Eine neue Ankunft

Jared saß auf den Stufen vor dem Haus der Lancasters und beobachtete Throll, der rastlos hin und her lief. »Was hast du denn erwartet?«, fragte er lächelnd. »Mir ist schon klar, dass du für sie da sein willst. Aber in einer solchen Situation kann ein Mann wenig tun.«

Throll hielt inne. »Ich weiß, aber ich fühle mich so hilflos. Sie leidet solche Schmerzen, dass es mich in den Wahnsinn treibt.«

»Wie ist es im Vergleich zur ersten Geburt? Anders?«

Throll lächelte liebevoll. »Bis jetzt ist es diesmal viel leichter. Als es mit Sloanes Geburt losging, hat Gwen mich mit Dingen beworfen und gedroht, mich in der Scheune anzubinden, wenn ich sie nicht in Ruhe lasse.«

Jared lachte. »Na, dann ist es diesmal ja harmlos. Mach dir keine Sorgen, Aubrey kümmert sich um sie. Sie sorgt dafür, dass nichts schiefgeht.«

* * *

Unter Aubreys Anleitung verlief die Geburt bemerkenswert reibungslos. Und zur Überraschung aller war Gwen nicht nur bereits am nächsten Tag wieder auf den Beinen, sie wollte den frischgebackenen Knaben auch so schnell wie möglich zum Brunnen bringen.

»Bist du sicher, Liebste?«, fragte Throll sie. »Ich mache mir Sorgen, dass du dich überanstrengst. Immerhin hast du gerade erst entbunden.«

Gwen streichelte liebevoll seine Wange. »Mir geht’s gut. Aubreys Heilbad hat wahre Wunder gewirkt. Für uns beide.« Sie blickte auf den Säugling in ihrer Armbeuge hinab. »Du siehst ja, wie glücklich und gesund er ist. Sogar der Bauchnabel ist schon völlig verheilt. Ehrlich gesagt fühle ich mich gerade besser als je zuvor im Leben.«

Throll wandte sich an Aubrey. »Ich danke dir aufrichtig, dass du meiner Frau und meinem Sohn durch diese Tortur geholfen hast. Und ich danke all den merkwürdigen Zufällen und Prophezeiungen, die unsere Familien zusammengeführt haben.«

»Mir musst du nicht danken«, gab Aubrey zurück. »Ich will lieber wissen, wie ihr euren hübschen Jungen nennen wollt.«

Throll schaute zu Gwen. »Hast du dich schon entschieden? Können wir ihn so nennen, wie wir es besprochen haben?«

Gwen nickte.

Mit einem breiten Lächeln betrachtete Throll das schlafende Baby in ihren Armen. »Willkommen auf dieser Welt, Zenethar Lancaster.«

»Zenethar?«, fragte Ryan.

»Zenethar war der Name des ersten Protektors«, erklärte Throll. »Ein ehrenvoller Name. Ich hoffe, er wird meinem Sohn gute Dienste erweisen und ihm ein langes, gesundes Leben voll Ehre und Glück bescheren.«

»Amen«, sagten die anderen wie aus einem Mund.

* * *

Da sich die Soldaten des Zauberers immer noch in der Nähe herumtrieben, bestand Throll darauf, dass sie Zenethar im Schutz der Nacht zum Baderitual brachten. Als sie sich dem Brunnen näherten, wandte er sich an Ohaobbok.

»Du hast die beste Nachtsicht. Siehst du irgendwelche Soldaten?«

Der Oger schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sehe niemanden.«

Throll rückte das schlafende Baby in seinen Armen zurecht. »Tja, dann ist es wohl an der Zeit.«

Mit Gwen an der Seite schritt er auf den Springbrunnen zu. Die beiden Eltern wechselten einen Blick, dann senkte Throll den kleinen Zenethar ins Wasser.

Kaum war der Kleine unter die Wasseroberfläche getaucht, gerann Throll das Blut in den Adern zu Eis, da die Kugel der Statue erschreckend hell aufleuchtete. Ein Schwarm Vögel krächzte laut und stob von demselben Baum hoch, auf dem die Tiere schon einmal gehockt hatten.

Throll hob seinen Sohn wieder hoch und drückte sich den triefnassen, weinenden Säugling an die Brust. »Gehen wir«, sagte er. »Schnell.« Er legte den Arm um seine Frau, die ebenfalls weinte. »Vergiss die Omen, Liebste. Ich lasse nicht zu, dass unserem Kind etwas zustößt.«

* * *

In jener Nacht konnte Throll nicht schlafen. Ungeachtet der tröstenden Worte für seine Frau haderte sein Verstand damit, was das Omen für die Zukunft seines Sohnes bedeuten könnte.

Dann erschien wie als Antwort eine Vision vor seinen Augen.

Der Körper des ersten Protektors ruht auf einem Podest, abgeschirmt von einem seltsamen Kokon aus wandelbarem Nebel. Bald wirkt er durchscheinend, bald wird er blickdicht und nimmt verschiedene Regenbogenschattierungen an.

Über ihm steht eine in graue Gewänder gehüllte Erscheinung. Eine greise Frau. Zerzaustes graues Haar umrahmt ihr faltiges Antlitz. Sie schwenkt eine knorrige, arthritische Hand über den Nebel, und die funkelnde Barriere löst sich auf.

Zum ersten Mal seit 500 Jahren setzt sich der erste Protektor auf.

Nach einem weißen Blitz entfaltete sich eine neue Szene vor Throlls Augen.

Ein vertraut wirkender, gutaussehender junger Mann mit feuerrot schimmernder Rüstung und Bewaffnung reitet auf seinem Pferd durch eine riesige Armee und erteilt Anweisungen. Die Soldaten um ihn herum umfassen nicht nur Menschen, sondern auch Zwerge und möglicherweise Elfen.

Der General zieht sein Schwert aus der Scheide, schwingt es über dem Kopf und richtet es dann nach vorn. In der Ferne schwebt eine große schwarze Wolke, die Verzweiflung ausstrahlt, über einer anderen Armee – die einem Albtraum entsprungen zu sein scheint.

Nach einem weiteren weißen Blitz schüttelte Throll den Kopf und konnte kaum fassen, was er gesehen hatte. Bevor er darüber nachdenken konnte, was es bedeuten mochte, überkam ihn eine weitere Vision.

Ein riesiger Oger überquert eine natürliche Steinbrücke über eine tiefe Kluft. Er trägt einen Harnisch, der in makellosem Weiß leuchtet und bei jeder Bewegung Funken sprüht. An seiner Seite hängt das größte Schwert, das Throll je gesehen hat. Die Klinge steckt in einer Scheide, aber der Knauf ist rot.

Dem Oger folgt ein junger Zauberer. In einer Hand hält er einen funkelnden Metallstab, in der anderen einen glitzernden Diamanten der Größe einer Melone. Der Edelstein pulsiert vor strahlender Macht.

Von der anderen Seite der Kluft nähert sich über die Brücke eine Schreckensgestalt aus Schwärze und Feuer, ein Unhold. Die Erscheinung ist genauso groß wie der Oger und schwingt ein ebenso riesiges Schwert, umhüllt von Flammen.

Als der Oger in der Mitte der Brücke auf den Unhold trifft, erscheint auf der anderen Seite eine dunkle, spürbar böse Präsenz. Sie ist gewaltig. Sowohl der Unhold als auch der Oger nehmen sich im Vergleich zu ihr zwergenhaft aus.

Der Zauberer erhebt den Diamanten hoch über seinen Kopf.

Weißes Licht blitzte auf, und Throll schüttelte den Kopf.

Es war Zeit vergangen. Der Morgen war angebrochen. Das Baby schlief friedlich in seinem Stubenwagen. Aber neben ihm setzte sich Gwen erschrocken auf.

»Hattest du gerade einen seltsamen Traum über den ersten Protektor?«, fragte sie, zitternd vor Angst. Tränen lösten sich von ihren Augen. »Einen anderen als den normalen Traum?«

Throll nickte. »Ja. Anscheinend spielen die Kinder unserer Gäste eine bedeutende Rolle in der Zukunft Trimorias. Und der Oger auch.«

»Die Dinge werden sich bald ändern, nicht wahr?«, flüsterte Gwen.

Throll umarmte sie zärtlich. »Die Zeit wird es weisen ...«

* * *

Als alle am Frühstückstisch saßen, verglichen sie ihre Eindrücke der Vision miteinander.

»Ich denke, wir können daraus schließen, dass der Traum die zwergische Prophezeiung bestätigt«, sagte Throll. »Ich fürchte, die um diesen Tisch Versammelten halten das Schicksal Trimorias in den Händen.«

Aaron verspürte zugleich Anspannung und freudige Erregung. »Ich kann nicht fassen, dass ich eine Armee von Menschen, Zwergen und Elfen anführen soll!« Er legte die Stirn in Falten. »Wir werden uns mit den Zwergen treffen müssen, um die Sache zu besprechen. Aber wie kommen wir in die Berge? Die Felswand, von der Ohaobbok gefallen ist, kann man nicht raufklettern. Ich hab’s versucht.«

»Ich bin nicht gefallen «, warf Ohaobbok ein. »Ich wurde geworfen, weißt du noch?«

Aaron nickte. »Ich weiß. Deine Mutter ist ein bisschen fieser als meine.«

Ma bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Oh, also bin ich nur ein bisschen netter?«

»Tut mir leid, Ma. Aber zurück zu meinem Punkt: Wie soll ich diese Zwerge für meine Armee finden, wenn wir nicht in die Berge können?«

»Immer mit der Ruhe, General Aaron.« Throll lächelte. »Du wirst diese Armee ja nicht gleich morgen anführen. Die Vision legt nahe, dass wir Jahre Zeit haben, uns vorzubereiten. Ich bin sicher, wenn es so weit ist, fällt uns etwas ein.«

»Was ist mit den Elfen?«, fragte Sloane mit funkelnden Augen. »Meint ihr, es stimmt, dass einige in den Wäldern in der Nähe leben?«

Gwen schüttelte den Kopf. »Das sind nur müßige Gerüchte und Legenden.«

»Wir sollten die junge Frau fragen, die Aubrey geheilt hat. Sie war in den Wäldern.« Schelmisch wanderte ihr Blick dabei zu Ryan. Aaron hatte ihr erzählt, wie Ryan das Mädchen angeglotzt hatte. »Ich hab’s vergessen ... wie heißt sie noch mal?«

»Arabelle«, antwortete Ryan schnell. Seine Wangen liefen rot an.

Sloane grinste. »Ryan, du solltest sie suchen und sie fragen, ob sie irgendwelche Elfen gesehen hat.«

Ryans Wangen schillerten noch greller. Offensichtlich schwärmte er für das Mädchen – es ließ sich kaum übersehen.

»Ich habe über etwas Vordringlicheres nachgedacht«, meldete sich Dad zu Wort. »Wenn wir alle diese Visionen hatten, dann wahrscheinlich auch jeder andere in Trimoria. Aaron und Ryan, euch beide konnte man darin deutlich sehen – und ich will nicht, dass ihr erkannt werdet, vor allem nicht von den Soldaten des Zauberers. Deshalb verlange ich, dass ihr beide nicht in die Stadt geht, bis die Karawane und die Soldaten weg sind. Und selbst danach nur, wenn es nötig ist.«

Aaron setzte eine Schmollmiene auf.

Throll wandte sich an Ohaobbok. »Um dich mache ich mir auch Sorgen. Dein Gesicht verstecken wir ja schon. Aber ich möchte dich bitten, im Haus statt in der Scheune zu schlafen. Ich weiß, das wird ein bisschen unbequem, weil wir kein Bett in deiner Größe unterbringen können. Aber ich hätte uns gern alle unter einem Dach, damit wir aufeinander aufpassen können.«

Ohaobbok schüttelte den Kopf. »Hab keine Angst um mich. Ich kann auf mich aufpassen. Und auch auf euch. Ich möchte gern wissen, ob du uns weiterhin ausbildest. Dieser Vision zufolge werde ich es mit einem furchterregenden Feind zu tun bekommen. Dafür will ich gut vorbereitet sein.«

Throll nickte. »Die Ausbildung wird auf jeden Fall fortgesetzt. Tatsächlich schlage ich angesichts der neuen Erkenntnisse über unser Schicksal vor, dass wir dabei einen Zahn zulegen.«

Aaron spürte, wie seine Erregung wuchs.

»Du wirst ein neues Schwert brauchen, Ohaobbok«, sagte Jared. »Mir ist schon davor durch den Kopf gegangen, dass dein derzeitiges Schwert zu klein für deine Stärke ist. Und jetzt ... jetzt denke ich erst recht, ich sollte für dich etwas anfertigen, das dem in der Vision ähnelt. Für die meisten Menschen wäre das ein Zweihänder, aber ich vermute, du wirst es mit einer Hand führen können.«

»Das ist eine hervorragende Idee«, befand Throll. »Aber Jared, ich schlage vor, du nimmst ab sofort ein Pferd zur Schmiede. Ich weiß, es ist nur ein kurzer Spaziergang und du genießt ihn. Aber falls über unsere Ringe ein Notruf eintrifft ...«

»Einverstanden«, willigte Dad ein.

»Was ist mit mir?«, fragte Ryan. »Aus der Vision ist nicht klar hervorgegangen, was ich tun werde. Wie soll ich mich vorbereiten?«

»Ich würde sagen, du arbeitest einfach weiter an deinen magischen Fähigkeiten«, sagte Dad.

»Du kannst noch mehr tun«, fügte Throll hinzu. »Ich habe eine Reihe alter Bücher in meiner Bibliothek. Vielleicht findest du darin etwas über die Kluft aus der Vision. Oder sogar über Magie. Aber bitte geh vorsichtig mit ihnen um – sie sind durch das Alter brüchig geworden.«

Ryan nickte enthusiastisch. »Mach ich.«

Aaron hingegen verdrehte die Augen. Er konnte sich nichts Langweiligeres vorstellen als alte Bücher.

Vermutlich ahnte Throll, was ihm durch den Kopf ging, denn er schnippte mit den Fingern und zeigte auf Aaron und Ohaobbok. »Ihr zwei, aufessen. Gleich nach dem Frühstück verschärfen wir eure Ausbildung. Und ich kann euch versprechen, dass ihr alle Kraft brauchen werdet, die ihr kriegen könnt.«

Aaron grinste. Und warum auch nicht? Immerhin sollte er General einer großen Armee werden.

* * *

Ryan saß an einem Tisch in Throlls Arbeitszimmer und brütete über einem Buch mit dem Titel Die Theorie der Zauberkunst . Er hatte mit heftig philosophischer oder mystischer Lektüre gerechnet. Stattdessen las sich der Text eher wie ein Mathematikbuch. Dennoch verstand er ihn. Und je mehr er las, desto mehr stellte er fest, dass die Theorien grundsätzlich mit den Annahmen übereinstimmten, die sein Vater und er bei ihren zahlreichen Experimenten aufgestellt hatten.

Eine entscheidende Prämisse des Buchs war eine bestimmte Gleichung:

Stärke der Magie = Rate der Magie / Widerstand des Mediums

Was im Wesentlichen bedeutete: Die Kraft, die ein Zauberer mit einem Energiestoß entfesselte, ergab sich daraus, wie schnell die Energie abgegeben wurde und wie viel Widerstand das Medium zwischen dem Zauberer und seinem Ziel aufwies. Luft zum Beispiel bot wenig Widerstand, Gestein hingegen viel. Er erinnerte sich noch daran, wie schwierig er es empfunden hatte, als er zum ersten Mal auf etwas unter Wasser einwirken wollte.

Dem Buch zufolge traten magische Fähigkeiten in Trimoria allgemein selten auf. Aber die wenigen Glücklichen, die sie besaßen, konnten am häufigsten Energie in Form von Blitzen oder Hitze übertragen. Am zweithäufigsten schienen Heilkräfte zu sein. Demnach gehörten seine Fähigkeiten und die seiner Mutter zu den »traditionelleren« Arten von Magie. Zumindest war es zum Zeitpunkt der Entstehung des Buchs so gewesen. Allerdings wurde erwähnt, dass sich die Macht der meisten, die Energie übertragen konnten, darauf beschränkte, beispielsweise eine Feuerstelle anzuzünden oder jemandem kleinere Verbrennungen zu verpassen. Was Ryan konnte, schien extrem selten zu sein. Wer solche Macht besaß, wurde im Buch als »Kampfzauberer« bezeichnet.

Ryan gefiel der Klang des Begriffs.

Merkwürdig fand er, dass mit keinem Wort ungewöhnliche Körperkraft wie die von Aaron erwähnt wurde. Auch die Fähigkeit, Energie in Gegenstände zu übertragen, wurde nicht genannt. An einer Stelle hieß es, die magischen Kräfte entwickelten sich mit dem Heranwachsen des Zauberers weiter. Das fand Ryan enttäuschend, denn es bedeutete, er würde sein volles Potenzial erst ausschöpfen können, wenn er älter wäre. Andererseits war es aufregend zu wissen, dass er noch stärker werden würde.

Besonders interessierte Ryan ein Kapitel, in dem es darum ging, wie man ein sogenanntes »Lähmungsnetz« erschuf. Statt einen einzigen Energiestoß auf ein Ziel zu entfesseln, bestand dieses Netz aus Hunderten winzigen Energiefäden, die jemanden außer Gefecht setzen konnten, ohne ihn zu verbrennen. Ryan erinnerte sich nur zu gut, was aus Schling geworden war. Er fand, es könnte auf keinen Fall schaden, eine weniger ... verheerende Verteidigung gegen Angreifer im Repertoire zu haben.

Also hielt er sich an die Vorschläge aus dem Kapitel und versuchte, statt eines Energiestroms eine Wolke aus seinen Fingerspitzen entstehen zu lassen. Zu seiner Überraschung gelang es ihm gleich beim ersten Versuch. Während er staunend die Wolke aus knisternder Energie betrachtete, die zwischen seinen Händen schwebte, ging ihm durch den Kopf: Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein würde?

Er hatte sich wieder in das Buch vertieft, als ihn das Knarren einer Bodendiele im Flur aufschreckte. Es überraschte ihn – das einzige andere Zimmer an diesem Ende des Gangs war Throlls und Gwens Schlafzimmer, und beide mieden die knarrende Stelle. Immer. Sonst hörte Ryan das Geräusch nur, wenn er selbst darauf trat.

Irgendetwas stimmte nicht. Er spürte es. Die Nackenhaare sträubten sich ihm.

Er steckte den Kopf aus dem Arbeitszimmer. Die Schlafzimmertür stand offen. Leise schlich er vorwärts und spähte hinein.

Gwen lag im Bett und schlummerte. Neben dem Bett stand der Stubenwagen, in dem auch Zenethar tief und fest schlief.

Und über dem Stubenwagen stand ein schwarz gekleideter Mann.

Mit erschreckender Wut erinnerte sich Ryan schlagartig an die Lektion aus dem Buch und entfesselte eine gewaltige Energiewolke auf den Eindringling. Ein Netz funkelnder Fäden wickelte sich fest um den Mann und ließ ihn zu Boden fallen.

Gwen setzte sich abrupt auf, sah, was vor sich ging, und schrie. Das Baby wachte auf und fügte dem Tumult eigene Schreie hinzu.

Ryan zog das Netz fester und presste dem Mann die Luft aus der Lunge. »Hol Throll und die anderen!«, sagte er zähneknirschend. »Sofort, Gwen!«

Sie schnappte sich ihr Kind und flüchtete aus dem Zimmer. Nur wenige Augenblicke später kehrte sie mit Throll, Ohaobbok und Aaron zurück. Alle trafen mit gezückten Schwertern ein.

Throll streckte die Hand aus, um den Mann am Arm zu packen, zuckte aber zurück, als seine Finger Ryans Energienetz berührten. »Lass ihn los, Junge«, sagte er. »Ich will hören, was er zu sagen hat.«

Ryan spürte allmählich die Anstrengung, die es ihn kostete, das Lähmungsnetz aufrechtzuerhalten. Nur allzu gern gab er es auf. Er brach praktisch auf den Boden zusammen, als Erschöpfung über ihm zusammenschwappte.

»Erste Frage«, brummte Throll, der über dem Eindringling stand. »Was hast du in meinem Schlafzimmer verloren? Zweite Frage. Wer hat dich geschickt? Antworte! Sofort!«

Als sich der Mann auf den Rücken rollte, mahlten seine Kiefer, während er die Lippen schürzte, als würde er etwas kauen. Dann rollten die Augen nach oben, und Schaum blubberte ihm aus dem Mund. Sein Körper verkrampfte sich, sein Rücken wölbte sich durch, bevor er abrupt erschlaffte und regungslos liegen blieb.

»Ist er tot?«, fragte Aaron.

Ryan spürte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen. »Hab ich ihn umgebracht?«

Throll untersuchte den Leichnam. »Ja, er ist tot. Aber nein, Ryan, du hast ihn nicht umgebracht. Anscheinend wollte der Mann seine Geheimnisse so sehr bewahren, dass er bereit war, auf eine Giftkapsel zu beißen. Er muss sie im Mund versteckt gehabt haben.«

Von der Tür ertönte ein leises Schluchzen. Ryan drehte sich um und stellte fest, dass Gwen zurückgekehrt war.

»Was für ein Mann würde so etwas tun?«, fragte sie.

Statt einer Antwort zog Throll eine Halskette unter dem Brustpanzer des Mannes hervor und hielt sie für alle sichtbar hoch. Das Zeichen des Zauberers Azazel prangte darauf.

»Ich glaube, er ist ein Meuchler«, sagte Throll. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ...« Er verstummte. Tränen bildeten sich in seinen Augen. »Die Vermutung liegt nahe, dass Männer wie der hier für das Unglück verantwortlich sind, das meine Familie seit Generationen verfolgt. Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, Ryan ...«

Throll schüttelte den Kopf und durchsuchte den Toten weiter. Außer der Halskette fand er einen schwarzen Dolch aus Obsidian und eine Kapsel mit Flüssigkeit.

Throll hielt die Kapsel hoch. »Wenn ich mich nicht irre, ist das weiteres Gift, wahrscheinlich für meinen Sohn bestimmt. Ein Gift, das einen stillen, natürlich wirkenden Tod verursachen würde.«

»Und der Dolch?«, fragte Dad. Er und Ma waren gerade eingetroffen, und ihr standen Tränen in den geröteten Augen. Jemand musste sie über die Ringe gerufen haben. Ryan war so konzentriert darauf gewesen, den Attentäter zu überwältigen, dass er die Vibrationen am Finger nicht mitbekommen hatte.

»Den Dolch hätte jemand zu kosten bekommen, der dem Meuchler bei seiner Mission in die Quere gekommen wäre.« Er warf einen Blick zu seiner Frau, dann schaute er zu Ryan auf. Die Tränen hatten sich letztlich gelöst und kullerten über seine Wangen. Als der hünenhafte Mann das Wort ergriff, klang seine Stimme brüchig. »Ryan ... ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

Es fiel Ryan schwer, Throll in die Augen zu schauen. Es brach ihm das Herz, ihn so zu sehen.

Und tief in seinem Herzen wusste er: Wo es einen Meuchelmörder gab, da gab es noch mehr. Er hatte das Unvermeidliche nur hinausgezögert.

Die richtige Gefahr für sie begann erst.