Jared konnte Menschenmengen nicht leiden, deshalb bahnte er sich recht unbehaglich den Weg über den Marktplatz, während er Throll folgte. Selbst unter normalen Umständen waren die Straßen in der Stadtmitte von Aubgherle überfüllt von behelfsmäßigen Ständen, die eine Vielzahl von Waren und Leistungen feilboten. Im Augenblick jedoch herrschte Karawanenzeit, wie Throll erklärt hatte. Deshalb hatte sich eine noch größere Anzahl von Händlern auf dem Markt eingefunden. Während sich Jared durch das Gedränge schlängelte, konnte er nur daran denken, wie einfach es für einen Dieb wäre, jemandem etwas aus der Tasche zu ziehen.
»Drängt die Zeit wirklich so sehr?«, fragte Jared.
»Wir müssen uns beeilen, wenn wir mit unserem Geld in den Taschen durch diese Menge kommen wollen«, erwiderte Throll.
»Nein, ich meine die Ausbildung meines Sohns«, stellte Jared klar. Mittlerweile waren einige Wochen vergangen, seit Throll begonnen hatte, Aaron und Ohaobbok den Umgang mit dem Schwert beizubringen. »Du wirkst erschöpft. Dir mag es nicht so vorkommen, aber deine beiden Schüler sind bedeutend jünger als du, und einer ist obendrein nicht mal ein Mensch. Unabhängig von deiner Erfahrung ist dein Körper schwer im Nachteil.«
Throll blieb stehen und drehte sich grinsend zu Jared um. »Mir geht es bestens. Ich verlange mir nicht annähernd so viel ab wie ihnen. Und wenn ich müde werde, lasse ich sie gegeneinander üben, bis keiner mehr den Schwertarm heben kann.«
»Wie kommt ihr voran?«, fragte Jared.
»Du wärst erstaunt, mein Freund«, antwortete der Waldhüter. »Bei Ohaobbok wächst nicht nur das Können, sondern auch der Körper. Bald werden wir nicht mehr verbergen können, was er ist. Und Aaron ist verblüffend stark für jemanden, der noch keine 16 Jahre alt ist. Er ringt Ohaobbok oft ein Unentschieden ab, obwohl der Oger dreimal so schwer und anderthalbmal so groß ist.« Er winkte Jared weiter. »Komm jetzt. Ich dachte, du wolltest herkommen, um etwas Schönes für unsere Frauen zu finden.«
Jared lachte. »Falls du dich noch erinnerst, du hast mich dazu überredet , mitzukommen. Ich hab keine Ahnung, was diese Karawanen befördern, und ich bin nicht sicher, wie viel ich mir eigentlich leisten kann, selbst wenn ich etwas sehe, das mir gefällt.«
Throll schüttelte den Kopf. »Wem willst du etwas vormachen? Du musst in der Schmiede im letzten Monat mindestens 200 Goldstücke hergestellt haben. Versuch erst gar nicht, es zu leugnen. Es ist recht offensichtlich, dass du mehr Geld verdienst, als du brauchst, wenn du sogar eine tadellose Goldmünze zerschneidest, um diesen Ring für mich anzufertigen.« Er streckte die rechte Hand aus.
»Du weißt genau, warum ich diese Ringe angefertigt habe.«
»Ich beginne allmählich, es zu verstehen, ja.«
»Du beginnst, es zu verstehen?«, rief Jared. »Du beherrscht den Morsecode besser als jeder andere. Du schickst uns allen dreimal am Tag neue Nachrichten.«
»Ich hoffe nur, Ohaobbok bekommt den Bogen heraus«, meinte Throll kopfschüttelnd.
»Gib ihm Zeit«, erwiderte Jared. »Mit deiner Tochter hat er eine großartige Lehrerin. Und ich höre ständig, wie Gwen ihn das Alphabet abfragt.«
»Tja, es ist schon wirklich erstaunlich, dass wir uns jederzeit miteinander verständigen können«, räumte Throll ein. »Wäre da nicht Aubreys Heiltrank, würde ich die Ringe vielleicht als genialste Erfindung in der Geschichte Trimorias bezeichnen.«
»Hätten wir es doch nur geschafft, dass Bier die Heilenergie speichert«, brummelte Jared. »Milch war noch nie mein Lieblingsgetränk.«
Throll lachte. »Das wäre tatsächlich ein Wunder.«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als sie sich durch eine weitere dichte Ansammlung von Leuten kämpften. Auf der anderen Seite meinte Throll: »Ich wollte dir schon länger sagen, dass Schling heute seinen Arbeitsdienst beendet. Wir sollten Ryan und Aaron wissen lassen, dass ihr Erzfeind wieder frei herumläuft.«
Jared seufzte. »Vielleicht sollten wir eher Schling warnen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passieren könnte, wenn sich der Junge jetzt mit Ryan anlegt, so, wie sich Ryans Fähigkeiten entwickelt haben.«
»Mit dem Schwert, das du für Aaron geschmiedet hast, ist es genauso besorgniserregend, was passieren könnte, wenn sich Schling deinen jüngeren Sohn vorknöpfen möchte. Aber ich würde mir darüber nicht zu sehr den Kopf zerbrechen. Zum Glück ist Schling von Natur aus ein Feigling. Und dein Junge und der Oger sind neuerdings unzertrennlich. Würdest du einen Jungen angreifen, der mit einem Riesen wie ihm unterwegs ist?«
Throll und Jared näherten sich einem Platz, auf dem eine Gruppe von Soldaten in schwarzen Rüstungen die Gesichter ringsum prüfend musterten. Throll zog Jared rasch in eine Gasse zwischen zwei niedrigen Gebäuden.
»Azazels Soldaten«, murmelte er unüberhörbar abschätzig. »Am besten meiden wir ihre Aufmerksamkeit.«
»Was glaubst du, warum sie hier sind?«, fragte Jared.
»Dafür könnte es etliche Gründe geben. Wahrscheinlich begleiten sie nur als Wächter die Karawane.«
»Warum verstecken wir uns dann vor ihnen?«
»Ganz gleich, welche Aufgaben sie haben, sie verursachen immer Ärger. Sagen wir einfach, ich habe mit diesen Männern noch etliche Rechnungen zu begleichen.«
Und damit eilte er die Gasse entlang davon. Jared musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.
* * *
Aubrey zog den Eimer aus dem Brunnen hoch. Das gehörte zwar nicht zu ihren gewöhnlichen Aufgaben, aber sie hatte es in letzter Zeit in ihr Programm aufgenommen, um Gwen zu helfen. Der Bauch der Hausherrin war mittlerweile beträchtlich gewachsen, und sie wurde zunehmend schwerfälliger. Aubrey hatte den Eindruck, ihre Freundin könnte jeden Tag entbinden.
Es war ein heißer Sommertag. Jared und Throll waren zum Markt gegangen, Ryan verbrachte den Tag mit Sloane beim Bogenschießen, und Aaron und Ohaobbok nutzten einen seltenen übungsfreien Tag, um draußen im Wald nach Pilzen zu suchen. Dadurch fühlte sich das Haus leer an, aber auch friedlich. Aubrey hatte festgestellt, dass sie die Zeit sowohl allein als auch mit Gwen genoss, wenn sie in den alltäglichen Aufgaben der Haushaltsführung aufging.
Aber als Aubrey den langen Weg vom Brunnen zurück zum Haus antrat, wurde die Stille plötzlich durchbrochen. Ein Pferd preschte durch ein Dickicht hervor. Es trug zwei Reiter, einen im Sattel, den anderen schlaff quer über dem Hals. Das Tier galoppierte die Straße heran, bäumte sich auf die Hinterbeine auf, warf beide Reiter ab und nahm sichtlich erschrocken Reißaus.
Aubrey ließ den Eimer fallen und eilte zu den Gestürzten – einem Mann mittleren Alters und einem Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Das Gesicht der jungen Frau war blass, und sie war bewusstlos, obwohl sie keine offensichtlichen Verletzungen erlitten hatte. Gwen eilte durch die Haustür heraus – zumindest bewegte sie sich so schnell, wie sie in ihrem Zustand konnte.
»Was ist los mit dir, Herr?«, rief Gwen, als sie auf die Neuankömmlinge zuwatschelte. »Ihr solltet nicht so ungestüm reiten – seht nur, was davon kommt!«
»Ich hatte keine Wahl«, gab der Mann zurück. »Das ist meine Tochter ... sie hatte sich im Wald verirrt. Ich habe nach ihr gesucht und sie bewusstlos gefunden. Sie wacht nicht auf und braucht sofort Hilfe.«
»Warum bringst du sie hierher?«, fragte Aubrey. Sie fürchtete, ihr Ruf als Heilerin könnte sich verbreitet haben, obwohl sie sich bemühte, ihre Kräfte geheim zu halten.
»Euer Haus war das erste, das ich beim Verlassen des Walds gesehen habe«, erklärte der Mann. »Ich hatte gehofft, ihr könntet mir den Weg zu einem Heiler weisen. Aber dieses vermaledeite Pferd ...«
Gwen schüttelte den Kopf. »Dann bist du ein Glückspilz, dass du dich ausgerechnet an dieses Haus gewandt hast.«
»Sag mir ... in welcher Position hast du sie gefunden?« Aubrey kniete sich vor die junge Frau. »Hat irgendetwas auf ihr gelegen? Vielleicht ein abgefallener Ast?«
Der Mann schüttelte den Kopf, als er sich aufrichtete. »Nichts dergleichen. Sie hat mit dem Rücken an einem Baum gelehnt, als hätte sie sich hingesetzt und wäre eingeschlafen. Nichts war auf sie gefallen. Nicht einmal ein Blatt.«
»Ich muss sie genauer untersuchen, bevor wir etwas unternehmen«, sagte Aubrey und schaute zu dem Mann mit so viel Ruhe hoch, wie sie aufzubringen vermochte. »Wäre sie bei Bewusstsein, könnte ich ihr ein Stärkungsmittel geben, aber solange sie in diesem Zustand bleibt ...«
Aubrey zog ein Stück des Kleids der Frau weg. Zum Vorschein kamen zwei stark verfärbte Einstichwunden, umgeben von einem zornig geröteten Ausschlag.
»Anscheinend ist sie von etwas Giftigem gebissen worden«, sagte sie. »Gibt es Schlangen im Wald?«
»Es ist nur eine Giftschlange bekannt, die in diesen Wäldern lebt«, antwortete Gwen. »Die Todesotter. Angeblich tötet ein einziger Biss innerhalb von Stunden.«
Aubreys Herz raste. Wahrscheinlich könnte sie der jungen Frau das Leben retten. Nur wenn sie ein vermeintlich unheilbares Gift besiegte ... nun, dann würde der Strom der Leute, die sie zu Heilerin ausrufen würden, kein Ende nehmen. Sie würde Aufmerksamkeit erregen, die sie unbedingt vermeiden wollte. Aber was hatte sie schon für eine Wahl? Die Alternative wäre, diese arme junge Frau sterben zu lassen. Und Aubrey könnte nicht mit sich leben, wenn sie das geschehen ließe.
»Du weißt, dass ich keine Wahl habe«, flüsterte Aubrey zu Gwen.
Gwen nickte ernst. »Tu, was du tun musst. Du musst deine Gabe einsetzen, wenn es einem guten Zweck dient.«
Während Gwen dem schluchzenden Mann auf die Beine half und ihn zur Seite zog, rieb Aubrey die Hände aneinander und drückte sie dann zu beiden Seiten des Schlangenbisses auf die Haut der jungen Frau. Es war die anspruchsvollste Heilung, die sie je versucht hatte. Obwohl sie wusste, dass sie Energie in den Biss übertrug, erzielte sie zunächst keinerlei Wirkung, weder an der Wunde selbst noch an dem Ausschlag. Aber sie ließ nicht locker, und mit der Zeit wich zumindest der Ausschlag zurück. Aubrey leitete weiterhin heilende Energie in die junge Frau, bis die Müdigkeit sie zum Aufhören zwang.
Dann untersuchte sie die Wunde erneut. Der Ausschlag war größtenteils verschwunden. Aus den Einstichöffnungen waren einige Tropfen einer gelblichen Flüssigkeit geflossen. Das muss das Gift sein . Mit dem Kleid des Mädchens tupfte sie die Wunde trocken, bevor sie sich zurückzog. Sie hatte eine kleine Flasche der heilenden Milch dabei – Jared hatte ihr geraten, immer eine bei sich zu tragen. Aubrey würde einen ausgiebigen Schluck davon brauchen, bevor sie die Arbeit fortsetzen könnte.
In dem Moment rührte sich die junge Frau.
Als der Vater es bemerkte, löste er sich von Gwen und fiel neben seiner Tochter auf die Knie. »Arabelle!«, rief er. Frische Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Arabelle, du bist wach! Oh, mein armes Kind, du bist zu mir zurückgekommen!«
Die junge Frau wollte sich aufzusetzen, sackte aber schnell wieder zurück.
Aubrey zog den Verschluss von ihrer Flasche und forderte das Mädchen zum Trinken auf. Die junge Frau konnte kaum den Kopf heben, ließ sich von Aubrey ein wenig Milch in den Mund träufeln.
»Trink alles«, drängte Aubrey. »Es hilft deinem Körper, sich von der Tortur mit dem Gift zu erholen.«
Die junge Frau trank weiter, bis die Flasche leer war. Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und als Aubrey die Wunde erneut begutachtete, sah sie bedeutend besser aus. Man konnte kaum noch erkennen, dass die Frau überhaupt gebissen worden war.
Deutlich gestärkt setzte sich Aubreys Patientin auf – und stellte fest, dass sie entblößt war. Mit einem schrillen Quieken zog sie hastig das Kleid runter. Ihr Vater half ihr auf die Beine, und sie umarmten sich innig.
Der Mann schaute zwischen Aubrey und seiner Tochter hin und her. »Wie ist das möglich? Sie wurde von einer Todesotter gebissen! Keiner überlebt solches Gift. Du hast ihr keine Arznei gegeben, keinen Einschnitt vorgenommen, und doch sieht sie so gesund aus wie vor ihrem Aufbruch.«
Aubrey starrte den Mann ausdruckslos an. »Ich habe keinen Biss gesehen«, log sie. »Vermutlich irrst du dich.« Es war eine lächerliche Lüge, aber was sollte sie sonst tun? Erklären konnte sie es unmöglich. Ihre einzige Hoffnung bestand in Verleugnung.
»Aber ... aber ...«
»Statt zu hinterfragen, was passiert ist«, meinte Aubrey, »solltest du einfach dankbar sein, dass sich Arabelle von einer Tortur erholt, die wir alle vergessen sollten.«
Arabelles Vater starrte sie mit offenem Mund an. Dann nickte er. »Du hast recht. Ich ... muss mich geirrt haben. Und ich stehe tief in deiner Schuld – die Ehre gebietet es mir, mich erkenntlich zu zeigen. Mein Name ist Honfrion. Ich vertrete die Karawane. Was immer du brauchst, nenn es einfach.«
Gwen schaute verblüfft drein. »Willst du damit sagen, du bist Honfrion, der Händlerkönig?«
Der Mann lächelte. »Manche Leute nennen mich so, ja.«
»Tja, Händlerkönig«, meinte Gwen trocken, »wie es scheint, hat dich dein Pferd im Stich gelassen. Komm. Wir schicken die Jungs los, um nach dem Tier zu suchen. Bitte kommt in der Zwischenzeit mit uns ins Haus, um etwas zu essen und zu trinken.«
Honfrion wirkte überwältigt, als er seine Tochter stützte und Gwen zum Haus folgte. Nur Aubrey blieb zurück und fragte sich, wie um alles in der Welt es ihr jemals noch gelingen sollte, ihr Geheimnis zu hüten.
* * *
Ryan feuerte seinen Pfeil ab. Das Geschoss segelte zielsicher 30 Meter weit, streifte eine Quizoafrucht und schlug in die Strohpuppe dahinter ein. Sloane und Ryan rannten zum Ziel und begutachteten die beiden dort steckenden Pfeile.
»Ich hab gewonnen!«, riefen sie gleichzeitig.
Ryan wies darauf hin, dass sein schwarz gefiederter Pfeil die Frucht gestreift hatte. »Mein Pfeil hat die Schale von der Quizoa rasiert und ist der Frucht näher.«
Sloane schüttelte den Kopf und wies auf die Spur hin, die ihr rot gefiederter Pfeil hinterlassen hatte. »Dein Pfeil ist vielleicht ein bisschen näher dran, aber meiner hat die Frucht tatsächlich durchschlagen. Also hab ich mehr Schaden daran angerichtet und hab gewonnen!«
»Was hältst du davon, wenn wir uns heute auf ein Unentschieden einigen? Sonst streiten wir uns noch den ganzen Tag darüber.«
»Na schön«, lenkte Sloane ein. »Aber ich liege diese Woche trotzdem an Siegen vorn.«
Ryan verdrehte die Augen, als er die Pfeile herauszog. Er wusste, dass Sloane die bessere Bogenschützin war, würde es aber mit Sicherheit nicht zugeben.
»Ich sollte nach Hause gehen«, meinte sie. »Unsere Mütter werden meine Hilfe beim Zubereiten des Abendessens brauchen.«
»Morgen um dieselbe Zeit?«, fragte Ryan.
»Wenn du unbedingt wieder verlieren willst, gern«, gab Sloane grinsend zurück.
Gemeinsam traten sie den Weg nach Hause an. Kurz vor dem Grundstück stießen sie auf ein reiterloses Pferd, das am Straßenrand graste. Ryan wechselte einen verwirrten Blick mit Sloane, bevor er das Tier an den Zügeln nahm. Vom Besitzer fehlte weit und breit jede Spur.
»Der Hengst ist wunderschön und wirkt gepflegt«, meinte Ryan. »Vielleicht hat er seinen Reiter abgeworfen.«
»Tja, jedenfalls können wir ihn nicht einfach hierlassen. Bringen wir ihn zu den Ställen. Wir können morgen in der Stadt bekanntgeben, dass wir ein Pferd gefunden haben. Bei einem so prächtigen Tier meldet sich der Besitzer bestimmt bald.«
Falls das Pferd tatsächlich gescheut und den Reiter abgeworfen hatte, wirkte es mittlerweile beruhigt. Es leistete keinerlei Gegenwehr, als es den Weg entlanggeführt wurde. Sie erreichten das Haus praktisch gleichzeitig mit Aaron und Ohaobbok, die mit einem Korb aus der anderen Richtung kamen.
»Woher habt ihr das Pferd?«, fragte Aaron.
»Ob du’s glaubst oder nicht, es hat einfach an der Straße zwischen hier und der Schmiede gestanden.«
In diesem Moment erschien Ma an der Tür. »Oh Ryan, du hast es gefunden! Bring das prächtige Tier herüber. Wir haben drinnen den Mann, dem es gehört. Warte kurz, ich gebe ihm Bescheid, dass es wieder da ist.« Damit verschwand sie zurück ins Haus.
Aaron wollte beim Pferd bleiben. Ohaobbok zeigte daran kein Interesse, also übernahm er den riesigen Korb mit den Pilzen, die sie gesammelt hatten, und trug ihn zur Scheune. Sloane begleitete ihn, um ihm beim Auspacken zu helfen.
Als Ryan das Pferd vorwärtsführte, kam ein Mann aus dem Haus der Lancasters. Allerdings nahm Ryan ihn kaum wahr. Er hatte nur Augen für das umwerfend schöne Mädchen, das dem Mann folgte. Die junge Frau hatte rabenschwarzes Haar und beginnende Kurven, die Ryan den Atem verschlugen.
Der Mann näherte sich ihm mit einem breiten Lächeln. »Danke, junger Freund. Arabelle und ich haben den Halt auf dem temperamentvollen Biest verloren, dann ist es ausgebüxt. Ich bin dir dankbar, dass du es mir zurückgebracht hast.«
Noch bevor Ryan etwas erwidern konnte, hatte der Mann ihm eine Goldmünze in die Hand gedrückt.
Aaron zupfte an Ryans Ärmel. »Du solltest vielleicht aufhören, das Mädchen so anzuglotzen«, flüsterte er.
Schnell schlug Ryan die Augen nieder.
»Tja«, sagte der Mann zu seiner Tochter. »Wollen wir?«
»Natürlich, Vater.«
Ryan fand die Stimme des Mädchens genauso wunderschön wie ihr Gesicht.
Sie stiegen beide auf das Pferd, dann wandte sich der Mann noch einmal an Ryan. »Ich weiß zu schätzen, dass du mein Pferd gefunden hast. Richte deiner Mutter nochmals meinen Dank aus. Und erinnere sie daran, dass Honfrion tief in ihrer Schuld steht. Sie braucht nur zu nennen, was immer sie will.«
Und damit trabten sie davon. Ryans Blick folgten ihnen, bis sie außer Sicht verschwanden.
»Arabelle«, hauchte er.
* * *
Als sich Ryan den Weg durch den Markt zu Ezras Stand bahnte, erstaunte ihn, wie viele Menschen sich auf dem Marktplatz eingefunden hatten. Die Karawane hatte dem Ort viele neue Gesichter beschert – so viele, dass sich Ryan wie ein Fremder in einer Stadt fühlte, die er seit Kurzem als seine eigene betrachtete.
»Willkommen, junger Mann«, sagte Ezra, als er sich näherte. »Lass mich raten: Du brauchst Nachschub an Erz?«
Ryan lachte. »Woher weißt du das? Wir brauchen außerdem mehr Holzkohle und alle üblichen Materialien.«
»Ein weiser Händler sieht die Bedürfnisse seiner Kunden voraus und hat die rechte Ware parat, bevor sie überhaupt danach fragen«, erwiderte Ezra augenzwinkernd. »Der übliche Preis ist in Ordnung?«
Ryan nickte.
»Soll ich einen meiner Männer die Bestellung zur Schmiede liefern lassen?«
»Das wäre großartig, ja«, erwiderte Ryan. »Danke. Übrigens, ist Itzik da? Ich hab ihn seit Monaten nicht mehr gesehen und ihm nie für die Hilfe damals gedankt.«
Ezra schüttelte den Kopf. »Du musst ihm nicht danken. Itzik hat das Richtige getan. Aber wenn ich ihn sehe, sage ich ihm, dass du nach ihm gefragt hast. Hier wirst du ihn nicht antreffen, solange die Karawane in der Stadt ist. Er kann Menschenmengen nicht leiden.«
Ryan lächelte. »Ich auch nicht. Da komme ich mir immer irgendwie in Gefahr vor.«
Ezra klopfte Ryan auf den Rücken. »Hoffen wir, dass du nie erleben musst, wie eine wirklich gefährliche Menge aussieht, mein Junge. Jetzt geh ruhig. Ich erwarte jeden Moment eine Lieferung Töpferton.«
Ryan winkte Ezra zum Abschied zu, dann marschierte er den Weg zurück, den er gekommen war. Der Marktplatz fühlte sich mittlerweile noch dichter gedrängt an. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass einige Leute ihn anstarrten. In unregelmäßigen Abständen glotzte ihn jemand an, erschrak und wandte sich schnell ab. Als er sich fragte, was das zu bedeuten haben mochte, packte ihn eine Hand am Arm.
»Widersetz dich nicht«, warnte eine Stimme an seinem Ohr, »sonst wird es nur schlimmer für dich.«
Die Umstehenden entfernten sich, und Ryan stellte fest, dass ihn sechs Gardisten umzingelten. Alle trugen eine schwarze Rüstung mit einem seltsamen Abzeichen auf der Brustplatte. Einer ergriff seinen freien Arm, und die beiden Gardisten, die ihn hielten, zogen ihn weg vom Markt.
Ryan stemmte die Fersen in den Boden und wehrte sich. »Wo bringt ihr mich hin?«, fragte er. »Was ist hier los?«
Ein anderer Gardist verpasste ihm einen so harten Schlag gegen den Hinterkopf, dass Ryan Sternchen vor den Augen sah.
»Wir können dich auch bewusstlos mitnehmen«, drohte der Mann knurrend. »Deine Entscheidung.«
Ryan zog es eindeutig vor, bei Bewusstsein zu bleiben. Allerdings kam ihm der Gedanke, es könnte von Vorteil sein, Bewusstlosigkeit vorzutäuschen. Also erschlaffte er, schleifte die Füße nach und tippte unbemerkt ein SOS auf seinem Ring.
Mit fast geschlossenen Lidern wagte er nur hin und wieder einen flüchtigen Blick, wohin sie gingen. Als er erkannte, wo sie sich befanden, wusste er, dass der Brunnen in ihrer Richtung lag. Und irgendwie ahnte er, dass er ihr Ziel sein würde. Lautlos tippte er mit dem Daumen eine längere Nachricht an seine Familie und Freunde.
Ryan von schwarzen Gardisten nahe Ezra entführt. Gehen Richtung Springbrunnen .
Die Umstehenden wirkten hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier. Die Leute in unmittelbarer Nähe hasteten davon, die weiter weg drängten herbei, um zu sehen, was vor sich ging, und versperrten so den Fluchtwilligen den Weg. Die Gardisten setzten die Ellbogen ein, um sich grob eine Schneise zu schaffen.
Ryan schloss die Augen wieder und lauschte dem Gemurmel der Stadtbewohner.
»Armer Junge.«
»Wenigstens hat es nicht mich erwischt.«
»Verdammt sollen sie sein, die Soldaten dieses Zauberers.«
Als sie die Außenmauern des Markts hinter sich ließen, erhob sich eine vertraute Stimme über den Tumult.
»Halt!«
Die Gardisten blieben stehen und wirbelten mit Ryan herum. Zwei Männer standen vor ihnen: Ryans Vater und Throll Lancaster. Da wichen alle Umstehenden zurück, weil sie spürten, dass sich ein Kampf anbahnte.
Ryan beschloss, es wäre an der Zeit, die gespielte Bewusstlosigkeit aufzugeben. Er »erwachte« und stand aus eigener Kraft aufrecht.
»Ich bin Throll Lancaster, Generalprotektor von Trimoria«, donnerte der Waldläufer. »Warum habt ihr diesen jungen Mann ergriffen?«
»Wir nehmen ihn zum Verhör mit«, antwortete der Gardist, der Ryans linken Arm umklammerte.
»Der Junge ist ein Dieb«, fügte der Gardist rechts von Ryan hinzu.
»Ich bin kein Dieb«, widersprach Ryan.
Ein anderer Gardist schlug ihm mit einer gepanzerten Faust gegen den Hinterkopf. »Schnauze, Junge!«
Dad riss die Augen vor Wut weit auf. Er sah aus, als müsste er gegen den Drang ankämpfen, den Gardisten mit einem Blitz niederzustrecken. Aber Throll schob einen Arm vor Dad, um ihn zu beruhigen.
»Ich kenne diesen Jungen«, sagte Throll gemessen. »Ich verbürge mich für seine Ehrlichkeit. Er ist kein Dieb.«
Der Wachmann, der Ryans rechten Arm hielt, zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Das hier ist eine Anzeige gegen den Sohn des Schmieds. Ihm wird vorgeworfen, vor zwei Monaten einen mit verschiedenen Vorräten beladenen Wagen gestohlen zu haben. Außerdem wird er beschuldigt, Mitglied einer Diebesbande zu sein, die ein Junge namens Dominic Sweeney anführt. Sweeney gilt derzeit als vermisst.«
Throll lachte. »Dominic Sweeney und dieser Junge als Mitglieder einer Diebesbande? Das kann nur ein Scherz sein. Wer hat diese Anschuldigung erhoben?«
Der Gardist sah auf dem Zettel nach. »Schling Breneven.«
Throll winkte mit einer Handbewegung ab. »In dem Fall geht ihr einer Falschmeldung nach. Ich verlange, dass ihr mir den Jungen übergebt. Schling ist ein bekannter Unruhestifter, der diesen Jungen schon einmal angegriffen hat – wofür er erst unlängst aus dem Arbeitslager entlassen wurde. Anscheinend hat die Plackerei bei ihm nicht die gewünschte Wirkung erzielt.«
Der Gardist schnaubte verächtlich. »Auf keinen Fall. Schling hat die Meldung persönlich bei mir erstattet.« Der Wachmann zeigte hinter sich in Richtung des Brunnens. »Außerdem wird er beschuldigt, verursacht zu haben, dass der Springbrunnen ...«
Bevor er den Satz beenden konnte, schlug ihm der Gardist hinter ihm wuchtig gegen den Hinterkopf.
Der Getroffene grunzte, dann fuhr er fort. »Der Junge ist ein Dieb. Wir werden ihn verhören. Wir teilen dir das Ergebnis mit, Protektor.«
Kaum hatte der Mann seine Ankündigung ausgesprochen, galoppierten zwei Pferde auf sie alle zu. Auf einem ritt Aaron, auf dem anderen Ohaobbok. Dicht hinter ihnen folgte Silver. Die Menge wich weiter zurück, und als Aaron und Ohaobbok neben Throll und Dad abstiegen, zogen alle vier die Schwerter.
»Warum haltet ihr meinen kleinen Bruder fest?«, brummte Ohaobbok.
Ryan nutzte die Ablenkung, um in die Hände, die ihn hielten, leichte Energiestöße zu jagen. Dann schüttelte er seine Bewacher ab und rannte zu seinen Rettern. Silver traf als Letzter ein. Er baute sich vor den Gardisten auf und stimmte mit gesträubtem Nackenfell ein bedrohliches Knurren an.
Die schwarz gekleideten Soldaten warfen sich gegenseitig verunsicherte Blicke zu.
Die Pattstellung dauerte einen langen, angespannten Moment an. Dann zeigte der Gardist, der das Sagen zu haben schien, drohend auf Throll.
»Das ist noch nicht vorbei, Protektor«, warnte er. »Azazel erwartet, dass Diebe bestraft werden. Wenn du nicht für Recht und Ordnung sorgst, werden wir es tun.«
»Ich werde der Sache mit Sicherheit auf den Grund gehen«, erwiderte Throll. »Ihr könnt euch getrost darauf verlassen, dass der Richtige bestraft wird.«
Der Soldat ließ ein angewidertes Grunzen vernehmen, bevor er mit seinen Kameraden abrückte.
Throll und Dad nahmen Ryan so an den Armen wie zuvor die Gardisten und zogen ihn in Richtung des Hauses der Lancasters. Aaron und Ohaobbok gingen voraus und führten ihre Pferde durch die Menge. Silver bildete das Schlusslicht, immer noch mit einem tiefen, warnenden Knurren.
»Das war knapp«, sagte Throll mit leiser Stimme.
»Offenbar habt ihr meine Nachricht erhalten«, murmelte Ryan.
Dad nickte. »Haben wir alle.«
Aaron schaute über die Schulter zurück. »Ohaobbok und ich haben gerade mit den Schwertern geübt, als die Vibrationen eingesetzt haben. Ein Glück, dass Ohaobbok immer noch langsam ist, er war nämlich mitten im Schlag, als die Nachricht begonnen hat.« Er stupste seinen viel größeren Freund in die Rippen. »Sonst hätte ich den Kopf verlieren können.«
»Ich hätte mich fast an meinem Bier verschluckt«, sagte Dad. »Gut, dass Throll und ich schon hier waren und nach einem Geschenk für deine Mutter und Gwen gesucht haben.«
»Was habt ihr für sie besorgt?«, fragte Ryan.
Dad schaute verlegen drein. »Deine Nachricht hat uns unterbrochen, bevor wir mit dem Einkaufen fertig waren.«
»Dein Vater beugt die Wahrheit ein bisschen«, warf Throll schmunzelnd ein. »Die Verlockung meines Lieblingsbierstands hat uns aufgehalten.«
Auch Ryan schmunzelte. »Nach eurem Auftritt eben bewahre ich gern euer Geheimnis.«
* * *
Leider hatten sie es noch nicht mal nach Hause geschafft, als sie erneut Ärger durch den Unruhestifter Schling ereilte. Sie befanden sich auf offener Straße, und Ryan fing gerade an, sich wieder zu entspannen, als ein Pfeil an seinem Ohr vorbeischwirrte. Gleich darauf setzte Schmerz ein, und als er mit der Hand sein Ohr betastete, spürte er Blut an den Fingern. Anscheinend hatte ihn der Pfeil gestreift, wenn auch leicht.
Als er herumwirbelte, erblickte er Schling im hohen Gras stehend, den Bogen direkt auf ihn gerichtet. Er hatte bereits einen weiteren Pfeil angelegt.
»Du bist tot«, lallte der Grobian. Warum der Junge Ryan verfehlt hatte, wurde offensichtlich. Er war betrunken. »Du kämpfst nicht fair und hast mein Leben ruiniert. Jetzt endet es.«
Ryans Herz raste. Schling wirkte wackelig auf den Beinen, trotzdem gab es keine Garantie, dass er ein zweites Mal danebenschießen würde.
»Tu das nicht, Schling«, brüllte Throll. »Lass uns reden ...«
Schling feuerte den Pfeil ab.
Die Zeit schien sich für Ryan zu verlangsamen, als der Schaft geradewegs auf seine Brust zuraste. Rein reflexgesteuert bündelte er seine Energie auf den heranfliegenden Pfeil. Funken schossen aus seinen Fingern.
Der Pfeil verbrannte nur einen Wimpernschlag, bevor er ihn erreicht hätte.
Auch Dad hatte reagiert, leider mit weit weniger Kontrolle über seine Kraft als Ryan. Aus ihm brach ein gewaltiger Energiestrom hervor, der durch den Pfeil blitzte und Schling in einen wilden Flammenstrudel hüllte. Innerhalb weniger Herzschläge blieb von Schling nur ein glimmender Haufen verkohlter Knochen übrig.
Ryan starrte seinen Vater fassungslos schweigend an.
Allerdings wirkte sein Vater selbst noch entsetzter als Ryan. »Das wollte ich nicht ...«
»Er hat versucht, uns umzubringen«, ergriff Ohaobbok das Wort. »Es war Notwehr.«
Throll nickte. »Richtig. Keinen von euch beiden trifft irgendeine Schuld. So etwas kann passieren, wenn man einen Groll mit Alkohol mischt ... und einer Prise Dummheit.«
Aaron schüttelte den Kopf. »Das war mehr als eine Prise Dummheit. Was hat er sich nur dabei gedacht? Dass es ihm gelingen könnte, uns alle zu erledigen? Oder dass wir tatenlos dabei zusehen würden, wie er Ryan umbringt, und ihn dann gehen lassen würden?«
Dad schwieg immer noch, aber Throll fuhr mit der Hand über den Griff seines Schwerts. »Genug davon. Lasst uns die Überreste verscharren. Und falls jemand fragt, ist der Unruhestifter namens Schling einfach verschwunden. Ich erzähle Azazels Soldaten, dass ich den Zeugen befragen wollte, ihn aber nicht finden konnte. Das sollte Ryans Namen reinwaschen, immerhin war Schling der einzige ›Zeuge‹ dieser frei erfundenen Anschuldigung.«
Als sie begannen, sich um die Überreste des unglückseligen Schlings zu kümmern, konnte Ryan nicht umhin, das nachdenkliche Schweigen seines Vaters zu bemerken.