Zwei Welten prallen aufeinander

Für Ohaobbok schien ein Morgen nicht normal zu sein, wenn er keine Schwierigkeiten mit seiner Mutter bekam. Ohaobbok hatte sich immer für völlig anders als die anderen Mitglieder des Blutfaust-Clans gehalten. Vor allem konnte er mit der streitlustigen Natur seiner Brüder nichts anfangen. Er lehnte Gewalt rundweg ab – und aß zudem kein Fleisch. Aber er war erst neun Jahre alt und ziemlich klein für sein Alter. Wenn er die halsstarrige Lebensweise seines Clans in Frage stellte, knurrte seine Mutter in der Regel, versetzte ihm eine Ohrfeige oder einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten. Er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen – auf ihre Weise versuchte sie nur, ihm beizubringen, wie man sich benahm. In diesem Clan gehörten Gewalt und Grausamkeit schlicht zum Lauf der Welt.

So weit er zurückdenken konnte, hatte er sich immer aus dem Haus geschlichen, um sein besonderes Versteck aufzusuchen. Hinter seinem Dorf verlief ein schmaler Pfad, zu schmal für jeden anderen Oger, um ihm zu folgen. Aber durch seine geringe Größe – gerade mal sieben Fuß – hatte Ohaobbok nie Probleme, sich hindurchzuzwängen. Der gewundene, zerklüftete Pfad führte ihn durch den Berg zu einem ruhigen Ort, an dem er ungestört sein konnte, ganz zu schweigen davon, dass er seine Ruhe von den ständigen Kämpfen hatte, die er zu Hause miterlebte. An seinem Plätzchen wuchs ein großer Busch, an dem üppig seine Lieblingsbeeren gediehen.

Wenn meine Mutter mich jetzt sehen könnte, dachte er immer, wenn er auf seinem bevorzugten Felsbrocken saß und die leckeren Früchte genoss. Die anderen Mitglieder seines Clans würden niemals Beeren, Holzrinde oder gar Steine essen – es sei denn, sie wären am Verhungern und hätten kein Fleisch zur Verfügung. Aber Ohaobbok ekelte sich allein beim Gedanken daran, Fleisch zu essen, und das schon so lange, wie er sich erinnern konnte. Zuletzt hatte er einen Bissen davon genommen, als er ein Kleinkind war und seine Mutter ihn dazu gezwungen hatte. Damals schob sie ihm einen kräftigen Brocken Zwergenfleisch in den Mund und zwang ihn mit ihren riesigen Pranken zum Kauen und Schlucken. Ohaobbok wurde sofort speiübel. Seine Mutter schlug ihn und forderte ihn auf, ihr aus den Augen zu gehen, bevor sie vollends die Beherrschung verlieren würde.

An diesem Morgen hatte er wieder mal eine solche Tracht Prügel eingesteckt, was alles andere als ungewöhnlich war. Und wieder einmal hatte sich Ohaobbok an sein geheimes Plätzchen zurückgezogen. Aber es bereitete ihm nicht die übliche Freude. Stattdessen fühlte er sich beunruhigt. Er sorgte sich, weil er zum ersten Mal überhaupt Mühe dabei gehabt hatte, sich durch den schmalen Pfad zu quetschen. Demnach wuchs er – und es würde nicht mehr lange dauern, bis er zu groß wäre, um diesen Ort weiterhin aufzusuchen.

Verdrossen aß er Beeren und starrte auf die Zwerge hinunter, die etwa fünfzig Fuß tiefer eine Höhle bewachten. Sie bemerkten ihn nie, da sie selten nach oben schauten, und wenn doch, dann hielt er einfach still. Im Tageslicht ließ ihre Sicht zu wünschen übrig, vielleicht, weil sie so viel Zeit unter der Erde verbrachten.

Ohaobbok beobachtete die Zwerge gern. Sie faszinierten ihn. Mit einer Größe von nur etwa drei Fuß waren sie abgesehen von Waldbewohnern die einzigen kleineren Geschöpfe als er. Und die Vorstellung, so niedrig über den Boden aufzuragen, verwirrte und entzückte ihn zugleich. Außerdem waren sie ein fröhliches Volk und lachten oft. Unter Ogern, zumindest den Ogern seines Clans, war Lachen ausschließlich Spott vorbehalten. Aber es stand zweifelsfrei fest, dass die Zwerge unten am Höhleneingang miteinander lachten, nie übereinander . Für Ohaobbok etwas Merkwürdiges.

Da er schon mehr Zwerge gesehen hatte, als er an den Fingern und Zehen abzählen konnte – übrigens eine Fähigkeit, die seine Mutter ärgerte –, war Ohaobbok zu dem Schluss gelangt, dass in der Höhle oder in ihrer Nähe viele Zwerge lebten. Fast ständig kamen und gingen sie. Die langen, wallenden Bärte mancher wiesen auf fortgeschrittenes Alter hin, die kurzen, stoppeligen Bärte anderer auf ihre Jugend. Und in den Jahren, die er schon herkam, um die Zwerge zu beobachten, hatte Ohaobbok auch gelernt, ihre Sprache zu verstehen. Oger verständigten sich in der Regel nicht allzu wortreich – meist drückten sie sich aus, indem sie auf etwas zeigten oder schlugen. Auch in dieser Hinsicht unterschied sich Ohaobbok von den anderen seines Clans. Er beherrschte nicht nur seine eigene Sprache umfassend, mit viel Fleiß war es ihm sogar gelungen, eine andere zu erlernen.

An diesem Tag unterhielten sich die Zwerge wie üblich recht hitzig miteinander. Sie führten über alles Mögliche gern gutmütige Streitgespräche, sei es über die Stärke eines bestimmten Bierjahrgangs oder darüber, ob das Hammelfleisch beim Essen am Vorabend richtig zubereitet war oder nicht. Auch in Ohaobboks Clan wurde viel gestritten, allerdings völlig anders. Es ging dabei fast ausschließlich um den Besitz von Dingen und artete stets schnell in Gewalt aus.

Nicht zum ersten Mal wünschte Ohaobbok, er wäre als Zwerg geboren worden.

Während Ohaobbok zusah und lauschte, kam eine der kleinsten Zwerginnen, die er je gesehen hatte, aus der Höhle und sprach mit den davor postierten Wächtern. Er konnte das hauchzarte Stimmchen der Zwergin kaum hören und verlagerte ein wenig seine Masse, um sich über den Rand zu lehnen und zu hören, was sie sagte. Offenbar hatte er zugenommen – bevor er wusste, wie ihm geschah, spürte er, dass der Felsblock, auf dem er saß, unter ihm in Bewegung geriet. Er ruderte mit den Armen und versuchte, das Gewicht wieder nach hinten zu verlagern, doch es war zu spät. Mit einem lauten Knirschen rollte der Felsbrocken vorwärts, kippte über die Kante und stürzte hinunter auf die Lichtung vor der Höhle. Ohaobbok wurde hilflos mitgerissen.

Er war hart im Nehmen – das musste er nach all den Schlägen auch sein, die er im Lauf der Jahre eingesteckt hatte. Trotzdem fühlte er sich nach dem fünfzig Fuß tiefen Fall benommen und hatte Mühe, wieder zu Atem zu gelangen. Bevor er die sieben Sinne zusammensammeln konnte, bohrte sich ein Speer nicht weit von seinem Bein entfernt in die Erde. Er drehte den Kopf in Richtung der Höhle und stellte fest, dass die kleine Zwergin, die er davor gesehen hatte, in seiner Nähe stand.

»Du d-darfst dich nicht bewegen, sonst t-töte ich dich«, stammelte sie.

»Ich werde mich nicht bewegen«, versprach Ohaobbok leise.

Die Zwergin kreischte. »Es spricht!« Offensichtlich verängstigt rannte sie zurück zur Höhle. Allerdings versperrte den Eingang der Felsbrocken, der bis vor kurzem als Ohaobboks Lieblingsplatz gedient hatte. Dahinter drangen gedämpfte Stimmen hervor – Gebrüll der drinnen gefangenen Zwerge.

Immer noch erschüttert rappelte sich Ohaobbok langsam auf die Beine, dann wankte er in Richtung der Höhle los. Er versuchte, nicht bedrohlich zu wirken, allerdings überragte er selbst den größten Zwerg bei Weitem, und dieser Winzling fürchtete sich vor ihm zu Tode.

»Opa!«, schrie die Zwergin dem Felsbrocken entgegen. »Da ist ein Oger! Er wird mich fressen! Hilfe!«

Natürlich wollte Ohaobbok ihr nichts tun. Tatsächlich fühlte er sich beinah so verängstigt, wie sie aussah. Ihn hatte noch nie zuvor ein Zwerg gesehen, und er hatte sich immer davor gefürchtet, was sie von ihm denken würden. Nun wusste er es. Sie hielten ihn für eine Bestie, die sie fressen würde. Die Begleiter der Zwergin mussten vom abstürzenden Felsbrocken alle in die Höhle gedrängt worden sein.

Ohaobbok blieb stehen und setzte sich in der Hoffnung, sie nicht noch mehr zu erschrecken. Mit sanfter Stimme rief er ihr zu: »Kann ich dir helfen, Kleine?«

Das Gezeter der Zwergin verstummte, und sie starrte ihn ungläubig an. »Was hast du gesagt?«

Ohaobbok wiederholte die Worte langsam und vorsichtig. »Kann ich dir irgendwie helfen? Es tut mir leid, dass der Stein heruntergefallen ist. Das war ein Unfall.«

Statt zu antworten, murmelte die Zwergin etwas in den Spalt zwischen dem Felsbrocken und dem Höhleneingang. Auf ihre Mitteilung folgte ein Chor von Protestrufen. Doch die Zwergin achtete nicht darauf und schritt auf den Oger zu. Selbst im Sitzen überragte er sie deutlich.

»Ich bin Andrea Hammerwerferin«, stellte sich die Zwergin vor. »Mein Großvater ist Oberhaupt des Hammerwerfer-Clans. Dein Felsbrocken hat eine Höhle blockiert, die meinem Volk viel bedeutet. Außerdem hat er einige von uns darin gefangen. Wenn dein Angebot aufrichtig ist, wüsste ich zu schätzen, wenn du helfen könnten in Ordnung zu bringen, was du angerichtet hast.«

Ohaobbok bezweifelte zwar, dass er den großen Felsbrocken bewegen könnte, fühlte sich aber verpflichtet, es zumindest zu versuchen. »Mein Name ist Ohaobbok. Ich gehöre zum Blutfaust-Clan. Ich werd sehen, was ich tun kann.«

Damit stand er auf und untersuchte den Felsbrocken. Er war eindeutig zu groß, als dass er ihn ohne Werkzeug zu bewegen vermochte. Ob er einen Baum als Hebel benutzen könnte?

Während er grübelte, rief ein Zwerg von drinnen heraus. »Andrea, antworte mir! Geht es dir gut?«

»Andrea geht es gut«, antwortete Ohaobbok mit sanfter Stimme. »Ich versuche gerade, den Eingang zu räumen.«

Die Zwerge in der Höhle verstummten.

Ohaobbok wanderte ein Stück den Pfad hinunter und hielt Ausschau nach einem Baum geeigneter Größe. Andrea folgte ihm und musste praktisch rennen, um mit seinen langen Schritten mithalten zu können.

»Wohin gehst du? Ich dachte, du willst helfen!«, rief sie.

Ohaobbok lächelte. »Das will ich auch«, antwortete er schlicht.

Er fand einen Baum, der zugleich stark und dünn genug aussah, um die Aufgabe zu bewältigen. Es gelang ihm, die Wurzeln aus dem Waldboden zu lösen, dann kippte er den Baum mit einem kräftigen Stoß. Andrea beobachtete ihn, während er den Stamm von Ästen befreite, bevor er damit zu dem Felsbrocken zurückkehrte.

Mittlerweile drang aus der Höhle ein lautes Hämmern.

»Aufhören!«, rief er in den Spalt.

Sofort endete das Hämmern.

»Ich versuche jetzt mit einem Hebel, den Felsbrocken zu bewegen«, kündigte er an. »Könnt ihr mit aller Kraft gegen den Stein drücken, wenn ich es euch sage?«

Mehrere Stimmen riefen: »Aye!«

Mit Andreas Hilfe grub Ohaobbok ein kleines Loch in den Boden unter dem Felsbrocken und neben dem Höhleneingang. In der Nähe des Lochs platzierte er einen kleineren Stein, den er als Keil benutzte. Dann setzte Ohaobbok den Baumstamm an.

»Schiebt!«, brüllte er.

Gleichzeitig hievte er sein gesamtes Gewicht auf den Stamm. Das Holz ächzte und drohte zu brechen. Aber es hielt ... und der Felsbrocken geriet in Bewegung. Er drückte fester, während die Zwerge von der anderen Seite schoben, und plötzlich rollte der Felsbrocken vorwärts, durch den eigenen Schwung weiter als beabsichtigt. Am Ende holperte er den Pfad hinunter und verschwand außer Sichtweite – und Ohaobbok plumpste rückwärts aufs Hinterteil.

Ein halbes Dutzend bewaffneter Zwerge sprang aus der Höhle und sah sich wachsam um. Zwei stürmten zu Andrea, die anderen vier zu Ohaobbok, wobei sie mit den Speeren auf seine Brust zielten.

»Halt!«, rief Andrea. Sie rannte zwischen die Zwerge und den Oger. »Tut ihm nichts!«

Der größte der vier Zwerge, ein Mann mit einem langen roten Bart, ließ ein Knurren vernehmen. »Aber er hat gedroht, dich zu fressen! «

Andrea stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, hat er nicht . Ich hatte Angst, er könnte es tun, aber er hat nie damit gedroht.«

Ein anderer Zwerg mit in den Bart geflochtenen Glöckchen stampfte mit dem Fuß auf. »Das mag ja sein, aber er hätte uns fast umgebracht, als er uns den Felsbrocken auf den Kopf fallen gelassen hat.«

Andrea wich unmittelbar zu Ohaobbok zurück. »Er hat mir erklärt, dass es ein Unfall war, und ich glaube ihm. Er hat genauso überrascht ausgesehen wie wir. Er ist nicht wie andere Oger. Würde ich etwa vor einem gewöhnlichen Oger stehen, ohne zu befürchten, dass er mich schnappt und entzweibeißt? Abgesehen davon, wann habt ihr schon je einen Oger anders als durch Geheul oder Grunzlaute sprechen gehört?«

Ein stämmiger, älterer Zwerg mit grauem Bart richtete den Blick auf Ohaobbok. »Stimmt es, was sie sagt? Du wolltest den Bewachern der Höhle nichts tun?«

Ohaobbok wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Andrea Hammerwerferin sagt die Wahrheit. Was passiert ist, war ein Unfall. Ich wollte niemandem von euch etwas tun. Ich habe da oben auf einem Felsvorsprung gesessen. Tatsächlich sitze ich dort schon seit vielen Zeitenwechseln fast jeden Tag und beobachte euch Zwerge. So habe ich eure Sprache gelernt. Ich möchte ...« Kurz verstummte er. »Ich möchte ein Freund sein.«

Alle Zwerge außer Andrea zeigten sich verdattert.

»Das ist äußerst ungewöhnlich«, meinte der Graubart schließlich. »In meinen 120 Lebensjahren habe ich noch nie von so etwas gehört.«

Andrea trat vor und legte dem Graubart die Hand auf die Schulter. »Er ist aufrichtig und freundlich, Großvater. Wir können ihn nicht abweisen.«

Der alte Zwerg seufzte. »Na schön.« Er schaute zu Ohaobbok auf. »Dann hör mich an, Oger. Wenn du zustimmst, keinen Krieg gegen mein Volk zu führen, und bereit bist, uns in Zeiten der Not zu helfen, betrachten wir dich als Freund der Zwerge und gewähren dir sicheres Geleit durch unser Land.«

Ohaobboks Kehle fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an. Er konnte kaum atmen, und seine Augen wurden feucht.

Andrea schaute lächelnd zu ihm auf. »Macht dich das glücklich?«

Ohaobbok erwiderte das Lächeln. Seine Gefühle waren verwirrend. »Ich denke ... ich denke, das tut es.«

»Ich traue ihm nicht, Mattias«, sagte der rotbärtige Zwerg und spuckte auf den Boden zu seinen Füßen.

»Ich auch nicht«, kam von einem anderen Zwerg mit glockenförmigem Bart. »Wir dürfen einem Oger kein freies Geleit auf unseren Wegen gewähren. Ich hatte einen Vetter, der von einem seiner Leute gefressen wurde. Woher wissen wir denn, dass er nicht wie alle anderen ist?«

»Und selbst wenn er freundlich wäre «, fügte der Rotbart hinzu, »könnten wir ihn unmöglich mit ins Lager nehmen, ohne den Rest des Clans in Angst und Schrecken zu versetzen.«

»Und «, fügte ein anderer hinzu, »wenn wir einen Oger in unser Land lassen, wie sollen wir ihn von seinen gewalttätigen Brüdern und Schwestern unterscheiden? Für mich sehen sie alle gleich aus.«

Der Graubart namens Mattias nickte nachdenklich. »Wie immer habt ihr recht, meine Freunde. Wir brauchen eine Möglichkeit, um sicherzustellen, dass sich dieser Oger von seinesgleichen unterscheidet.« Er wandte sich an Ohaobbok. »Oger, hast du irgendwelche Vorschläge?«

Ohaobbok überlegte kurz. Dann kam ihm eine Idee. »Was, wenn ich violette Beeren auf meiner rechten Schulter zerdrücke? Sie würden einen Fleck hinterlassen. So könntet ihr mich von anderen Ogern unterscheiden.«

Mattias wirkte nicht überzeugt. »Wie können wir sicher sein, dass nicht ein anderer Oger dasselbe tut, um uns zu überlisten?«

Ohaobbok lächelte. »Ich bin der einzige Oger im Blutfaust-Clan, der diese Beeren auch nur anrührt . Niemand sonst würde sie sich auf der Schulter zermatschen.«

Mattias erwiderte sein Lächeln. »Dann ist das eine wunderbare Idee. Nun denn. Stimmen wir ab. Sind alle dafür, Ohaobbok als Freund der Zwerge zu betrachten, solange er den Frieden bewahrt und bereit ist, uns in Zeiten der Not zu helfen?«

Von den sechs Zwergen, die einen Halbkreis bildeten, antworteten fünf mit »Aye«. Alle außer dem Rotbart. Eine lange Weile schwieg er. Schließlich brummte auch er eher widerwillig: »Aye.«

Schwungvoll verneigte sich Mattias vor Ohaobbok. »Ich, Mattias Hammerwerfer, Oberhaupt des Hammerwerfer-Clans und oberster Vertreter des Häuptlingsrats, heiße dich, Ohaobbok vom Blutfaust-Clan, als Freund der Zwerge willkommen.«

Ohaobbok strahlte.

Mattias wandte sich an die anderen Zwerge. »Sagt euren Clans, dass sie auf diesen Oger achten sollen. Nicht vergessen: Wenn er einen violetten Fleck auf der Schulter hat, darf er nicht angegriffen werden.«

Die anderen Zwerge nickten, obwohl der Rotbart immer noch unglücklich wirkte.

Mattias drehte sich wieder Ohaobbok zu. »Dir muss klar sein, mein neuer Freund, dass es eine Weile dauern wird, bis die anderen Zwerge von dieser Vereinbarung erfahren. Deshalb halte ich es vorläufig für uns das Beste, wenn wir dich von unserem Gebiet begleiten.«

Ohaobbok nickte. »Das ist mehr, als ich je für möglich gehalten hätte. Schon seit einer Ewigkeit wollte ich deinem Volk näherkommen. Ich habe so viele Fragen. Man kann nicht alles daraus lernen, einen Höhleneingang zu beobachten.«

Mattias lachte. »Den Eingang einer Höhle? Dafür hältst du das?«

Ohaobbok zuckte mit den Schultern.

Mattias schüttelte den Kopf. »Es ist so viel mehr. Was du vor dir siehst, ist der Eingang zur Ruhestätte des ersten Protektors.«

Ohaobbok hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Aber er wusste, was eine Ruhestätte war. »Da drin ist jemand begraben?«

Mattias lächelte und schaute zu den anderen. »Lasst uns hier draußen essen«, schlug er vor. »Dabei können wir Geschichten aus vergangenen Tagen zum Besten geben.«

* * *

Die Zwerge entfachten ein Feuer und bereiteten eine beträchtliche Menge an Essen zu, das Ohaobbok nicht kannte. Es gab Wurzeln und Knollen, manche braun, winzig und rund, andere bunt und stabförmig. Besonders unappetitlich mutete etwas an, das wie ein kleines vierbeiniges Wesen aussah und auf einem Spieß briet. Zwei der Zwerge rollten unter dem Jubel der anderen ein Fass auf die Lichtung. Mattias zapfte das Fass an. Eine bernsteinfarbene Flüssigkeit ergoss sich daraus. Er füllte acht Becher.

Als das Feuer knisterte und die Sonne unterging, stellte Mattias einen großen Teller mit Essen vor Ohaobboks Füßen ab. »Bitte sehr, mein neuer Freund. Genieß die Gastfreundschaft des Hammerwerfer-Clans.« Er reichte ihm einen der Becher. »Tut mir leid, dass ich für das Bier keine Becher habe, die deiner Größe gerecht werden. Aber wie du dir vielleicht vorstellen kannst, hätte ich nicht gedacht, so etwas zu brauchen, als ich heute Morgen von zu Hause aufgebrochen bin.«

Ohaobbok bedankte sich bei Mattias und ergriff eine der Wurzeln von seinem Teller. Ihn überraschte, wie gut sie ihm schmeckte. Das Bier hingegen fand er bitter, und ihm behagte nicht, wie es sprudelte.

»Das nennt man Kartoffeln«, erklärte Mattias, während Ohaobbok aß. »Und das sind Karotten.«

Ohaobbok aß begeistert das Gemüse, mied jedoch das Stück Fleisch in der Mitte seines Tellers. Wie immer verursachte ihm der Gedanke, das Fleisch eines Tieres mit knusprig gebratener Haut und verkohltem Fett zu essen, ein mulmiges Gefühl. Stattdessen probierte er das Bier noch mehrere Male. Dabei stellte er fest, dass er umso mehr genoss, je mehr er davon trank.

»Magst du das Fleisch nicht?«, fragte Mattias nach einer Weile.

Ohaobbok überlegte sorgfältig, wie er darauf antworten sollte, denn er wollte seinen Gastgeber nicht verärgern. »Das Gemüse ist hervorragend«, erklärte er diplomatisch. »Ich habe noch nie Karotten oder Kartoffeln gegessen, finde sie aber köstlich. Auch das Bier schmeckt mir – zuerst nicht so, aber inzwischen genieße ich es.«

»Und das Fleisch?«, hakte Mattias nach.

»Es tut mir leid, Mattias, ich kann das Fleisch nicht essen. Es ist bestimmt hervorragend zubereitet, aber ich esse überhaupt kein Fleisch. Du kannst es haben, wenn du willst.«

Eine lange Weile starrte Mattias zu Ohaobbok hoch, und alle Farbe entwich dabei aus seinen Wangen.

»Was ist los?«, fragte Ohaobbok. »Ich hoffe, ich habe dich nicht verärgert. Meine Mutter wird immer stinkwütend, wenn ich mich weigere, Fleisch zu essen. Sie schlägt mich dann jedes Mal besonders heftig.«

Mattias schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund. Du hast mich nicht verärgert. Du erfüllst vielmehr eine Prophezeiung.« Er richtete sich zur vollen bescheidenen Größe auf und legte die Hände an den Mund, um sich an die kleine Gruppe zu wenden, die sich um sie herum laut miteinander unterhielten. »Alle mal still sein und zuhören. Die Tage des Erwachens sind angebrochen!«

Die plappernden Zwerge verstummten zu Totenstille. Damit hatte sich Mattias eindeutig ihre Aufmerksamkeit gesichert.

Und so schnell, wie sie verstummt waren, brachen die Zwerge in ein hitziges Streitgespräch aus.

»Großvater«, sagte Andrea und zupfte am Hosenbein des alten Zwerges, »was bedeutet das? Was sind die Tage des Erwachens?«

Mattias bedeutete allen, sich im Kreis zu versammeln. Ohaobbok setzte sich Mattias direkt gegenüber.

»Zur Zeit meines Ururgroßvaters«, begann Mattias, »waren die Zwerge von Trimoria an einem Kampf auf Leben und Tod gegen die Dämonenhorde beteiligt. Wir alle kennen die Geschichte, wie der erste Protektor die Dämonen vertrieben und Trimoria vor weiteren Angriffen abgeschirmt hat. Und wie wir alle wissen, ruht in dieser Höhle der erste Protektor. Weder lebendig noch tot. So wartet er auf den richtigen Zeitpunkt, um in die Welt zurückzukehren und zu beenden, was er begonnen hat.«

»Ist der Zustand des ersten Protektors der Grund, warum wir uns in unseren Träumen an seine Heldentaten erinnern?«, fragte Andrea.

Mattias nickte. »Aye, so ist es. Die Träume, die alle empfindungsfähigen Wesen in Trimoria empfangen, entstammen der nach wie vor lebendigen Macht des ersten Protektors. Wir erfahren seine Absicht durch die Worte der Prophezeiung.«

Der alte Zwerg räusperte sich. Er schien sich dafür zu wappnen, etwas auswendig Gelerntes vorzutragen. »Durch die Schlacht, die sich hat begeben, lebte der Protektor für sein Volk. Erst wenn der Protektor und seine Nachkommen sterben, wird er zurückkehren und beenden, was er begonnen. «

Ohaobbok hatte diese Worte noch nie gehört und fragte sich, was sie bedeuteten.

»An der Prophezeiung ist mehr dran, als den meisten bekannt ist«, fuhr Mattias fort. »Dieses Wissen wurde vom ersten Protektor selbst meinem Ururgroßvater anvertraut, der es an seinen Sohn weitergegeben hat, der an dessen Sohn, und schließlich habe ich es von meinem Vater erhalten. Ich dachte eigentlich, ich würde es erst kurz vor meinem Tod an meinen Sohn weitergeben, aber die Zeit ist gekommen, es zu enthüllen.«

»Warum jetzt?«, rief der rotbärtige Zwerg dazwischen.

Mattias lächelte seinen Freund an. »Weil der zweite Teil der Prophezeiung die Zeit und den Ort dafür offenbart.«

Wieder lehnte sich der alte Zwerg zurück und bereitete sich vor, eine auswendig gelernte Passage vorzutragen. »Zeichen werden die Rückkehr des ersten Protektors einleiten. Ein bescheidener Magier wird in Trimoria eintreffen, ein Mann mit wundersamen magischen Kräften. Seine Kinder werden beseelt von sowohl Magie als auch Macht sein. Der ältere Sohn des Magiers wird heranwachsen und die Truppen der Zauberer des Protektors gegen die Schergen des reinen Bösen anführen. Sein mächtiger jüngerer Sohn wird sich zum Anführer der Armee des Protektors aufschwingen. Dass die Zeit des Erwachens des ersten Protektors gekommen ist, wirst du wissen, wenn dich ein frommer Oger begrüßt, der kein Fleisch isst. Jener Oger wird als Beschützer in den Abgründen dienen, wenn wir uns dem reinen Bösen stellen. «

Ohaobbok spürte, wie sich alle Blicke erst auf ihn hefteten, dann auf seinen Teller – und das unangetastete Fleisch darauf.

Chaos brach aus. Alle redeten durcheinander. Als sich einer der Zwerge vor Ohaobbok kniete und mit tränenüberströmtem Gesicht etwas murmelte, verspürte Ohaobbok plötzlich eine Mischung aus Verwirrung und Panik. Aber Andrea trat neben ihn und stupste ihn sanft gegen den Arm. »Ich bin stolz darauf, dich Freund zu nennen«, flüsterte sie.

Mattias brachte sie alle mit einem schmetternden Hornstoß zum Verstummen. Der Laut schien den Wald ringsum zu erschüttern. Die zankenden Zwerge hielten sich die Ohren zu, als litten sie Schmerzen.

»Da es sich bei unserem Gast eindeutig um den Oger aus der Prophezeiung handelt«, sagte Mattias ruhig, »möchte ich mich zunächst bei ihm dafür entschuldigen, wie unhöflich wir ihn anfangs behandelt haben. Um jegliche Streitgespräche zu beenden, verkünde ich, dass dieser Oger, der ehrenwerte Ohaobbok vom Blutfaust-Clan, der in der Prophezeiung beschriebene Oger ist. Was habt ihr dazu zu sagen?«

Der Zwerg mit den in den Bart geflochtenen Glöckchen richtete den Blick mit zu Schlitzen verengten Augen auf Ohaobbok. »Oger, warum hast du nur das Gemüse gegessen, das man dir gegeben hat, und nicht das Fleisch?«

Ohaobbok zuckte mit den Schultern. »Ich finde Fleisch widerlich. Schon beim Gedanken daran wird mir schlecht. Meine Mutter und meine Geschwister schlagen mich immer wieder dafür, weil sie meine Abneigung für abscheulich halten.«

»Und dennoch hast du dein Verhalten nicht geändert?«

»Ich habe es versucht«, erwiderte Ohaobbok traurig. »Aber es klappt nicht. Ich habe festgestellt, dass ich nur Beeren und Rinde essen kann. Obwohl ich jetzt, da ich dieses Wurzelgemüse probiert habe, unbedingt herausfinden muss, wo es wächst.«

Der rotbärtige Zwerg schien den Tränen nah zu sein. »Du isst also überhaupt kein Fleisch?«

»Es ist mehr als das«, beharrte Ohaobbok. »Ich kann kein Fleisch irgendwelcher Art essen.«

»Mattias«, sagte der Rotbart, dem die Tränen mittlerweile über die Wangen liefen, »ich stimme mit dir überein, dass der Oger Ohaobbok der Oger aus der Prophezeiung ist. Auch ich möchte mich für mein Verhalten vorhin entschuldigen.«

Mattias kniete vor Ohaobbok nieder. »Ich bestätige dich als den Wächter aus der Prophezeiung und als Freund der Zwerge.«

Zu Ohaobboks Überraschung sanken auch die anderen Zwerge auf ein Knie und schworen ihm die Treue.

Mattias richtete sich als Erster wieder auf. »Ich würde dich ja einladen, dir die Höhle mit uns zu teilen. Aber es wäre schwierig für dich, sie zu betreten, und mit Sicherheit wäre es drinnen ziemlich unbequem für dich. Stattdessen sorge ich lieber für eine angemessene Begleitgarde, die dich wohlbehalten nach Hause führt.«

Ohaobboks Gedanken überschlugen sich vor lauter Neuigkeiten. Beobachter, Angreifer, Retter, Freund und nun auch noch Beschützer – und alles innerhalb eines Abends?

»Aber was ist mit der Prophezeiung?«, fragte Andrea. »Sollte er nicht bleiben, um die Rückkehr des ersten Protektors einzuleiten?«

Mattias schüttelte den Kopf. »Ohaobbok ist nur der Beginn der Prophezeiung. Der erste Protektor hat nichts darüber gesagt, wie lange es nach dem Erscheinen des Ogers bis zu seiner Rückkehr dauert. Es könnte ein Tag sein. Es könnte auch ein Jahrzehnt dauern. Niemand kann es wissen.«

»Ich möchte so oder so zurück, um ein paar meiner Habseligkeiten zu holen«, warf Ohaobbok ein. »Aber wenn es euch recht ist, würde ich nach heute Nacht gern unter eurem Volk leben. Ich fühle mich hier willkommener. Und wenn unsere Schicksale ohnehin miteinander verwoben sind, dann ...«

»Sag nichts mehr«, unterbrach ihn Mattias lächelnd. »Es wäre uns eine große Ehre, wenn du bei uns bleibst.«

* * *

Als der Mond in den Himmel stieg, folgte Ohaobbok seiner Begleitgarde einen Pfad entlang den Berg hinauf ins Gebiet des Blutfaust-Clans. Als sie einen großen Felsbrocken erreichten, hielten sie an.

»Wir treffen uns morgen früh hier«, verkündete der Anführer, »und begleiten dich zurück.«

Ohaobbok winkte zum Dank und setzte den Weg den Berg hinauf allein fort. Aber als er sich seinem Dorf näherte, entschied er, dass er lieber draußen schlafen wollte, als sich zur Hauptversammlung seines Clans zu begeben. Vorerst wollte er seine Leute lieber meiden. Am nächsten Morgen würde er sich in sein Haus schleichen und sich seine Siebensachen schnappen, ohne gesehen zu werden – und ohne sich dem unvermeidlichen Zorn seiner Mutter auszusetzen.

Ohaobbok fand eine Felsspalte unter einem Überhang und legte sich zum letzten Mal im Gebiet des Blutfaust-Clans zum Schlafen hin.

* * *

Er schlief länger als sonst. Der Stand der Sonne, als er erwachte, legte nahe, dass bereits der Vormittag angebrochen war. Er stand auf und trat den Weg zum Dorf an. Dabei bewegte er sich so leise und flink, wie es einem Oger möglich war. Ohaobbok rechnete zwar nicht damit, jemandem zu begegnen, denn der Großteil der Dorfbewohner jagte tagsüber. Er wollte nach Möglichkeit vermeiden, jemandem über den Weg zu laufen, der ihn vielleicht erkennen würde.

Zum Glück traf er auf niemanden und fand seine Hütte verwaist vor. Er steuerte schnurstracks in eine Ecke und hob den Stein beiseite, hinter dem er die glänzenden Gegenstände aufbewahrte, die er schon sammelte, seit er ein kleiner Oger war. Doch kaum hatte er den Stein wieder angebracht, hörte er hinter sich ein Geräusch.

Seine Mutter stand unmittelbar hinter ihm.

Mit ihrer Größe von zwölf Fuß und mehr als dem Doppelten seiner Masse ragte sie hoch über ihn auf. Und als sie an ihm schnupperte, trat blanke Wut in ihre Züge.

»Zwerg!«, brummte sie.

Ohaobbok hatte seine Mutter noch nie so zornig gesehen. Ihre Augen hatten sich blutrot verfärbt.

»Zwerg nicht essen?«, herrschte sie ihn an. »Ohaobbok Zwerg-Clan!«

Mit dieser Anschuldigung hob Ohaobboks Mutter ihn hoch und hielt ihn über ihrem Kopf. Vergeblich wand er sich in ihrem Griff. In der Vergangenheit hatte sie ihn geschlagen und getreten, aber sie hatte ihn noch nie so über ihren Kopf gehoben. Und während sie ihn aus der Hütte und aus dem Dorf trug, war Ohaobbok wie gelähmt vor Angst.

Mit gutem Grund. Denn noch bevor er die Absicht seiner Mutter erahnen konnte, erreichte sie mit ihm den Felshang, der das Tal unterhalb dem Gebiet des Clans überblickte. Und ohne ein weiteres Wort, nur mit einem letzten Grunzen, warf sie ihn in den Abgrund.