Die Sonne war gerade hinter den Horizont gesunken, als Ryan seiner Familie und Sloane die Straße entlang zum Haus der Lancasters folgte.
»Ryan«, sagte Dad, »morgen früh experimentieren wir beide mit diesem Blitzphänomen. Wir können in der Schmiede üben, wo wir geschützt vor neugierigen Blicken sind.«
»Aber was ist mit Throlls Rat über Magie?«, protestierte Ma.
Dad ergriff beruhigend die Hand seiner Frau. »Wir müssen verstehen, welche Fähigkeiten er besitzt, wenn er lernen soll, sie zu kontrollieren. Und wir wollen nicht, dass er sich verletzt – oder jemand anders.«
»Tja, eure Experimente macht ihr aber nicht ohne mich«, stellte Ma klar. »Falls dabei jemand verletzt wird, will ich zur Stelle sein, um zu helfen.«
Ryan sah, wie sein Vater Luft holte, um zu widersprechen. Dann huschte ein Ausdruck über seine Züge, der erahnen ließ, dass er es für klüger hielt zu schweigen. »Na schön.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte Aaron, hüpfte auf und ab und streckte die Fäuste in die Luft. »Das wird der Hammer!«
»Tut mir leid, Aaron. Du bist nicht eingeladen«, verpasste Dad seiner Begeisterung einen Dämpfer.
Aaron hielt im Schattenboxen abrupt inne. »Was? Wieso nicht? Das ist unfair! Ich bin derjenige, der gern in der Schmiede arbeitet! Warum muss ich zu Hause bleiben, wenn Ryan hindarf?«
»Ich sage ja nicht, dass du nie wieder zur Schmiede darfst. Nur morgen nicht, an Ryans erstem Übungstag. Es könnte gefährlich werden, und ich will nicht, dass dir was passiert.« Er wandte sich an Sloane. »Kann Aaron dir morgen früh bei der Hausarbeit helfen? Du musst dich für mich darum kümmern, dass er keine Dummheiten anstellt.«
Sloane zwinkerte Aaron zu. »Gern. Ich hab jede Menge Arbeit, bei der er helfen kann. Morgen pflügen wir das östliche Feld, um es für die Sommerernte vorzubereiten.«
»Na toll«, grummelte Aaron. »Noch mehr Wühlen im Dreck.«
»Wenigstens ist die Aussicht wunderschön«, gab Sloane kichernd zurück. »Das östliche Feld liegt unter den Bergen. Da gibt’s viel zu sehen.«
»Super«, brummte Aaron sarkastisch.
Sloane stupste ihn in die Rippen. »Kopf hoch. Du darfst den Ochsen lenken!«
Schlagartig hellten sich Aarons Züge vor hoffnungsvoll auf. »Einen Ochsen lenken?«
Sloane lächelte. »Das erkläre ich dir alles morgen früh.«
Sie erreichten das Haus und gingen hinein. Ryan stieg sofort der Duft von frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch in die Nase. Vorfreudig lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
»Throll ist noch nicht da, aber ich rechne jeden Moment mit ihm«, verkündete Gwen. Sie bearbeitete eine hölzerne Rührschüssel. »Sloane, hilf mir, den Tisch zu decken.«
Ryan eilte los, um Sloane zur Hand zu gehen, und seine Mutter steuerte zu Gwen, um ihr zu helfen. Dad blieb stehen und betrachtete den schimmernden Hammer aus der Schmiede, begutachtete ihn von allen Seiten.
Wenige Minuten später trat Throll ein. Abrupt hielt er inne und betrachtete mit hochgezogener Augenbraue den Hammer in Jareds Händen. »Zu dem Hammer gibt es bestimmt eine Geschichte.«
Dad lachte. »Eine lange sogar. Die sollten wir uns fürs Abendessen aufheben. Willst du vorerst das Ergebnis unseres Tagewerks sehen?«
Ryan wollte unbedingt Throlls Reaktion mitbekommen, also beendete er rasch seinen Teil beim Tischdecken, bevor er sich zu den Männern ins Wohnzimmer gesellte. Throll betrachtete die Tasche mit den von ihnen angefertigten Pfeilspitzen.
»Die sind perfekt!«, verkündete er glücklich. »Wie viele habt ihr gemacht?«
»Etwa 300.« Dad klang stolz.
Ryans Herz schlug schneller, denn als Nächstes überreichte sein Vater ihrem Gastgeber das in Leder eingewickelte Bündel. »Das ist ein Geschenk«, verkündete Dad.
Throll schaute überrascht drein, als er es entgegennahm. »Was ist es?«, fragte er.
Dad lachte. »Wo ich herkomme, ist es Tradition, dass man ein Geschenk einpackt, bevor man es einem Freund überreicht. Es ist auch Tradition, dass der Empfänger des Geschenks nicht fragt, was es ist, bevor er es auspackt.«
Throll grinste und begann, die Lederschürze zu entwirren. Als er die letzte Wicklung aufschlug, funkelte die neue Klinge im Schein des Feuers. Ein Ausdruck des Erstaunens trat in sein Gesicht.
»Das hast du heute gemacht?«, fragte Throll.
»Es war eine Gruppenleistung «, antwortete Dad und zeigte auf Ryan und Aaron. »Aber ja.« Er ging dazu über, das einzigartige Herstellungsverfahren zu erklären, das er benutzt hatte. Dabei betonte er, dass die Klinge äußerst widerstandsfähig und flexibel sein und zugleich ihre scharfe Schneide beibehalten würde. Er schilderte, wie er beim Probelauf mehrere Holzscheite in Stücke gehackt hatte.
Mit zweifelndem Blick prüfte Throll die Schneide des Schwerts mit dem Daumen. Dann schwang er es leicht, vermutlich, um die Ausgewogenheit zu prüfen. »Damit hast du tatsächlich Holzscheite gehackt? Bist du verrückt?«
Dad zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich wollte ausprobieren, was es kann.«
»Jared, mein Freund«, sagte Throll schmunzelnd, »du bist ein Genie. Ich habe noch nie ein vergleichbares Schwert gesehen. Es fühlt sich beinah lebendig in meiner Hand an.« Er schwang das Schwert noch ein paar Mal durch die Luft, bevor er sich setzte und es sich über die Oberschenkel legte. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Trotzdem schlage ich vor, dass du nicht alle Schwerter in derselben Güte anfertigst. Wenn du nur Waffen anfertigst, an die keine anderen in diesen Gefilden heranreichen, lenkst du zu viel Aufmerksamkeit auf dich. Außerdem würde mir zutiefst widerstreben, ein solches Schwert gegen mich oder unsere Familien gerichtet zu sehen.«
Dad nickte. »Das verstehe ich, und ich gebe dir recht. Ich kann bessere Schwerter als die meisten herstellen, die ich bisher in Trimoria gesehen haben, aber ohne die Eigenschaften, die das in deiner Hand besitzt.«
»In Trimoria haben wir ein Sprichwort«, verriet Throll lächelnd. »Wenn ein Schmied ein besseres Schwert anfertigt, kommen die Kunden wie von selbst.«
»Bei uns lautet es etwas anders«, erwiderte Dad und nickte, »aber es bedeutet dasselbe.«
»Gwen wird heute Abend wütend auf mich sein«, prophezeite Throll flüsternd, während er das Schwert auf seinem Schoß betrachtete. »Ich werde nämlich die halbe Nacht damit verbringen, dieses Prachtstück zu polieren.«
* * *
Am nächsten Morgen fuhren Aaron und Sloane mit einem mit Pfluggeräten und mehreren großen Säcken Saatgut beladenen Wagen zu den östlichen Feldern. Silver trabte hinter ihnen her – zumindest dann, wenn sich der Kater nicht von Insekten oder Schatten im Gras ablenken ließ.
Sloane plapperte während der Fahrt ununterbrochen. Bestimmt meinte sie es gut – sie versuchte, Aaron etwas über die Feinheiten der Landwirtschaft beizubringen. Nur der Großteil davon interessierte ihn einfach nicht. Das östliche Feld, so viel bekam er noch mit, war deshalb besonders fruchtbar, weil es am Fuß eines Bergs lag und die Regenfälle Mutterboden aus den Höhen herabbeförderten und auf dem Feld ablagerten. Aber danach blendete er Sloanes Worte größtenteils aus.
Er war erleichtert, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Sloane hopste vom Wagen und koppelte den Ochsen ab. Aaron half ihr, das Tier stattdessen vor den Pflug zu spannen. Mit seiner neuen Kraft erwies sich das Anbringen des schweren Geräts als Kinderspiel. Anschließend führte Sloane ihm die Kunst vor, ein Feld zu pflügen.
Aber als sie sich entfernte, ertappte sich Aaron dabei, wieder abgelenkt zu werden – diesmal von den hochaufragenden Felsen am anderen Ende der Felder. Er hatte noch nie eine so gewaltige Wand aus steilem Fels gesehen. Und während er den Anblick bewunderte, fiel ihm oben eine Bewegung ins Auge. Etwas war von den Felsen gefallen – und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er erkannte, dass es die Form eines Menschen zu haben schien.
»Sloane!«, brüllte er, doch sie befand sich zu weit entfernt, um ihn zu hören. Er rannte zu ihr los. Erst, als er sie eingeholt hatte, löste sie die Aufmerksamkeit vom Pflug.
»Was ist denn los?«
»Ein ... ein Mensch ...«, stammelte Aaron und eilte in vollem Lauf an ihr vorbei.
Außer Atem erreichte er die Stelle, an die er den Körper fallen gesehen hatte. Was er vorfand, ließ ihn jäh erstarren.
Es war tatsächlich ein Körper von dem hohen Felsen gestürzt, allerdings kein Mensch – die Gestalt war riesig. So groß wie Throll, aber derart massig und muskelbepackt, dass er wahrscheinlich doppelt so viel wog wie der hünenhafte Waldhüter. Der Kopf unproportional groß. Der Unterkiefer ragte mehrere Zentimeter so über den Oberkiefer, dass sich auch bei geschlossenem Mund die unteren Schneidezähne zeigten. Die Gestalt trug nur einen grob aus Lederteilen zusammengeflickten Kittel.
Aaron verspürte zugleich Traurigkeit und Angst. Traurigkeit, weil das Geschöpf tot war. Angst, weil es lebend mit Sicherheit gefährlich gewesen wäre. Ob es in der Gegend noch mehr davon gab?
Als Sloane zu Aaron aufschloss und sich neben ihn stellte, wagte er sich für einen genaueren Blick ein Stück vor. In dem Moment zuckte die Kreatur – nur ein wenig. Aaron schreckte zurück. Sloane entfuhr ein Aufschrei.
Aaron schaute zu dem Felsen hinauf. Er musste Hunderte Meter hoch sein. Wie sollte es möglich sein, dass dieses Geschöpf noch lebte?
Eine lange Weile verstrich, ohne dass der Körper einen Muskel rührte. Vielleicht war die Bewegung nur irgendeine Zuckung nach dem Eintritt des Tods gewesen.
Dann jedoch bewegte sich die Gestalt erneut.
Und diesmal war es mehr als ein Zucken.
Die Kreatur hob den Arm, erzitterte und stieß ein gequältes Stöhnen aus. Aaron spürte, wie sich ein mitfühlender Kloß in seinem Hals bildete. So groß und hässlich dieses Geschöpf sein mochte, er wollte es nicht leiden sehen.
Die Kreatur öffnete den Mund zum Sprechen, konnte jedoch zunächst kaum atmen. Als sie schließlich doch sprach, konnte Aaron die Worte nicht verstehen. Er überwand seine Angst, trat näher hin und beugte sich vor.
Die Kreatur flüsterte:
»Hilf mir ...«
* * *
Während des gesamten Wegs zur Schmiede klagte Aubrey über Übelkeit – eine Begleiterscheinung der Schwangerschaft. Sie kaute an einer Scheibe Brot und einem Stück Käse, was dagegen zu helfen schien. Allerdings bewirkte es wenig dabei, ihre Laune zu bessern. Wenn sie nicht über ihren Magen klagte, lag sie Jared wegen seiner Pläne in den Ohren.
»Du verbrennst ihn nicht noch mal, falls du das vorhast. Ist mir egal, ob ich ihn heilen kann – ich lasse nicht zu, dass mein Sohn mit Absicht verbrannt wird.«
»Ich hab nicht vor, ihn mit einem heißen Schürhaken zu piken, Aubrey«, brummte Dad, der ihrer Stimmung sichtlich überdrüssig wurde. »Aber was schlägst du vor, wie wir ihn dazu bringen sollen, dieses Phänomen zu wiederholen?«
Ma wandte sich an Ryan. »Hast du irgendwas gespürt , als der Blitz aus dir geschossen ist?«
Die Frage hatte Ryan bereits beantwortet. »Wie schon gesagt, ich hab gar nichts gespürt außer der Verbrennung durch die Zange.«
»Und gleich danach?«, bohrte Ma nach.
»Da war ich nur richtig müde, sonst nichts.«
Ma runzelte die Stirn. »Plötzliche Müdigkeit? Sie ist einfach über dich gekommen?«
Ryan kratzte sich am Kopf. »Ja, genau. Wie eine Flutwelle. Warum? War es bei dir auch so, als du mich geheilt hast? Bist du deshalb ohnmächtig geworden?«
Die Augen seiner Mutter leuchteten mit einer neuen Erkenntnis auf. »Es ist bei mir jedes Mal so, nur in unterschiedlichem Ausmaß. Als ich den Schnitt am Daumen deines Vaters geheilt habe, war es nur ein kurzes Aufflackern von Müdigkeit. Bei der Arbeit an deiner verbrannten Hand war das Gefühl viel stärker.«
»Hast du nicht gesagt, deine Mutter ist ohnmächtig geworden, als sie dich genäht hat?«, fragte Dad.
Ryan nickte.
»Das Gleiche ist Aaron passiert, nachdem er den Felsbrocken und den Baum hochgehoben hatte«, hielt Dad fest. »Anscheinend ermüdet ihr umso heftiger, je mehr Energie nötig ist, um eure Kräfte zu entfalten.«
»Ich weiß nicht, ob ›Energie‹ das richtige Wort ist«, warf Ma ein. »Es fühlte sich eher wie ... Konzentration an. Oder ...« Sie verstummte. »Oder wie Willenskraft. Es war, als müsste ich Willenskraft aufbieten, um die Wunde zu heilen. Vielleicht kontrolliert man diese Kräfte so.« Sie sah Ryan an. »Als du dich verbrannt hast, war deine Reaktion instinktiv. Aber ich wette, wenn du deine Willenskraft darauf konzentrierst, könntest du es wiederholen.«
* * *
In der Schmiede zündete Dad ein paar Kerzen an und öffnete die beiden hohen Fenster. Dann richtete er den Blick auf Ryan. »Nimm dir einen Erzbrocken und leg ihn nah zum Wasserfass. Das wird dein Ziel. Das heißt, sofern du auf etwas zielen kannst. Jedenfalls will ich Wasser zur Hand haben, falls du versehentlich etwas in Brand setzt.«
»Das ist ein beruhigender Gedanke«, fand Ryan. Er fühlte sich ein bisschen wie ein Versuchskaninchen, als er gehorsam einen Erzbrocken aus dem Vorratsbehälter nahm und ihn etwa einen Meter vom Fass entfernt auf den Boden legte. »Okay. Was jetzt?«
»Konzentrier dich auf den Stein«, sagte Ma. »Ich weiß nicht, was bei dir der Auslöser ist. Bei mir ist es so, dass ich ... mir einfach die Heilung der Wunde wünsche. Vielleicht denkst du einfach daran, Energie zum Ziel fließen zu lassen«, schlug sie vor.
Ryan holte tief Luft und starrte den Stein an. Eine geschlagene Minute lang stellte er sich vor, wie Energiewellen aus seinen Fingern strömten. Aber nichts geschah. Das alles schien gewaltige Zeitverschwendung zu sein.
»Woran denkst du gerade?«, wollte Dad wissen.
Ryan ließ die Schultern hängen. »Ich hab versucht, was Ma gesagt hat. Mir vorgestellt, dass Energiewellen von mir zum Felsen strömen.«
Dad kaute auf der Unterlippe. »Vielleicht sind Emotionen nötig. Denk doch mal an einen Blitz, der den Stein mit seinem Einschlag zerstört. Oder du könntest dir vorstellen, dass der Stein der Junge ist, der dich angegriffen hat.«
Ryan versuchte es erneut. Diesmal stellte er sich vor, der Stein wäre Schneck. Aber immer noch tat sich nichts, abgesehen davon, dass sich Schmerzen in seinem Genick anbahnten. Ohne den Druck des unerschütterlichen Blicks seines Vaters hätte er es aufgegeben.
Ryan beschloss, es anders zu versuchen, und malte sich seinen Bruder in Gefahr aus. Er stellte sich vor, wie Aaron von Schneck angegriffen wurde. Bei dem Gedanken flammte Wut in ihm auf, und plötzlich brach eine Barriere in seinem Inneren. Ein kontrollierter Blitz aus bläulich-weißem Licht zuckte von seinen Fingern und schlug in das Erz ein. Gleich darauf ließ ein gewaltiger Donnerschlag die Wände erzittern.
Beißender Rauch füllte die Schmiede aus, und seine Eltern begannen zu husten.
»Tja ... das hat funktioniert«, kommentierte Dad. Er goss Wasser über das schwelende Erz, dann prüfte er mit dem Finger die Hitze des Metalls. »Ich glaube, wir machen Fortschritte.«
Ryan konnte nicht fassen, was er getan hatte. »Und ob! Das muss ich noch mal probieren!«
»Wie fühlst du dich?«, fragte Ma mit besorgt geweiteten Augen.
»Großartig«, erwiderte Ryan und hopste von einem Fuß auf den anderen. Da er diese Barriere in sich nun gespürt hatte, glaubte er zu verstehen, wie er sie kontrollieren konnte. »Ich schaffe das noch mal! Ich weiß , dass ich’s kann.«
Dad schmunzelte. »Dann mal los. Aber hör auf, wenn du zu müde wirst.«
»Und sei vorsichtig, ja?«, fügte Ma hinzu.
»Natürlich«, versprach Ryan. »Okay, los geht’s.«
Er atmete langsam ein und aus, konzentrierte sich dabei auf das Erz. Aber statt zu pressen wie zuvor, entspannte er sich und ließ die Barriere sinken. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich Ergebnisse zeigten – ein knisternder Strang aus Energie. Licht und Rauch breiteten sich im Raum aus.
Dad lachte, als er Wasser darauf goss, was von dem Erz noch übrig war. »Du kommst schnell voran! Mal sehen, wie weit du damit gehen kannst.«
»Jared!«, mahnte Ma. »Du sollst ihn nicht überfordern.«
»Schon gut, Ma«, beruhigte Ryan sie. »Ich gebe Bescheid, wenn’s mir zu viel wird, versprochen.« Tatsächlich verspürte er leichte Müdigkeit, fühlte sich aber immer noch stark. Vielleicht lag es schlicht an der Aufregung darüber, dass er allmählich lernte, wie er seine Fähigkeiten nutzen konnte.
Mit Ryans Hilfe stellte Dad den Schmelztiegel neben das Wasserfass und füllte ihn mit Erz. »Jetzt möchte ich deine Kontrolle ausloten«, erklärte er. »Meinst du, dass du diesmal nur ein bisschen Energie entfesseln kannst? Keine weitere Explosion. Nur ein Träufeln.«
Ryan runzelte die Stirn. »Ich denke schon. Ich glaube, ich weiß, wie ich den Strom einengen kann. Indem ich ihn mental nur leicht anzapfe.«
»Was auch immer funktioniert. Aber geh ein Stück zurück. Ich will nicht, dass Erz auf dich spritzt.«
Ryan ging ein paar Schritte zurück und konzentrierte sich erneut. Er spannte die Körpermitte an und stellte es sich beinah so vor, als würde er ein Pferd vom Galoppieren abhalten. Und dann malte er sich aus, wie er Energie entsandte, um das Erz zu berühren.
Fast sofort schlängelten sich mehrere knisternde Ranken von seiner Hand zum Erz im Schmelztiegel. Und sobald er die Konzentration aufgab, verschwanden die Ranken.
Ryan strahlte. »Ich hab’s geschafft!«
»Das war erstaunlich«, lobte Dad grinsend. »Und viel angenehmer für die Ohren.«
Ryan und sein Vater traten zum Schmelztiegel. Das Erz erwies sich als unversehrt, aber der Haufen der Steine strahlte Hitze ab, und einige glühten rot.
»Falls uns je der Brennstoff ausgeht, weiß ich, an wen ich mich wende«, sagte Dad.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Ma und legte Ryan eine Hand auf die Stirn. »Wie sieht’s mit der Müdigkeit aus?«
»Allmählich fange ich sie eindeutig an zu spüren«, gestand Ryan. »Eigentlich konnte ich sie schon spüren, während ich es getan habe. Es war, als würde meine Energie mit dem Blitz aus mir entweichen.«
»Aubrey, gib ihm was zu essen«, schlug Dad vor.
Ma reichte Ryan den Rest des Käses, an dem sie geknabbert hatte, und er verschlang das Stück hungrig. Bereits nach wenigen Bissen spürte er, wie sich Wärme in ihm ausbreitete.
»Wow. Ja, ist schon viel besser.« Er nahm einen größeren Bissen. »Ich ... ich kann fühlen , wie die Kalorien meine Energie aufladen.«
»Das ist logisch«, meinte Dad. »Du verbrauchst Energie, wenn du ... diese Sache machst. Diese Fähigkeit zapft die Batterie deines Körpers an, wenn man so will. Und Nahrung lädt sie wieder auf. Vermute ich jedenfalls. Ich würde die Hypothese gern auf die Probe stellen.«
Ma schüttelte den Kopf. »Mein Ehemann, der Schmied und Techniker, experimentiert mit meinem Erstgeborenen. Na toll.«
Die nächste Stunde lang führte Dad mit Ryan verschiedene Versuche durch. Ryan stellte fest, dass er mit etwas Übung präzise kontrollieren konnte, wie viel Energie er auf ein Ziel entfesselte. Bestimmte Aufgaben, beispielsweise das Versengen eines zahnstochergroßen Holzsplitters, verbrauchten fast gar keine Energie. Andere, wie das Erhitzen eines Stücks Erz auf dem Boden des Wasserfasses erforderten einen dicken, steten Energiestrang, der Ryan völlig erschöpfte.
Aber jedes Mal, wenn er sich ausgelaugt fühlte, half ihm Essen wieder auf die Beine. Zum Glück hatte Ma jede Menge davon mitgebracht. Nach einem Experiment, während Ryan gerade an einem der winzigen trimorianischen Äpfel aus ihrer Tasche knabberte, meinte er dazu: »Mensch, Ma, du hast ja genug Essen für eine ganze Armee da drin.«
Ma lief rot an, und ihre Hände wanderten instinktiv zu ihrem Bauch. »Ich war hungrig, als ich gepackt habe. Außerdem seid ihr Jungs eh ständig am Essen.«
»Ist ja auch gut, dass du genug mitgebracht hast, Schatz. Wir haben heute viel gelernt«, hielt Dad fest. »Aber etwas ist mir immer noch unklar: Warum hat der Hammer am Ende geschimmert? Du hast heute alles Mögliche geblitzt. Und obwohl wir viel Dampf, ein paar Brände und eine kleine Explosion hatten, ist es nie zu einem dauerhaften Leuchten gekommen.«
Ma runzelte die Stirn.
»Was ist?«, fragte Dad. »Hast du eine Idee?«
»Na ja ...« Ma zögerte. »Ich will fast nicht darauf hinweisen, aber ... der einzige Unterschied, der mir einfällt, ist, dass du den Hammer gestern in der Hand hattest, als er getroffen wurde.«
Dad wirkte beeindruckt. »Du hast recht! Ich glaube, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Und jetzt lässt du unseren Sohn etwas in deiner Hand blitzen«, murmelte Ma. »Ich hätte nichts sagen sollen.«
Dad grinste. »Wir sind vorsichtig.« Er schnappte sich ein Stück Alteisen und stellte sich Ryan gegenüber auf. »Okay, Sohn. Ich halte das auf Armeslänge von mir gestreckt, und du jagst nur ein kleines Rinnsal hinein.« Obwohl er dabei grinste, sah er ein wenig nervös aus.
Ryan konzentrierte sich auf den Metallrest. Diesmal stellte er sich vor, die Hitze in dem Gegenstand einzuschließen, als wäre er eine schützende Decke. Er senkte seine innere Barriere ...
Energie wölbte sich knisternd von Ryans Fingern. Dad ließ das Metallstück fallen und wich zurück. Ein Donnerschlag ertönte aus der Mitte des Raums. Dad hielt sich die Hände über die Ohren und verlangte von Ryan brüllend, aufzuhören.
»Jared! Was ist passiert?«, fragte Ma.
»Keine Ahnung. Auf einmal wurde alles weiß. Ich dachte, Ryan hätte versehentlich mich erwischt. Ich sehe immer noch überall Blitze.«
»Jared!«, stieß Ma hervor. »Ich schwöre, ich hab gesehen, wie ein Blitz aus deiner Hand in die Decke eingeschlagen ist.«
Ryan folgte dem Blick seines Vaters zur Decke. Und tatsächlich – einige der Bretter in der Gewölbedecke waren versengt.
Bevor Ryan oder seine Mutter ein weiteres Wort sagen konnten, verblüffte Jared sie beide. Er drehte sich jäh zum Wasserfass um und feuerte aus den Händen einen Energiestoß ab, der zischend Dampf aus dem Fass aufsteigen ließ. Ein Teil des Wassers verdampfte schlagartig.
Als der Energiefluss endete, schwankte Dad und stützte sich am Amboss ab. »Jetzt weiß ich, wie sich diese Müdigkeit anfühlt.«
»Du kannst auch Magie wirken!«, rief Ryan.
»Lass uns das Wort lieber nicht benutzen«, mahnte Ma.
»Oder überhaupt irgendwo«, fügte Dad hinzu. »Vor allem nicht in der Öffentlichkeit.«
Ryan blickte auf das Metallstück hinunter, das Dad fallen gelassen hatte. Es schimmerte genau wie der Hammer. »Sieht so aus, als hätten wir ein weiteres schimmerndes Teil geschaffen«, sagte er.
Dad kratzte sich am Kopf. »Ich schätze, wir kommen der Lösung des Rätsels näher.«
»Tja, worauf warten wir noch?«, fragte Ryan aufgeregt. »Lass es uns noch mal machen.«
Ma schien drauf und dran zu sein, einen strengen Protest vom Stapel zu lassen, als die Tür der Schmiede aufschwang und Sloane hereinstürmte. »Aaron schickt mich. Wir brauchen deine Hilfe«, verkündete sie an Aubrey gewandt.
»Was ist denn los?«, fragte Ma. »Ist Aaron etwas passiert?«
»Es geht ihm gut. Aber ... etwas auf den Feldern ist verletzt. Es – oder er – braucht eine Heilung. Kommst du mit? Ich habe ein Pferd draußen.«
Ma schnappte sich ihre Tüte mit Essen und eilte zur Tür. »Das brauche ich vielleicht. Jungs, bitte stellt nichts Gefährliches an, während ich weg bin.«
»Sollen wir mitkommen?«, fragte Ryan und folgte ihr nach draußen.
Ma schüttelte den Kopf. »Nicht mit nur einem Pferd. Dadurch würden wir nur langsamer.«
Sloane stieg in den Sattel, und Ma schwang sich hinter sie. Ryan konnte nur zusehen, wie sie davongaloppierten.