeit hätten sie selbst dann nicht erregen können, wenn sie es versucht hätten.

Aber als Sloane sie tiefer ins Geschehen des Marktes zog, spürte Ryan, wie seine Sorgen schwanden. Dieser Ort strotzte vor Eindrücken, vor Gerüchen und Geräuschen. Ryan atmete den Duft von frisch gerösteten Nüssen und penetranten Parfüms ein und lauschte den gellenden Rufen der Marktschreier.

»Gewürze zu verkaufen! Gewürze, die den Gaumen kitzeln und eure Gefährten im Schlafgemach auf Trab bringen!«

»Seidenstoff für deine Freundin, junger Mann? Dieser Stoff ist auf dem Webstuhl der Götter entstanden.«

Als sie weitergingen, fiel Aarons Blick ziemlich offensichtlich auf einen Stand, an dem ein Verkäufer verschiedene Gegenstände aus Metall verkaufte, darunter Schwerter und Dolche. Der Verkäufer bemerkte es und nutzte die Gelegenheit, einen möglichen Käufer zu umgarnen.

»Willkommen, junger Herr!«, grüßte er überschwänglich. »Ich kann mir vorstellen, dass einem strammen Burschen wie dir meine tödlichen Klingen gefallen. Damit vergießt du bei jedem Kampf auf jeden Fall das erste Blut.«

Bevor Aaron etwas erwidern konnte, trat Sloane vor ihn. »Der Vater meines Freunds ist der neue Schmied von Aubgherle. Seine Handwerkskunst übertrifft bei Weitem alles, was du hier hast. Meinem Freund ist lediglich aufgefallen, dass dein dürftiges Angebot eher verzweifelt nach hochwertigen Waffen aussehen möchte.«

Der Händler musterte Sloane abwägend. »Besitzt dein Freund keine Zunge, mit der er für sich selbst sprechen kann? Oder braucht er ein kleines Mädchen, das für ihn feilscht?«

Ryan holte Luft, um Sloane zu verteidigen, aber sie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Mein Vater hat mich gebeten, ihn zu vertreten«, gab Sloane kurz angebunden zurück. »Und da mein Vater für den neuen Schmied verantwortlich ist, bis er sich eingelebt hat, laufen alle Geschäfte über ihn. Das bedeutet, dass sie heute über mich laufen. Und ich sage, deine Ware ist minderwertig und keiner Überlegung wert.«

Ryan spürte, wie sein Mund aufklappte. Rasch schloss er ihn wieder. Er hatte noch nie gehört, dass jemand in ihrem Alter so mit einem Erwachsenen redete. Vielleicht wären Aaron und er wirklich besser damit bedient, zu schweigen und Sloane das Reden zu überlassen.

»Na schön, junge Dame«, sagte der Händler. »Wer ist dein Vater, damit ich mit dem Schmied entsprechend handeln kann?«

Sloane warf sich in die Brust. »Mein Vater ist Throll Lancaster, Waldläufer von Aubgherle und Generalprotektor von Trimoria.«

Die Augen des Händlers weiteten sich. »I-ich entschuldige mich für meine Unhöflichkeit, junge Dame«, stammelte er. »Das wusste ich nicht.« Er verbeugte sich vor Aaron. »Auch bei dir entschuldige ich mich, junger Herr. Ich werde mich mit dem Generalprotektor in Verbindung setzen und hoffe, mit dem neuen Meisterschmied ins Geschäft zu kommen.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Sloane um und führte ihre Gefährten die Straße hinunter.

»Wow, Sloane, das war echt beeindruckend«, meinte Ryan, während er sich durch die Menschenmassen drängte, um mit ihr Schritt zu halten.

Sloane schüttelte den Kopf. »Das war gar nichts. Dieser Händler muss neu in Aubgherle sein. Jeder, der schon länger hier ist, kennt mich vom Sehen und weiß, wer mein Vater ist.«

»Ich weiß, dass er der Protektor ist«, erwiderte Ryan. »Aber was genau bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass mein Vater für die Sicherheit der gesamten Stadt verantwortlich ist. Um Protektor zu werden, muss man viele Expeditionen von Waldhütern leiten. Man muss beweisen, dass man ein Mann von unerschütterlichem Mut ist und Geschick im Umgang mit Bogen und Schwert besitzt. In ganz Trimoria gibt es vielleicht 20 Männer, die sich Protektor nennen dürfen.«

»Wow«, sagte Aaron.

»Du hast ihn als ›Generalprotektor‹ bezeichnet«, ergriff Ryan das Wort. »Bedeutet das etwas anderes?«

Sloanes Augen funkelten. »Es bedeutet, dass mein Vater von allen Protektoren in Trimoria zu ihrem Anführer gewählt wurde.«

»Du meinst, Throll führt alle Waldhüter in ganz Trimoria an?«

Sloane nickte unübersehbar stolz. Bevor Ryan weitere Fragen stellen konnte, deutete sie auf ein Zelt mit offenen Wänden vor ihnen. »Da sind wir. Dieser Händler sollte bereits Vaters Bestellung haben. Wir müssen sie nur bestätigen.«

Vorn lag auf einem Tisch eine Ansammlung von Werkzeugen zur Metallbearbeitung – Zangen, Hämmer und andere Gegenstände, die Ryan nicht zuordnen konnte. Im Bereich dahinter türmten sich Haufen einer kohleähnlichen Substanz.

Sloane ging auf den Händler zu, einen runzligen alten Mann mit langem weißem Bart. »Mein lieber Ezra«, begrüßte sie ihn fröhlich. »Hast du die Bestellung meines Vaters für die neue Schmiede bekommen?«

Der Händler sah Sloane mit zusammengekniffenen Augen an, bevor sich seine Züge aufhellten, als er sie erkannte. »Ah, Sloane, meine Liebe!«, rief er. »Ja, ja, die Bestellung unseres feinen Protektors ist heute Morgen angekommen. Und ich habe alles entweder selbst auf Lager oder weiß schon, wo ich es zukaufen kann. Ich lasse meine Leute alles für die Lieferung verladen, während wir ...« Als sein Blick auf Silver landete, verstummte er mitten im Satz und kniff erneut die Augen zusammen. »Du meine Güte. Ich hatte heute schon das Gerücht gehört, jemand wäre mit einer zahmen Sumpfkatze unterwegs. Aber bis jetzt habe ich es nicht geglaubt.«

»Das ist Silver«, stellte Sloane vor. »Er gehört meinen Freunden.«

Aaron trat vor. »Ich bin Aaron, und das ist mein Bruder Ryan. Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Freut mich auch, sehr sogar, meine jungen Herren.«

Ezra betrachtete Silver noch einmal und schüttelte verwundert den Kopf, bevor er sich wieder an Sloane wandte.

»Sloane, Liebes, bitte richte deinem Vater etwas aus. Ich fürchte, das von ihm gewünschte Eisenerz war in der Menge ein bisschen teuer. Dafür konnte ich einen guten Preis für einen neuen Blasebalg für den Ofen aushandeln. Außerdem hatte ich die meisten Formen, die dein Vater wollte, schon auf Lager. Das hat die zusätzlichen Kosten beinah ausgeglichen. Selbstverständlich schicke ich mit der Lieferung eine umfassende Aufstellung mit.«

Sloane lächelte den alten Mann an. »Ich bin sicher, Vater wird zufrieden sein. Du bist immer sehr fair zu ihm, und er weiß das zu schätzen.«

Ezras Miene wurde ernst. »Weder ich noch mein Sohn werden je in der Lage sein, deinem Vater vollständig zu vergelten, was er für meine Familie getan hat. Das ist also wohl das Mindeste.«

Sloane umarmte Ezra, dann winkten sie zum Abschied und gingen weiter.

»Darf ich fragen«, sagte Aaron, als sie sich außer Hörweite befanden, »was dein Vater getan hat, dass der alte Mann so in seiner Schuld steht?«

Sloane zuckte mit den Schultern. »Viele Leute haben bei meinem Vater eine Blutschuld, obwohl er sie nie einlösen würde. In diesem Fall hat er Ezras Sohn vor ein paar sehr bösen Männern gerettet. Es ist Jahre her, mehr weiß ich deshalb nicht. Weder Ezra noch sein Sohn wollen darüber reden. Aber sie sind ehrenwerte Männer und behandeln uns wie Verwandte.«

In dem Moment stellte sich ihnen ein großer Junge in den Weg und sah Sloane mit einem anzüglichen Grinsen an. Er hatte einen fleckigen Teint und einen unregelmäßigen Bartflaum. Wichtiger jedoch war, dass er fast 1,80 Meter hoch aufragte und vermutlich um die 90 Kilo wog. Der Großteil sah nach Muskelmasse aus. An dem Gürtel an seiner Taille hing ein Knüppel.

»Hallo, Süße!«, sagte er. »Wer sind deine Freunde?« Er versetzte Ryan einen leichten Schubs.

Silver stimmte ein leises Knurren an.

Der Junge grinste verächtlich. »Meint ihr, ein zahmes Sumpfkätzchen kann mich verscheuchen?«

»Schenkt ihm einfach keine Beachtung«, flüsterte Sloane. »Er ist ein Unruhestifter.«

Sie wollte an dem Jungen vorbeigehen, doch er stellte sich ihr erneut in den Weg.

»Ich will nicht mit dir reden, Schneck«, fauchte sie. »Geh mir aus dem Weg!«

»Ich heiße nicht Schneck! Ich heiße Schling!«

»Ist mir egal, wie du dich nennst. Ich bin in Angelegenheiten meines Vaters unterwegs, also geh mir endlich aus dem Weg.«

»Weißt du« – Schlings Lippen teilten sich und entblößten vergilbte, schiefe Zähne – »ich finde, es ist an der Zeit, dass du erfährst, wie ein richtiger Mann ist, Sloane. Glaub mir, dann vergisst du meinen Namen nie wieder. Oh nein ... dann singst du die ganze Nacht lang Loblieder auf den großartigen Schling.«

Ryan hatte genug gehört. Er reichte Sloane die Leine, dann trat er zwischen sie und Schling. »Die junge Dame hat dich aufgefordert, sie in Ruhe zu lassen«, sagte er. »Und das meint sie durchaus ernst.«

Schlings Gesicht lief schlagartig hochrot an. Er ballte eine Pranke zur Faust und schwang sie direkt auf Ryans Kopf.

Sloane kreischte – unnötigerweise. Ryans jahrelanges Kampfsporttraining setzte ein. Instinktiv packte er Schlings Handgelenk und zog in die Richtung des Schlags, nutzte den Schwung des Rowdys gegen ihn. Gleichzeitig fegte er die Beine unter Schling weg, und der einfältige Ochse landete mit dem Gesicht voraus in einer Schlammpfütze.

Aaron brach in Gelächter aus, was den Rowdy nur noch wütender werden ließ. Schling rappelte sich aus dem Schlamm, zog die Keule von seinem Gürtel und schwang sie gegen Aarons Kopf.

Allerdings konnte Schling nicht ahnen, dass Ryan nicht als einziger Riverton die hehre Kampfkunst trainierte.

Aaron wehrte den Knüppel mit einer schnellen Handbewegung ab, bevor er Schling die Faust auf die Nase drosch. Mit einem durchdringenden Knirschen spritzte Blut in alle Richtungen. Schling taumelte rückwärts. Seine Augen rollten nach oben, und er brach erneut in den Schlamm zusammen.

Ein paar Schaulustige, die sich eingefunden hatten, um die Auseinandersetzung zu beobachten, schnappten erst nach Luft – und jubelten dann. Ryan fragte sich, ob sie alle diesen Schling kannten, oder ob sie einfach nur gern den Außenseiter anfeuerten und sehen wollten, wie der Größere verlor.

Sloane packte beide Brüder an den Armen und zerrte sie vom Geschehen weg. In einer Seitengasse blieb sie stehen. Ihr Kopf schwenkte hin und her, als wollte sie sich vergewissern, dass ihnen niemand gefolgt war. Dann drehte sie sich den beiden Jungen zu.

»Ich kann nicht glauben, was ihr zwei gerade getan habt!«

»Tut mir leid«, begann Ryan. »Ich wollte nur ...«

»Nein, nein, ich bin nicht wütend – ich freue mich! Der Trottel hat alles verdient, was er bekommen hat. Ich hatte nur Angst, ihr könntet verletzt werden.«

Ryan grinste. »Na ja, ich musste was tun, sonst wär die Aufgabe an Silver gefallen.«

»Du musstest was tun?«, warf Aaron ein. »Von wem ist denn der letzte Schlag gekommen?«

»Danke. Euch beiden«, sagte Sloane schnell, um einen Streit zu verhindern.

»Mich überrascht, dass dich überhaupt jemand so behandelt, wenn man bedenkt, wer dein Vater ist«, meinte Ryan. »Weiß das dieser Schling nicht?«

»Oh, und ob er es weiß«, erwiderte Sloane. »Es ist ihm bloß egal. Wahrscheinlich liegt sein Verhalten daran, dass sein Vater zu viel trinkt und ihn verprügelt. Das lässt er an jedem aus, an dem er kann.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Oh, ich kann’s kaum erwarten, meinem Vater davon zu erzählen.«

Ryan und Aaron wechselten einen nervösen Blick.

»Ist das in Ordnung?«, fragte Sloane. »Oder soll ich es ihm lieber nicht sagen?«

Ryan zögerte. »Es ist nur ... Aaron und mir wurde beigebracht, dass wir nur kämpfen sollen, um uns selbst oder unsere Familie zu verteidigen. Und du gehörst streng genommen nicht zur Familie.«

Sloane runzelte die Stirn. »Na ja, ihr habt gestern in unserem Haus übernachtet. Und werdet es heute wieder tun. Ich würde sagen, wir kommen dem am nächsten, was ihr in Trimoria an einer Familie habt. Findet ihr nicht?«

Ryan dachte darüber nach, dann grinste er. Aaron tat es ihm gleich.

»Ja«, erwiderte Ryan. »Ich denke, das zählt.«

* * *

Ihr letzter Halt an jenem Tag war ein Stand, an dem der Verkäufer getrockneten Mais in Säcke abfüllte.

»Zeit, euch den Unterhalt zu verdienen, Jungs«, sagte Sloane, nachdem sie drei Säcke Hühnerfutter gekauft hatte. »Helft mir, die nach Hause zu tragen.«

Ryan hob einen der großen Säcke mit Futter auf, der sich als ziemlich schwer erwies. Aber natürlich ergriff Aaron nicht nur seinen Sack mühelos, er winkte auch Sloane weg, als sie den dritten nehmen wollte, und bestand darauf, zwei Säcke allein zu tragen. Sloane wirkte recht erfreut, vielleicht sogar beeindruckt, was Ryan zum Schäumen brachte.

Sie hatten einen langen Tag hinter sich, und sie gingen größtenteils schweigend zurück zum Hof der Lancasters. Aber als sie eintrafen, blieb Sloane stehen und drehte sich um. »Mögt ihr Bogenschießen?«

»Ich liebe Bogenschießen!«, antwortete Aaron begeistert. »Dad geht mit uns ständig zum Schießplatz. Natürlich kann ich es besser als Ryan.«

»Hast du Wahnvorstellungen?«, herrschte Ryan seinen Bruder an. »Wer ist denn immer am nächsten am Schwarzen dran? Ich. «

Sloane streckte die Hände aus. »Schon gut, Jungs, kein Grund, gleich so zu wetteifern. Ich wollte nur wissen, ob ihr Lust habt, ein bisschen zu üben.« Sie senkte die Stimme, obwohl sich niemand in der Nähe aufhielt. »Meine Mutter weiß das nicht, aber Vater bringt mir auch bei, wie man sich mit einem Messer und mit dem Bogen verteidigen kann. Mama würde das nie gutheißen, also bitte verratet nichts.«

»Dein Geheimnis ist bei uns sicher«, versprach Ryan lächelnd. Er erwähnte nicht, dass ihr Vater ihnen bereits davon erzählt hatte. Vielleicht war es kein so großes Geheimnis, wie Sloane dachte.

Während die Jungen ihre schweren Säcke abluden, ging Sloane zu einem Schuppen und holte einen Bogen, einen Köcher mit Pfeilen und zwei Vogelscheuchen. Sie stellte die Vogelscheuchen in einiger Entfernung an zwei Bäumen auf und kehrte dann zu Ryan und Aaron zurück.

»Wir sind jetzt fünfzig Schritte von den Strohpuppen weg.« Sie hielt Ryan den Bogen hin und grinste. »Wenn du ins Schwarze treffen kannst, wie du gesagt hast, sollte es dir ein Leichtes sein, eine Strohpuppe in die Brust zu treffen.«

Zögerlich nahm Ryan den Bogen entgegen. »Äh ...« Er wünschte, er hätte nicht so geprahlt. »Na ja, ich, äh ... ich schätze, ich kann’s ja mal versuchen.«

Seine Hände zitterten vor Nervosität, als er einen Pfeil aus dem Köcher zog und an der Sehne des Bogens anlegte. Vorsichtig zielte er und spannte den Bogen. Er konzentrierte sich einen Moment lang auf das Ziel, dann entfesselte er den Pfeil.

Der Schaft zischte durch die Luft und schlug ins Knie der Strohpuppe ein.

Aaron lachte. »Tja, jetzt wird er wohl eindeutig humpeln.«

Ryan schmunzelte unwillkürlich. »Du glaubst, du kannst es besser, du Ass?« Er hielt seinem Bruder den Bogen hin. »Beweis es!«

Aaron nahm den Bogen entgegen und legte selbstbewusst einen Pfeil an. Er schloss ein Auge, konzentrierte sich auf dieselbe Vogelscheuche, spannte den Bogen und ließ den Pfeil fliegen.

Er geriet ein wenig hoch und zu weit links, wodurch er in einen der Arme der Strohpuppe einschlug.

»Oooh, das macht ihn bloß wütend«, witzelte Ryan. »Meiner kann mich wenigstens nicht verfolgen.«

Auch Aaron lachte, wenngleich er etwas verlegen dreinschaute.

Sloane trat vor. »Lasst mich mal versuchen.«

Als sie den Bogen an sich nahm und Haltung einnahm, stichelte Aaron: »Bist du sicher, dass du nicht ein bisschen näher ran willst?«

Sloane schnaubte zur Antwort nur. Anmutig legte sie einen Pfeil an, zog ihn an die Wange und verlor kaum Zeit, bis sie ihn abschoss.

Der Pfeil schlug mitten in die Brust der Vogelscheuche ein.

Quiekend klatschte Sloane in die Hände. »Ha! Ein feindlicher Strohmann weniger.«

»Toller Schuss, Sloane«, beglückwünschte Ryan sie.

Aaron murmelte zustimmend.

Sloane konnte nicht aufhören zu lächeln. »Na ja, ich hab schon einen Vorteil. Mein Lehrer ist der beste Bogenschütze der Stadt – natürlich meine ich meinen Vater. Und ... also, mir sind ein paar Sachen aufgefallen, die könnten euch helfen, denke ich. Wenn ihr sie hören wollt.«

»Was hab ich falsch gemacht?«, wollte Aaron wissen.

»Eigentlich habt ihr beide denselben Fehler begangen. Ihr habt gezielt, bevor ihr den Bogen gespannt habt. Vater hat mir beigebracht, dass es besser ist, zuerst zu spannen. Wenn man zuerst zielt, ändert es sich noch ein wenig beim Spannen des Bogens. Also nimm Haltung ein, zieh den Pfeil zurück – immer bis zur Wange –, und dann, wenn du den Pfeil entlangschauen kannst, zielst du richtig. Natürlich musst du vor dem Loslassen ein wenig die Entfernung berücksichtigen.«

Sloane hielt Ryan den Bogen hin. »Noch ein Versuch?«

Ryan nahm den Bogen, legte einen Pfeil an und zog ihn bis zur Wange zurück, bevor er mit zusammengekniffenem Auge den Schaft entlangspähte. Er zielte und hielt ein Stückchen vor, um die Entfernung auszugleichen. Dann ließ er die Sehne los.

Der Pfeil schlug nur wenige Zentimeter über dem von Sloane ein.

»Juhu!«, jubelte Ryan. »Und wieder beißt einer ins Gras. Na ja, eigentlich der gleiche noch mal. Aber jetzt ist er doppelt tot.«

»Das war großartig!«, lobte Sloane. »Jetzt du, Aaron.«

Ryan reichte seinem Bruder den Bogen.

»Atme einfach langsam ein und aus«, riet Sloane. »Und achte darauf, dass du den Pfeil zwischen zwei Atemzügen loslässt, nicht während du ein- oder ausatmest. Ob du’s glaubst oder nicht, das macht einen Unterschied.«

Aaron atmete ruhig und langsam ein und aus. Er zog die Sehne mit dem Pfeil an seine Wange, kniff ein Auge zusammen und schwenkte die Pfeilspitze leicht. Dann ließ er den Pfeil los. Sein Schuss schlug knapp unter dem von Sloane ein.

Aaron grinste von einem Ohr zum anderen.

Sloane klatschte aufgeregt in die Hände. »Was für ein toller Schuss! Seht ihr, Jungs? Der Rat meines Vaters hat geholfen!«

Aaron lächelte ungebrochen. »Können wir das noch mal machen?«

Während sich Silver in der Nähe fläzte, verbrachten sie die nächste Stunde mit Bogenschießen. Sloane gab weiter Tipps, die von den beiden Jungen gierig aufgesaugt wurden. Am Ende des Trainings brannte Ryans rechte Schulter vor Anstrengung.

Sloane beobachtete, wie er mehrfach mit dem Arm kreiste, um die Spannung darin zu lockern. »Ich hoffe, ihr seid nicht zu erledigt, um mir morgen bei meinen Hausarbeiten zur Hand zu gehen. Wenn ihr mir helft, werden wir vielleicht früh genug fertig, damit wir wieder hierher und weiter üben können.«

»Ich bin überhaupt nicht erledigt«, verkündete Aaron großspurig. »Ich helfe dir auf jeden Fall.«

»Dann kannst du wieder meinen Sack Hühnerfutter tragen«, erwiderte Sloane, »und ich führe Silver nach Hause.« Sie griff sich die Leine der großen Katze. »Allmählich gewöhne ich mich daran, eine Sumpfkatze in der Nähe zu haben.«

»Und ich glaube, ich gewöhne mich langsam an Hausmannskost«, sagte Aaron. Seine Augen funkelten. »Ich glaube, unsere Mütter haben heute Morgen an Pastetenteig gearbeitet.«

Während Ryan mit seinem Bruder und ihrer neuen Freundin lachte, staunte er darüber, wie sehr er sich bereits an das neue Leben gewöhnt hatte. Dieser magische Ort namens Trimoria fühlte sich schon beinah wie ein Zuhause an.