Wird es überleben?

Aaron musste seine gesamte Überredungskunst aufbieten, um Sloane dazu zu bringen, ihn allein zur Bewachung der Kreatur zurückzulassen, während sie seine Mutter holte. Sie hatte gesagt, es wäre ein Oger. Und sie hatte Geschichten darüber gehört, dass Oger Menschen fraßen.

»Allerdings muss der noch sehr jung sein«, hatte sie gesagt. »Er ist viel kleiner als alle Oger, von denen ich je gehört habe.«

Vielleicht gab das letztlich den Ausschlag für sie zu gehen. Oder vielleicht das Flehen des Ogers um Hilfe, dass auch sie gehört hatte, davon war Aaron so gut wie überzeugt. So oder so, sie musste sich beeilen. Wenn der Oger nicht bald Hilfe bekäme, würde er wahrscheinlich sterben.

Aaron hielt es für keinen Zufall, dass ihm der Oger praktisch vor die Füße gefallen war. An Zufälle glaubte er nicht mehr. Seit dem Tag, an dem sie sich so unverhofft in Trimoria wiedergefunden hatten, schien alles aus einem bestimmten Grund zu geschehen. Und was außer Schicksal konnte dafür gesorgt haben, dass er ausgerechnet in dem Moment aufgeschaut hatte, als der Oger in die Tiefe gefallen war?

Eine gefühlte Ewigkeit zog ins Land, bis sich Sloanes Pferd endlich die Straße entlang näherte und zwei Personen beförderte. »Ma!«, rief Aaron.

Das Pferd beschleunigte die Schritte, und schon bald stiegen Ma und Sloane aus dem Sattel.

»Bitte hilf ihm«, flehte Aaron. »Er hat um Hilfe gebeten.«

Ein Schauder durchlief Ma, als sie sich dem Oger näherte. »Bist du sicher? Die Kreatur sieht aus, als könnte sie uns alle in Stücke reißen.«

Bevor Aaron etwas erwidern konnte, kam ein anderes Pferd angaloppiert. Throll sprang aus dem Sattel und preschte los. »Ich habe gesehen, wie ihr geritten seid, als wären Dämonen hinter euch her. Ist jemand verletzt?« Sofort schwenkte sein Blick zu dem auf dem Boden liegenden Oger. Er legte die Hand auf den Griff seines Schwerts und sagte: »Geht beiseite. Ich erlöse ihn von seinem Leid.«

»Nein!«, rief Aaron und schirmte den Oger mit den Armen ab. »Er hat um Hilfe gebeten!«

Ein langer Moment verstrich. Aubrey schaute zwischen ihrem Sohn und Throll hin und her, sichtlich unschlüssig, was sie tun sollte.

Auch Throll wirkte verunsichert. »Oger sprechen nicht. Können sie gar nicht.«

»Der hier schon«, beharrte Aaron. »Er hat gesagt: ›Hilf mir.‹ In unserer Sprache. Ich lasse ihn nicht sterben.« Er wandte sich an seine Mutter. »Ich weiß, du machst dir Sorgen, aber wir müssen es versuchen.« Dann richtete er das Wort an Throll. »Wenn er danach Ärger macht, kannst du immer noch mit dem Schwert eingreifen. Aber nicht so.«

Ma sah Throll an, harrte seiner Entscheidung.

Der Waldhüter seufzte. »Na schön, junger Mann. Aber wenn er eine falsche Bewegung macht, erledige ich ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Verstanden?«

Aaron nickte. »Verstanden.«

Ma kniete sich neben die riesige Kreatur und streckte die Hand aus, um die Brust des Ogers zu berühren. »Mein Name ist Aubrey«, sagte sie leise. »Ich muss dich an mehreren Stellen berühren, wenn ich versuchen will, dich zu heilen. Ich glaube zwar nicht, dass es wehtun wird, aber falls doch, sollst du wissen, was ich mache.«

Aaron und Throll beobachteten, wie sie die Arbeit am massigen Körper des Ogers aufnahm. Wenn sie eine wunde Stelle entdeckte, hielt sie inne, konzentrierte sich und aß anschließend etwas aus ihrem Ranzen.

»Ich habe noch nie im Leben jemanden, der so klein ist, so viel essen gesehen«, murmelte Throll, nachdem sie den Vorgang mehrmals wiederholt hatte.

Mindestens 30 Minuten lang ging es so weiter, ohne dass sich der Zustand des Ogers offensichtlich veränderte. Andererseits schien er innere Verletzungen zu haben, daher ließ es sich schwer abschätzen.

Und dann schlug der Oger die Augen plötzlich weit auf.

Abrupt wich Ma zurück. »Kannst du mich verstehen?«, fragte sie.

»Ja, Aubrey«, antwortete der Oger. »Und ich konnte dich auch hören.«

»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte Ma.

»Du hast ihn mir gesagt. Du hast mir erklärt, was du machst und dass du mich heilen willst. Ich konnte zwar nicht sprechen, aber ich konnte hören.«

Mit der Hand auf dem Griff seines Schwerts trat Throll vor. »Was für eine Hexerei ermöglicht es dir zu sprechen? Von so etwas habe ich noch nie gehört.«

Der Oger drehte den Kopf dem Waldhüter zu. Er hatte sich noch nicht aufgesetzt. »Ich wurde anders als meinesgleichen geboren. Sprechen habe ich schon gelernt, als ich noch sehr jung war. Warum, das weiß ich nicht.«

»Wie fühlst du dich?«, fragte Aaron.

Der Oger verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Als wäre ich von einem Berg geworfen worden.«

Aaron schnappte nach Luft. »Jemand hat dich geworfen? «

Der Oger ignorierte die Frage. »Ich kann meine Beine nicht fühlen.«

»Nicht bewegen«, sagte Ma. »Wahrscheinlich ein gebrochener Rücken- oder Halswirbel. Ich weiß nicht, ob ich das heilen kann, aber ich will es versuchen – wenn du versprichst, uns nichts zu tun, wenn du geheilt bist.«

Der Oger hob eine riesige Pranke. »Ich, Ohaobbok, vormals vom Blutfaust-Clan, verspreche hiermit, dass ich niemandem etwas antun werde, der mir nichts anzutun versucht. Ich weiß, dass ihr freundliche Leute seid und mir nur helfen wollt. Ihr schuldet mir keine Hilfe, und ich bin euch zu ewigem Dank verpflichtet.«

Damit gab sich Ma zufrieden. Sie rückte näher hin und legte eine Hand auf die Brust des Ogers, die andere auf seinen Hals. Nach nur kurzer Konzentration schnappte sie nach Luft und kippte rückwärts in Aarons wartende Arme.

»Ma? Geht’s dir gut?«

»Essen«, sagte sie.

Sloane eilte mit Brot und Käse herbei. Nachdem Aubrey gegessen hatte, rappelte sie sich wieder auf.

»Fühlst du dich irgendwie anders?«, fragte sie den Oger.

»Mein rechtes Bein schmerzt entsetzlich«, presste Ohaobbok zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber das ist wohl besser, als gar kein Gefühl darin zu haben.«

Ma kniete sich hin und ergriff den Oberschenkel und das Fußgelenk des Ogers. Kurz zitterte sie, dann richtete sie sich auf.

Ohaobbok seufzte. »Die Schmerzen haben nachgelassen. Danke.«

Aubrey wandte sich an Throll. »Ich habe kein Essen mehr, also kann ich ihn nicht weiter heilen. Aber in dem Zustand können wir ihn noch nicht befördern. Außerdem bin ich mir nicht sicher, wie viel ich im Moment noch tun kann, selbst mit Essen. Mir wird allmählich übel.«

Throll schaute besorgt drein, als er Aubrey die Hand auf die Schulter legte: »Du musst es langsam angehen. Vergiss nicht, dass du in anderen Umständen bist.«

Ma nickte. »Ich denke, ich muss mich ein bisschen ausruhen, bevor ich es weiter versuche. Können wir es ihm bequem machen?«

Sloane trat vor. »Warum bauen wir nicht einen Behelfsunterstand über ihm? Alles, was wir dafür brauchen, haben wir im Wagen.«

»Ich helfe mit«, bot Aaron an.

»Und ich gehe zurück zum Haus, um etwas zu essen und zu trinken zu holen«, kündigte Aubrey an. »Ohaobbok, was isst du? Wäre Hühnchen in Ordnung?«

Der Oger verzog angewidert das Gesicht. »Ich esse weder Huhn noch sonstiges Fleisch. Ich mag Beeren. Und Kartoffeln und Karotten. Die habe sie zwar erst einmal gegessen, aber sie waren köstlich.«

Throlls Überraschung ließ sich nicht übersehen. »Du isst kein Fleisch?«

Ohaobbok seufzte. »Ich bin ein Schandfleck. Das ist einer der vielen Gründe, warum mich meine eigene Mutter aus dem Clan geworfen hat.«

Aaron spürte, wie sein Mitgefühl für dieses Wesen wuchs. »Ist schon gut, Ohaobbok. Wir haben haufenweise Kartoffeln. Wir kümmern uns um dich.« Er lächelte. »Das verspreche ich dir.«

* * *

In den nächsten drei Wochen blieb Ohaobbok in dem Unterstand, den Aaron und Sloane für ihn am Fuß der Felswand gebaut hatten. Ma setzte ihre heilenden Berührungen täglich fort, doch selbst ihre Magie brauchte angesichts der Schwere der Verletzungen die Unterstützung der Zeit. Eines Tages jedoch betraten Aaron und Throll den Unterstand, wo sie Ohaobbok aufrecht sitzend vorfanden, während er genüsslich gedünstetes Gemüse aß.

Der Oger entfesselte einen gewaltigen Rülpser.

Aaron lachte. »Wie fühlst du dich?«

»Dank deiner Mutter beinah wieder normal.«

Throll warf ein Bündel Stoff vor Ohaobboks Füße. »Gut. Zieh das an. Wir verlassen heute dieses Feld und bringen dich zu mir nach Hause. Aaron hat ein Gästezimmer in der Scheune eingerichtet.«

Der Stoff erwies sich als lange braune Kutte mit Kapuze. Ohaobbok richtete sich zur vollen Größe von über zwei Metern auf, legte die Kutte über seinen grob genähten Kittel an und betrachtete das neue Gewand anerkennend. »Danke, Throll. Danke, Aaron.«

»Bitte setz auch die Kapuze auf und zieh sie nach vorn«, sagte Throll. »Du musst schon verzeihen, aber wenn jemand einen Oger herumlaufen sieht ... Na ja, du würdest unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.«

Ohaobbok nickte. »Ich verstehe.«

Als sie den Unterstand verließen, stellte Aaron fest, dass Ohaobboks Verletzungen nach wie vor nicht vollständig verheilt waren – man merkte ihm ein leichtes Hinken an.

»Ohaobbok, du scheinst immer noch verletzt zu sein. Soll ich den Wagen holen, um dich ...«

»Nein.« Der Oger schüttelte den Kopf. »Ich muss laufen, das ist besser für mich.«

Throll nickte und legte ein recht gemächliches Tempo vor. Sie brauchten Stunden zum Haus der Lancasters, trafen jedoch gerade rechtzeitig ein – verschiedene Gerüche schlugen ihnen entgegen, als sie durch die Eingangstür eintraten, und Aubrey, Gwen und Sloane waren emsig mit Vorbereitungen beschäftigt. Das Abendessen war fast fertig.

Gwen hatte den Oger als Einzige noch nicht kennengelernt. Dennoch ließ sie keinerlei Überraschung oder Furcht erkennen, als sie diese große, vermummte Gestalt in ihrem Haus erblickte. Stattdessen stellte sie sich vor den Oger und lächelte. »Ohaobbok, willkommen in unserem Zuhause. Ich bin Gwen.«

»Danke, Gwen. Ich bin dankbar für das Gemüse, das du mir geschickt hast.«

»In unserem Haus kannst du die Kapuze ruhig abnehmen. Ich sehe gern, mit wem ich rede.«

»Aber ich könnte mir denken, der Anblick meines Gesichts würde dich beunruhigen.«

Gwen schnaubte. »Unsinn. Ich beurteile niemandem nach seinem Gesicht.«

Ohaobbok schob die Kapuze zurück und wirkte dabei ein wenig beunruhigt.

Aber Gwen legte ihm nur eine Hand auf den Arm. »So ist’s besser. Jetzt geh mit Throll und wasch dich. Wir essen bald.«

Während Throll mit Ohaobbok davonging, steuerte Aaron ins Wohnzimmer. Dort fand er seinen Bruder und seinen Vater bei einer ihrer magischen Übungen. Dad ließ einen armbandgroßen Metallring an einem Seil baumeln. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, als er behutsam eine Ranke bläulich-weißer Energie von einer Hand durch den Ring zur anderen Hand leitete. Aber vor Aarons Augen schien Dad die Konzentration zu verlieren. Prompt schnellte die Ranke nach oben und verbrannte das Seil. Der Ring fiel.

Ryan reagierte blitzschnell und fing den Ring in einem rötlichen Käfig aus Plasma auf. »Hab ihn!«

Dad schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wie du das machst. Ich kann die Energie, die ich hervorbringe, einfach nicht nutzen, ohne damit irgendwas zu verbrennen.«

Ryan zuckte mit den Schultern. »Ich kann’s nicht erklären. Es ist, als würde ich die Energie in eine schützende Decke wickeln.«

»Und ich kann nur unbändige Ströme zorniger Energie entfesseln. Ich hab überhaupt keine Kontrolle.«

»Keine Sorge, Dad. Das wird schon noch.«

Dad zerzauste Ryan das Haar. »Lass dein Ego bloß nicht zu groß werden, mein kleiner Zauberer.« Dann schaute Dad zu Aaron. »Hey, Kumpel.«

»Hey, Dad.« Aaron bemühte sich, vergnügt zu wirken. Allerdings verspürte er unwillkürlich ein wenig Neid darauf, wie viel Zeit sein Bruder und sein Vater zusammen verbrachten, um an ihrer gemeinsamen Fähigkeit zu arbeiten.

Ma steckte den Kopf herein. »Essen ist fertig, Jungs. Und bei Tisch wird nicht über Experimente geredet.«

* * *

»Weißt du, Ma«, sagte Aaron, während er an einem Hühnerflügel nagte, »Ohaobbok zieht ein Bein leicht nach. Vielleicht solltest du dir das ansehen.«

Ma stand auf und trat an die Seite des Ogers. »Warum hast du nichts gesagt?«, tadelte sie ihn. »Du hast behauptet, du fühlst dich großartig!«

Aaron schmunzelte, als seine zierliche Mutter den so viel größeren Ohaobbok schimpfte. Sie legte die Hand auf sein Bein, und wie immer sah es für Aaron und alle anderen so aus, als würde nichts passieren. Doch schon bald schwankte sie und musste sich am Tisch abstützen. Nachdem sie einen großen Becher Milch getrunken hatte, setzte sie die Arbeit fort. Nach einer Weile trat sie zurück.

»Ich denke, es ist geheilt«, verkündete sie. »Meine Energie hat aufgehört, in dich zu fließen. Normalerweise bedeutet das, es gibt keine Verletzung mehr. Steh auf und lauf ein paar Schritte. Ich will mir sicher sein.«

Der Oger tat, wie ihm geheißen, und es ließ sich nicht übersehen, dass er deutlich sicherer auftrat.

»Ich glaube, es ist alles wieder normal«, sagte Ohaobbok. »Danke.«

Aubrey klopfte dem Hünen auf die Schulter. »Das nächste Mal sagst du es mir gleich, wenn etwas nicht stimmt, sonst setzt es was.«

Lächelnd nahm der Oger wieder Platz. »Verstanden.«

* * *

Nach dem Abendessen bestand Aaron darauf, dass er Ohaobbok seine neue Unterkunft zeigen durfte. In der Scheune hatten Throll und er mit hoch übereinandergestapelten Heuballen in der hinteren Ecke einen Raum geschaffen. Als Ohaobbok um die Wand aus Heu herumtrat, lächelte er beim Anblick der großen Strohmatratze auf einem riesigen Holzrahmen.

»Das Bett hab ich selbst gemacht!«, verkündete Aaron stolz. »Ich weiß, es ist sogar für dich riesig. Aber Throll hat gemeint, du könntest noch doppelt so groß werden. Also wollte ich dafür sorgen, dass es eine Weile reicht.«

Als Nächstes zeigte Aaron ihm den riesigen Vorratsbehälter, der ausschließlich Kartoffeln enthielt. »Sloane und ich haben sie vom Feld hereingeschmuggelt«, verriet er lachend. »Ich weiß noch, dass du gesagt hast, du magst Kartoffeln. Könnte also ein feiner Imbiss sein, wenn du nachts Hunger bekommst, meinst du nicht?«

Der Oger blickte auf ihn herab. »Mir fehlen die Worte, um meine Dankbarkeit auszudrücken, Aaron. Ich hoffe, dass ein schlichtes Danke reicht.«

Aaron lächelte. »Sehr gern geschehen, mein Freund.«