Am nächsten Morgen erwachte Ohaobbok mit einem ungewohnten Gefühl, nämlich mit einem Körper, den keine verkrampften Muskeln und wunden Stellen plagten. Er staunte darüber, wie gut es sich auf dem Strohbett schlief. Einen solchen Unterschied zu einer Übernachtung auf Stein hätte er nicht für möglich gehalten.
Nachdem er seine Kutte angelegt hatte, schlenderte er nach draußen. Ein wunderschöner Tag empfing ihn. Die Luft roch feucht von leichtem Nieselregen während der Nacht. Er hätte gern innegehalten, um die Eindrücke zu genießen, aber das Grummeln in seinem Magen trieb ihn stattdessen zum Haus. Unterwegs passierte er Sloane, Aaron und Silver, die gerade aufbrachen.
»Hallo, Ohaobbok«, grüßte Aaron und winkte. »Sloane und ich arbeiten heute wieder auf den Feldern. Wir sehen uns beim Essen.«
Die anderen befanden sich im Esszimmer, wo sie angeregt über irgendein rituelles Bad für Neugeborene sprachen, soweit Ohaobbok es mitbekam. Aubrey bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen. Dann tischte sie ihm einen mit Gemüse und Obst überladenen Teller auf. Dazu stellte sie einen großen Krug voll weißer Flüssigkeit vor ihn hin.
»Was ist das?«, fragte er.
»Kuhmilch. Hast du noch nie Milch gesehen?«
Ohaobbok zuckte mit den Schultern. »Nein.«
»Tja, trink sie. Du bist noch im Wachstum. Du brauchst Vitamine.«
»Widersprich ihr besser nicht«, riet Jared mit einem Grinsen im Gesicht. »Sonst droht sie noch, dir den Hintern zu versohlen.«
Als alle lachten, erkannte Ohaobbok, dass ihn diese freundlichen Leute aufrichtig bei sich aufgenommen hatten. Ein herzliches Lächeln trat auf seine Lippen.
»Ich will das Ritual mit dem Bad im Brunnen nicht mitmachen«, kehrte Throll zum vorherigen Gespräch zurück. »Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei.«
»Jetzt hör mal, Throll«, sagte Gwen. »Ganz gleich, was im Brunnen passiert, dem Kind geschieht nichts. Und selbst wenn, mit Aubrey bei uns bin ich überzeugt davon, dass wir nie eine unerklärliche Krankheit durchleiden müssen.« Sie heftete einen hitzigen Blick auf ihren Ehemann. »Man erwartet von uns, dass wir den ersten Protektor ehren. Wir werden das Baderitual machen.«
»Der erste Protektor?«, hakte Ohaobbok nach. Sein Herz setzte bei der Bezeichnung einen Schlag aus. »Wie ehrt man dem ersten Protektor, indem man einen Säugling in einem Brunnen badet?«
Gwen lächelte. »Wir glauben, dass er das Kind durch das Wasser im Brunnen segnet.«
Ohaobbok war verwirrt. »Wie kann er einen Segen durch einen Brunnen spenden, wenn er in einer Höhle in den Bergen ruht?«
Stille senkte sich über den Raum.
»Was meinst du damit, dass er in einer Höhle in den Bergen ruht?«, fragte Throll.
Ohaobbok erzählte von seiner Begegnung mit den Zwergen und schilderte, was Mattias ihm über die Höhle als Ruhestätte des ersten Protektors erzählt hatte. Er gab aus dem Gedächtnis die Prophezeiung wieder, wie der Zwerg sie ihm mitgeteilt hatte.
»Kann das wahr sein?«, fragte Gwen mit gedämpfter Stimme.
»Mattias Hammerwerfer ist fest überzeugt davon«, sagte Ohaobbok. »Zum Beweis hat er eine zweite Prophezeiung zitiert. Mattias’ Ururgroßvater hat sie vom ersten Protektor bekommen, und sie wurde innerhalb der Familie vom Vater an den Sohn weitergereicht. Zeichen werden die Rückkehr des ersten Protektors einleiten. Ein bescheidener Magier wird in Trimoria eintreffen, ein Mann mit wundersamen magischen Kräften. Seine Kinder werden beseelt von sowohl Magie als auch Macht sein. Der ältere Sohn des Magiers wird heranwachsen und die Truppen der Zauberer des Protektors gegen die Schergen des reinen Bösen anführen. Sein mächtiger jüngerer Sohn wird sich zum Anführer der Armee des Protektors aufschwingen. Dass die Zeit des Erwachens des ersten Protektors gekommen ist, wirst du wissen, wenn dich ein frommer Oger begrüßt, der kein Fleisch isst. Jener Oger wird als Beschützer in den Abgründen dienen, wenn wir uns dem reinen Bösen stellen. «
Wieder kehrte ausgedehnte Stille ein.
Diesmal wurde sie von Aubrey gebrochen. »Jared ... meinst du, der ›bescheidene Magier‹ aus der Prophezeiung könntest du sein?«
Jared wirkte unbehaglich. »Dasselbe ist mir auch gerade durch den Kopf gegangen. Wir kommen tatsächlich aus einem Land außerhalb von Trimoria. Allein das schließt die meisten anderen aus. Ryan besitzt noch gar nicht voll ausgeschöpfte magische Fähigkeiten, und Aaron ist körperlich stärker als die meisten Erwachsenen. Ich sage es nur ungern, aber die Fakten passen zu der Prophezeiung.«
»Mattias hat gemeint, es wäre unklar, wie es jetzt weitergeht«, warf Ohaobbok ein. »Er hat gesagt, ich bin zwar ein Hinweis darauf, dass wir in eine neue Zeit eintreten, es könnte aber noch ein Jahrzehnt oder länger dauern, bis der erste Protektor zurückkehrt.«
Throll runzelte die Stirn. »Gehen wir zum Brunnen. Ich habe ihn mir seit Sloanes Geburt nie genauer angesehen und habe irgendwie das Gefühl, dass sich dort Antworten finden könnten.«
* * *
Die beiden Frauen entschieden, zu Hause zu bleiben, da sie angeblich zu viel zu tun hatten, aber Ohaobbok, Jared und Ryan begleiteten Throll. Auf dem Weg durch Aubgherle begegneten sie mehreren Bewohnern der Stadt, die Throll alle kannten und grüßten. Ohaobbok hingegen bedachten die meisten mit misstrauischen Blicken und beschrieben einen großen Bogen um ihn. Er zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und schämte sich dafür, wie die Leute auf ihn reagierten.
Throll führte sie einen ausgetretenen Pfad am Rand der Ortschaft entlang, und als sie um eine Ecke bogen, hatten sie ihn plötzlich vor sich: den Brunnen.
Äußerlich bot er nichts Besonderes: trister grauer Stein, leicht verdreckt und von Ranken überwuchert. Innen jedoch schimmerte er strahlend weiß, und das Wasser im Becken sah glasklar und frei von jeglichen Verunreinigungen aus – kein einziges Blatt oder Schmutzkörnchen hatte sich hineinverirrt. In der Mitte des Beckens ragte die Statue eines Mannes auf, der Ohaobbok sehr bekannt vorkam. Mit ausgestreckten Armen hielt er die weiße Kugel in den Händen.
Ohaobboks Kinnlade klappte auf. »Das ist der Mann aus meinen Träumen.«
Darüber wirkte Throll überrascht. »Soll das heißen, Oger haben wie alle anderen den Traum vom ersten Protektor?«
»Ihr also auch«, meinte Ohaobbok, als er das neue Wissen verdaute. »Genau wie die Zwerge.« Er schüttelte den Kopf. »Trotzdem kann ich kaum fassen, dass jemand ein so genaues Ebenbild von ihm erschaffen konnte. Es ist wunderschön.«
»Tatsächlich«, erklärte Throll, »gibt es in jeder bedeutenden Ortschaft in Trimoria einen solchen Brunnen.«
»Und sie sehen alle gleich aus?«
»Ja.«
Ohaobbok kniete sich vor den Brunnen und tauchte die Hand ins Becken. Kaum hatte sie das Wasser berührt, begann die Kugel der Statue, sanft zu leuchten. Als der Oger die Hand aus dem Wasser zurückzog, hörte es auf.
Ohaobboks Augen weiteten sich. »Was bedeutet das?«,
Der Waldhüter wirkte besorgt. »Ich ... weiß es nicht genau. Unserer Tradition nach baden wir nur unsere Säuglinge im Wasser. Ein Erwachsener – geschweige denn ein Oger – übersteigt daher meine Erfahrung. Aber bei einem Säugling ... sagt so etwas immer eine Tragödie vorher. Tut mir leid, Ohaobbok.«
Ryan trat vor, um selbst die Hände in den Brunnen zu tauchen. Noch bevor er das Wasser berührte, leuchtete die Kugel erneut auf.
Sowohl Ryan als auch Ohaobbok sahen Throll an. Aber der Waldhüter hatte keine Antworten. Sein Gesicht verriet nur noch mehr Besorgnis.
Ein Vogelschwarm stob von einem nahen Baum auf und flatterte aufgescheucht davon.
Ryan tauchte die Hand ins Wasser. Die Kugel erstrahlte wie ein Leuchtfeuer, so hell, dass der bläulich-weiße Schein Ohaobbok beinah blendete. Als er sich die Augen rieb, hörte er Throll rufen. Und als wieder klar sehen konnte, stand der Waldläufer unter dem Baum, von dem die Vögel geflüchtet waren. Drohend fuchtelte er dort mit dem Schwert zu den Ästen hinauf.
Eine Gestalt fiel vom Baum – ein Junge. Der Waldhüter führte ihn zurück zum Brunnen.
»Du bist tot!«, stieß der Junge mit einem vernichtenden Blick zu Ryan hervor.
Throll versetzte dem Burschen einen Tritt, der ihn zu Boden beförderte. »Ist das, wer ich denke?«, fragte er.
Ryan nickte. »Das ist Schneck.«
Die Züge des Jungen liefen rot an. »Ich hab’s dir schon mal gesagt, mein Name ist Schling! «
»Ihr drei könnt nach Hause gehen«, sagte Throll, packte den Jungen an den Haaren und begann, ihn in Richtung der Stadtmitte zu zerren. »Schling und ich werden uns jetzt ausführlich über Angriffe auf Leute und darüber unterhalten, was er den Bürgern von Aubgherle als Entschädigung für sein Verhalten anbieten wird.«
Ohaobbok verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen. Irgendetwas an diesem Moment erinnerte ihn an seine Mutter.
»Was glaubst du, dass aus ihm wird?«, fragte Ryan seinen Vater.
»Throll meint, da er noch so jung ist, kann er sich bessern«, erwiderte Jared. »Soweit ich weiß, ist die Strafe für solche Vergehen in der Regel ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Zwangsarbeitslager.«
Ohaobbok gefiel nicht, wie sich das anhörte.
»Schling wird lernen, was ein harter Arbeitstag auf einem Bauernhof bedeutet«, sagte Jared.
»Er ist groß genug, dass man ihn vielleicht den Pflug ziehen lassen könnte«, scherzte Ryan.
Darüber lachte sogar Ohaobbok.