Die nächsten Tage genoss Aaron in vollen Zügen, da er mit seiner neuen Ausrüstung trainierte. Anfangs war es – für sie alle – anstrengend, aber am dritten Tag hatten sie sich an das zusätzliche Gewicht gewöhnt. Mittlerweile hatte Throll Ohaobbok und Aaron zu kompetenten Schwertkämpfern erklärt, und die Übungen wurden zunehmend anspruchsvoller.
Gegen Ende einer Übungseinheit vibrierte plötzlich Aarons Verständigungsring. Es handelte sich um eine Warnung für erhöhte Wachsamkeit. Wie er wusste, würden sich die Frauen mit Zenethar in den Kühlraum zurückziehen und dort die Tür hinter sich verriegeln. Und dann gab sich der Absender der Nachricht zu erkennen: Throll.
Aaron schaute zu ihm hinüber. Und tatsächlich, der Waldhüter tippte fieberhaft mit dem Finger auf den Ring, während er die Straße entlangblickte, die aus der Stadt zum Haus der Lancasters führte. Vier berittene, schwarz gekleidete Soldaten näherten sich.
Aarons Bruder erschien an seiner Seite. Offenbar hatte Ryan die Nachricht erhalten und war aus Throlls Bibliothek hergeeilt.
»Mach dich bereit«, sagte Aaron.
Ryan nickte und straffte die Schultern.
Ohaobbok verschwand in die Scheune und kehrte mit seiner Kutte über der Rüstung und aufgesetzter Kapuze zurück. Wie immer durfte ein Oger nicht gesehen werden, schon gar nicht von Gardisten.
Auf dem Hof hielten die Reiter an. Wie Aaron erwartet hatte, wiesen ihre Brustpanzer die Insignien des Zauberers Azazel auf.
Der Anführer der Soldaten blickte hochmütig von seinem Pferd herab. »Wir sind hier, um den Fall eines verschwundenen Soldaten zu untersuchen.«
Throll trat vor. »Wir wissen nichts von einem verschwundenen Soldaten, aber vielleicht können wir helfen. Kannst du ihn beschreiben?«
Der Anführer nahm den Helm ab. Zum Vorschein kam ein grobschlächtiges Gesicht. Er wischte sich mit dem behandschuhten Handrücken über die Stirn. »Ein schwarz gekleideter Soldat. Er sollte vor drei Tagen dieses Haus aufsuchen und sich danach sofort in der Kaserne zurückmelden.«
»Kaserne?«, hakte Throll nach. »Mir ist keine Kaserne bekannt.«
»Sie ist auch nicht allgemein bekannt, Waldhüter. Wir haben uns in der Herberge einquartiert und uns angewöhnt, sie als Kaserne zu bezeichnen.« Der Mann lächelte bedrohlich. »Wir sind zahlreich.«
Aaron merkte dem Waldhüter seine Wut an der Haltung an, aber als Throll wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme ruhig. »Um die Frage zu beantworten, guter Soldat, ich kann mich nicht erinnern, jemanden in Schwarz gesehen zu haben.«
Throll drehte sich Ryan, Aaron und Ohaobbok zu und stellte ihnen provokant die Frage, ob sie jemanden gesehen hatten, auf den die Beschreibung passte. Alle bestätigten, dass dem nicht so war.
»Siehst du?«, wandte sich Throll wieder an den Anführer. »Wir haben deinen verschwundenen Soldaten nicht gesehen.« Dann straffte er stolz die Schultern. »Aber bitte sag, warum hätte uns eigentlich ein Soldat mit seiner Anwesenheit beehren sollen?«
Der Anführer ignorierte Throlls Frage. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Frau deines Hauses unlängst niedergekommen ist. Ich würde mir das Kind gern ansehen.« Während er sprach, zogen seine Gefährten deutlich sichtbar die Schwerter ein Stück aus den Scheiden.
Aaron erstaunte, wie ruhig Throll unter Druck blieb. »Tut mir leid«, gab er ungerührt zurück. »Meine Gemahlin besucht gerade mit dem Kind ihre Schwester.«
Der Anführer setzte eine Miene auf, als wollte er andeuten, dass er eine Lüge witterte. »Dann hast du ja bestimmt nichts dagegen, wenn wir dein Haus durchsuchen«, gab er mit knurrendem Unterton zurück.
Aaron hielt den Atem an, während er gespannt darauf wartete, wie sein Lehrmeister darauf reagieren würde. Throll wog einen Moment lang seine Möglichkeiten ab. Dann entschied er offenbar, dass es nichts mehr zu sagen gab, und zog sein Schwert.
Aaron und Ohaobbok folgten seinem Beispiel. Ryan streckte die Hände aus, bereit, seine Magie zu entfesseln.
»Ihr werdet mein Haus nicht durchsuchen«, verkündete Throll schlicht. »Wir haben kein Verbrechen begangen, also besteht dazu kein Grund. Ich schlage vor, ihr verlasst mein Grundstück.«
Auch die Reiter zogen die Schwerter. Metall funkelte im Sonnenlicht. Die vier Pferde tänzelten ängstlich, weil sie die Gefahr witterten. Aaron biss die Zähne zusammen und versuchte, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was der Waldhüter ihnen über den Kampf in Unterzahl beigebracht hatte.
In dem Moment flog die Haustür auf. Zu Aarons Entsetzen schlenderte Sloane heraus. Geh wieder rein, dachte er. Du bist uns sonst nur im Weg. Dann jedoch erkannte er, was sie vorhatte. Hinter dem Mädchen stand Silver und wirkte bedrohlicher denn je zuvor. Und als der Kater die Soldaten bemerkte, stimmte er ein tiefes Knurren an.
Die Pferde wichen zurück und warfen nervös die Köpfe hin und her. Waren sie zuvor schon unruhig, so erfasste sie nun nackte Angst.
Silver pirschte sich näher an, schien seinen Vorteil zu spüren und stieß ein ohrenbetäubendes Geheul aus.
Zwei der Pferde warfen ihre Reiter beinah ab. Die Männer hatten alle Hände voll damit zu tun, ihre Reittiere unter Kontrolle zu halten.
Der Anführer ließ den Blick der grauen Augen über die Szene wandern und schien die Chancen abzuwägen. Aaron hatte den Eindruck, der Mann hätte vielleicht gekämpft, als die Zahlen ausgeglichen waren. Aber durch die Ergänzung der knurrenden Sumpfkatze änderten sich seine Berechnungen.
»Das ist noch nicht vorbei, Waldhüter«, stieß er schließlich knurrend hervor. Dann wendete er das Pferd und galoppierte in Richtung der Stadt davon. Seine Männer folgten ihm.
Kaum waren die Soldaten außer Sichtweite, wandte sich Throll an seine Tochter. »Warum hast du das Haus verlassen?«, schimpfte er. »Du musst doch das Signal bekommen und gewusst haben, was es bedeutet. Was ist los mit dir?«
Sloanes Unterlippe begann zu beben. »Es tut mir leid – ich wusste nichts von einem Signal. Ich hab in der Küche die Töpfe gewaschen. Dabei nehme ich den Ring immer ab.«
»Und doch trägst du ihn jetzt«, stellte Throll mit hochgezogenen Brauen fest.
Tränen bildeten sich in Sloanes großen braunen Augen. »Ich habe ihn angezogen, nachdem ich mir die Hände abgetrocknet hatte. Es tut mir so leid, Vater!«
Aaron war sich nicht sicher, ob er ihr glaubte, aber Throll ließ die Schultern hängen, schüttelte den Kopf und zog seine schluchzende Tochter in eine Umarmung.
»Entschuldige. Dann war es wohl bloß Pech. Aber von jetzt an ist es wichtig, dass du den Ring immer am Finger trägst.«
Das Mädchen nickte und drückte das Gesicht an die Brust des Vaters.
In dem Moment kam Jared auf den Hof galoppiert, sichtlich außer sich vor Sorge.
»Was ist passiert?«, rief er vom Pferd herab. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.«
Throll warf seinem Freund einen verkniffenen Blick zu. »Wir hatten Besuch von Soldaten. Gewalt konnte nur mit knapper Not abgewendet werden. Mir erscheint als sicher, dass uns demnächst ein Kampf bevorsteht.«
»Dann sollten wir ein Treffen einberufen«, schlug Jared vor.
»Einverstanden.«
* * *
Bald hatten sich alle Mitglieder des Haushalts im Esszimmer versammelt, ausgenommen Ohaobbok. Er bestand darauf, draußen Wache zu halten, da er behauptete, die besten Augen zu besitzen.
»Ich kann kaum glauben, dass es nicht mit einem Kampf geendet hat«, sagte Aaron. »Hätte es wohl, wenn Silver nicht die Pferde zum Scheuen gebracht hätte.«
»Und irgendwann, vermutlich schon bald, wird es letztlich zum Kampf kommen«, sagte Throll. Er legte seiner Frau die Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. »Sie haben nach Zenethar gefragt, Liebste.«
Gwen drückte sich das Kind fest an die Brust. Sie wusste haargenau, was er damit meinte. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bestätigt.
»Sie werden zurückkommen«, sagte Jared. »Und nächstes Mal mit mehr Männern. Gehen wir von mindestens doppelt so vielen aus.«
»Wie sollen wir sie aufhalten?«, fragte Aubrey.
»Aaron und Ohaobbok sind ziemlich gut im Umgang mit dem Schwert geworden«, meinte Dad ruhig. »Und wichtiger noch, die Soldaten wissen nichts von Ryans oder meinen Kräften.« Er wandte sich an seine Söhne. »Das werdet ihr mich nicht oft sagen hören, Jungs, aber ich will, dass ihr diesen Männern keine Gnade zeigt. Denn ihr werdet umgekehrt keine von ihnen bekommen. Wenn wir von so vielen Soldaten aufgesucht werden, wie ich vermute, müsst ihr hart zuschlagen. Wenn es euch hilft, könnt ihr euch dabei vorstellen, sie würden eurer Mutter, Sloane oder Zenethar etwas antun wollen. Denn das wollen sie.«
»Du meinst, wir sollen sie umbringen?«, fragte Ryan atemlos.
»Wenn es nötig ist«, erwiderte Dad.
Aaron spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Genau dafür hatte er so hart mit dem Schwert geübt – um zu kämpfen. Aber er hatte noch nie einen Menschen getötet und war nicht scharf darauf.
»Jared«, warf Ma ein. »Findest du wirklich, es ist angemessen, sie ...«
Gwen unterbrach sie, indem sie die Hand auf die von Aubrey legte. »Jared hat recht«, sagte sie. »Wir haben keine andere Wahl, als diese Soldaten als Mörder zu betrachten. Es kann nur einen Grund geben, warum sie nach dem Kleinen gefragt haben. Sie wollen beenden, was der Meuchler nicht geschafft hat.«
»Eigentlich ... denke ich eher, sie wollen ihn erst zum Brunnen bringen, um zu überprüfen, ob magische Fähigkeiten in ihm schlummern«, merkte Ryan an.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Dad.
»Weil ich mir so gut wie sicher bin, dass Azazels Soldaten mit mir dorthin wollten, als ihr mich damals vor ihnen gerettet habt.«
»Das dürfen wir nicht zulassen«, sagte Throll. »Wir dürfen nicht zulassen, dass sie in die Nähe meines Sohnes kommen.«
»Was schlägst du vor?«, fragte Jared.
»Ich fürchte, uns wird wenig Zeit bleiben, um uns vorzubereiten. Deshalb schlage ich vor, wir fangen sofort damit an.«
* * *
In den nächsten Minuten herrschte reges Treiben. Die Rivertons besorgten sich alle etwas zu essen, damit sie ihre Fähigkeiten voll ausschöpfen konnten, zudem gab Aubrey jedem ein Fläschchen mit Heiltrank. Dann verbarrikadierten sich die Frauen mit Zenethar im Keller, während die Männer und Ohaobbok rund um das Haus Stellung bezogen. Silver lief im Hof rastlos hin und her. Auch er schien sich für den bevorstehenden Kampf zu wappnen.
Aber so sehr sie sich damit beeilt hatten, bereit zu sein, die nächsten zwei Stunden verliefen ereignislos. An Verkehr wartete die Straße nur mit zwei Bauern auf, die mit ihren Ochsenwagen in die Stadt zockelten.
Dann spürte Aaron eine über den Ring eintreffende Nachricht.
Ryan. Große Gruppe auf der Straße im Norden.
Aaron spähte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Norden. Eine leichte Wolke aus aufgewirbeltem Staub schwebte über der Straße. Er und die anderen Männer traten zu Ryan.
Dann traf eine weitere Nachricht auf ihren Ringen ein.
Gwen hier. Hab euch lieb. Tut, was getan werden muss.
Darauf folgte:
Aubrey. Und seid vorsichtig.
Bald zeichnete sich in der Staubwolke eine Kolonne gepanzerter Fußsoldaten ab, begleitet von zwei Reitern.
»Ich zähle 20«, meldete Ohaobbok.
»Nicht vergessen, Jungs«, sagte Throll. »Wartet auf mein Zeichen. Aber sobald der Kampf losgeht, haltet euch nicht zurück. Es geht um Leben und Tod.«
»Wäre mir ein Vergnügen, heute Nacht noch 20 Gräber auszuheben«, brummte Ohaobbok.
Silver musste die Anspannung in der Luft gespürt haben, denn der Kater wedelte wild mit dem Schwanz und ließ ein leises Knurren vernehmen.
Die Soldaten näherten sich dem Bauernhaus in drei Sechserreihen. Die beiden Berittenen bildeten mit Armbrüsten die Vorhut, der Rest hatte Schwerter.
Die vordersten Soldaten schienen ausschließlich Silver im Auge zu haben. Ihre Angst und ihr Zögern ließen sich nicht übersehen, und als der große Kater lauter knurrte, wichen sie zurück.
Nicht so die Vorhut. Die Reiter hoben die Armbrüste an und zielten geradewegs auf Silver. Aaron fühlte sich hilflos, wusste nicht, wie er sie aufhalten sollte.
»Armbrüste ausschalten«, rief Dad zu Ryan. »Sofort!«
Sowohl Dad als auch Ryan entfesselten Energieströme auf den Feind. Ryans dünner, präziser Strahl verbrannte eine Armbrust. Der Soldat, der sie hielt, schrie auf und schlug mit den versengten Händen gegen seinen Waffenrock. Dads Energiestrom fiel wie üblich weit weniger kontrolliert aus. Er vernichtete nicht nur die Armbrust, sondern fetzte auch ein Loch in den Soldaten, der damit gezielt hatte.
Aaron trat mit gebleckten Zähnen vor, bereit für seine Rolle im Gefecht. Noch 18 bewaffnete Soldaten standen vor ihnen. Es würde an ihm, Ohaobbok und Throll liegen, mit ihnen fertig zu werden.
Und an Silver. Als Throll zum Angriff rief, sprang die große Katze den nächstbesten Soldaten an und stieß ihn zu Boden. Blut spritzte hoch auf, als Silver kraftvoll in den Hals des Gefallenen biss. Ein anderer Soldat griff Silver von hinten an, doch Ohaobbok war rechtzeitig zur Stelle und hieb den Mann mit einem einzigen Streich seines schimmernden Schwerts in zwei Hälften. Gleichzeitig erlitt er einen Treffer von einem anderen Gegner, aber die Klinge des Soldaten prallte funkensprühend an der Schulter von Ohaobboks Rüstung ab.
Aaron wollte gerade dazu ausholen, Ohaobboks Angreifer niederzustrecken, als ein Strom weißglühender Magie sein Ziel verkohlte. Aaron schaute zurück und sah, wie ein weiterer schwarz gepanzerter Soldat auf seinen Bruder zustürmte.
»Ryan, pass auf!«, rief er.
Ryan taumelte aus dem Weg. Aaron rannte auf den Mann zu und schlug mit gezieltem Schwung das Bein unter ihm weg. Der Soldat fiel zu Boden, und Aaron gab ihm schnell den Rest.
»Gern geschehen«, sagte Aaron.
»Damit sind wir quitt«, antwortete Ryan.
Aaron wandte sich wieder dem Kampfgeschehen zu. Throll und Ohaobbok hatten in der Zwischenzeit bereits mehrere Soldaten erledigt. Die beiden großen Krieger standen Rücken an Rücken inmitten des Getümmels, bedrängt von Feinden aus jeder Richtung. Aaron staunte, wie koordiniert der Waldhüter und der Oger zusammenarbeiteten. Sie bekamen mehrere Schläge auf die Rüstungen ab, doch das Metall hielt den Treffern problemlos stand. Was man von den Rüstungen des Feinds nicht behaupten konnte. Ohaobbok hieb zwei weitere Männer mit einem einzigen mächtigen Streich seines magischen Breitschwerts entzwei, während sich Throll mit drei Gegnern auf einmal duellierte.
Silver sprang auf den Rücken eines anderen Soldaten, Ryan entsandte einen Energiestrom auf drei Soldaten, die abseits des Schwertkampfs standen. Fast im selben Moment jagte Dad einen Energieball hinter fünf Soldaten her, die sich zurückziehen wollten. Die Männer verpufften schlagartig zu Asche.
Und einfach so endete die Schlacht. Alle feindlichen Soldaten waren tot.
Aaron ließ das Schwert sinken. Er fühlte sich zugleich aufgekratzt und doch auch irgendwie leer, weil er nicht mehr beigetragen hatte. Ihn beschlich der Eindruck, dass Schwertkunst gar keine so große Rolle spielte, solange sich sein Bruder und sein Vater in der Nähe aufhielten.
Dad ergriff als Erster das Wort. »Geht es allen gut?«
»Ich werde wohl etliche blaue Flecken haben«, antwortete Ohaobbok, »aber die Rüstung hat mich wunderbar geschützt.«
»Mich auch«, sagte Throll.
Aaron nahm eine Bestandsaufnahme seiner selbst vor. »Ich glaub, mich hat nicht mal jemand berührt.«
Er spürte, wie sein Ring vibrierte, als sein Vater eine codierte Nachricht tippte.
Jared. Der Kampf ist vorbei. Alle unverletzt. Treffen uns im Esszimmer. Bin hungrig.
Die Antwort kam prompt.
Gwen. Festschmaus für alle meine Männer.
Throll lachte. »Das hört sich gut an. Obwohl es vielleicht am besten wäre, die Toten zu begraben, bevor wir essen.«
Aaron grummelte beim Gedanken an noch Knochenarbeit, ganz zu schweigen davon, wie grausig sie sein würde.
»Ich hab ’ne bessere Idee«, meinte Dad. »Wenn alle mit anpacken und die Leichen auf einen Haufen stapeln, kann ich sie mit einer Feuerbestattung entsorgen.«
Aaron schleifte zusammen mit den anderen einen Soldaten nach dem anderen zum Rand des Hofs, wo sie die Toten willkürlich auf einen Haufen warfen. Als sie fertig waren, fügte Ohaobbok den 20 gefallenen Soldaten noch die beiden verendeten Pferde hinzu.
»Bleibt zurück«, warnte Dad.
Aaron wappnete sich. Dad versteifte den Körper, dann brach ein Strom gleißender Energie aus ihm hervor, eine lodernde Flammensäule, die den Haufen umhüllte. Jedes Quäntchen Fleisch wurde rasant von der höllischen Feuersäule verzehrt. Selbst in 100 Metern Entfernung spürte Aaron die Hitze.
Nachdem die Vernichtung ihren Lauf genommen hatte, blieb nur Asche übrig, die rasch der Wind verwehte.
»Das war unglaublich, Dad«, murmelte Ryan mit großen Augen. »Ich hatte keine Ahnung, dass in dir so viel Energie steckt.«
Dad wirkte müde, beinah ausgelaugt. »Wusste ich auch nicht, aber ich wollte es ausprobieren.«
Er sprach es unbekümmert aus, dennoch vermeinte Aaron, in der Stimme seines Vaters einen traurigen Unterton zu hören.
* * *
Während Azazel auf eine Antwort des Jungen wartete, schälte er eine der stacheligen Früchte, die er so mochte. Die Frucht stammte von einer Pflanze, die nur einmal alle 15 Jahre blühte. Ob ihrer Seltenheit genoss er den Saft umso mehr.
Als der Zauberer den ersten Bissen nahm, traf der Junge ein. Ein hässlicher Junge mit verfärbten, abgebrochenen, schiefen Zähnen. Bei dem Anblick zog sich Azazel innerlich alles zusammen.
»Und, Junge?«, ergriff er düster das Wort. »Was hast du zu sagen?«
Sichtlich verängstigt stammelte der Junge: »Hoheit, ich bin Euer Fpitzel in der Ftadt Aubgherle. Mein Name ift Dominic.«
Azazel verdrehte die Augen. Hässlich und mit einem Lispeln geschlagen. Woher kriege ich immer wieder solche Rekruten? Er bedeutete dem Jungen, fortzufahren.
»Ich habe die Vögel abgerichtet, wie Ihr ef wolltet«, sagte Dominic. »Fie haben mich zum Hauf def Kindef geführt, bei dem der Brunnen geleuchtet hat.«
»Ja, ja«, sagte Azazel, der allmählich ungeduldig wurde. »Ich habe schon eine Truppe hingeschickt, um das Problem zu beseitigen. Das ist nicht neu.«
Der Junge wirkte beinah panisch. »Foldaten!«, rief er. »Verfwundene Foldaten! Fie find zum Hauf def Protektorf gegangen, um fich daf Kind zu holen, und fie find nie zurückgekommen.«
Azazel schwieg einen Herzschlag lang. »Soll das heißen, meine Soldaten werden nicht zurückkehren?«
Dominic nickte. »Ja, Herr!«
Interessant. Ihn hatte schon überrascht, dass sein Meuchler versagt hatte – normalerweise bedurfte es nicht mehr als eines ausgebildetes Todbringers. Und nun hatte auch noch die größere Truppe versagt?
»Bist du sicher, dass die Soldaten verschwunden sind?«, fragte Azazel. »Woher weißt du, dass sie sich nicht lediglich anderen Angelegenheiten gewidmet haben?«
»Fie übernachteten in der Herberge von meinem Vater. Wir haben dort Platz für viele Foldaten gefaffen. Keiner ift zurückgekommen. Wir haben fie fon feit mehreren Tagen nicht mehr gefehen. Ich bin gekommen, fo fnell ich konnte.«
Azazel nickte. »Das hast du gut gemacht. Lass mich jetzt allein. Ich muss mich um einen Besucher kümmern.«
Es ist an der Zeit, mit Ellisandrea zu reden.
* * *
Über eine Woche war ohne weitere Zwischenfälle vergangen, und Ryan beschlich allmählich das Gefühl, die Schlacht könnte ihren Sorgen ein Ende bereitet haben. Throll hatte über seine Verbindungen in der Stadt die Kunde verbreitet, alle Soldaten Azazels wären verschwunden. Niemand im Ort schien es eilig zu haben, sie zu finden. Ebenso wenig rückten neue Soldaten ein, um den Platz ihrer Vorgänger einzunehmen.
Es war ein gemächlicher Nachmittag. Außer Dad, der in der Schmiede werkelte, waren alle zu Hause. Throll saß am Esszimmertisch und brütete über einem dicken Geschichtsbuch. Ryan blätterte aufmerksam die Notizen durch, die er bei seinen Experimenten angefertigt hatte. Er verglich sie damit, was in einigen von Throlls uralten Büchern über Zauberei stand.
Silver hatte sich in der Ecke der Küche eingerollt. Plötzlich sprang der Kater auf. Sein Schwanz zuckte hin und her, und er stimmte ein tiefes Knurren an.
Throlls Blick schnellte erst zu dem Tier, dann zur Haustür, wohin Silver starrte. Der Waldhüter wandte sich an die Frauen in der Küche und sagte: »Verbarrikadiert euch. Ich habe ein ungutes Gefühl.«
Sloane eilte los, um das Baby zu holen, während Gwen ihrem Ehemann sein Schwert reichte. Ma holte die Reserveflaschen mit Milch.
Als die Frauen mit dem noch schlafenden Säugling in den Kühlraum verschwanden, tippte Ryan eine Nachricht an seinen Vater in den Ring und bat ihn, von der Schmiede zurückzukommen.
Throll schnallte sich das Schwert an die Taille, rückte seinen Brustpanzer zurecht und ging zur Vordertür. Ryan und Silver eilten hinter ihm her.
Aaron und Ohaobbok stürmten vom nahen Feld heran, wo sie geübt hatten, und alle nahmen ihre zugewiesenen Plätze auf allen vier Seiten des Bauernhauses ein. Throll sorgte sich nämlich über die Möglichkeit eines Angriffs aus mehreren Richtungen.
Kaum war Ryan in Stellung gegangen, bildete sich etwa 15 Meter entfernt neben der Straße, die an dem Gehöft vorbeiführte, eine dunkle Kugel.
Beißender Schwefelgeruch breitete sich im sanften Wind aus, während Blitze und Funken die unförmige, finstere Wolke durchzuckten. Angst kroch Ryan eiskalt über den Rücken, als die Kugel in sich zusammenfiel. Zurück blieb ein junger Mann in roter Robe mit einem altvertrauten Zeichen. Er war attraktiv, besaß ein jugendlich wirkendes Gesicht und freundliche Augen. Allerdings strahlte er eine dunkle Aura aus. Die Luft um ihn herum schimmerte bläulich-schwarz.
»Seid gegrüßt«, sagte der Mann mit herzlicher, volltönender Stimme. »Mein Name ist Azazel. Es widerstrebt mir, euer glückliches Heim zu behelligen, also will ich eure Zeit nicht lange beanspruchen. Ich habe nur ein paar einfache Fragen.«
Throll trat vor. »Ich bin Throll Lancaster, Generalprotektor von Trimoria. Wie kann ich Euch helfen, Fürst Azazel?«
Der Zauberer behielt seinen honigsüßen Ton bei. »Ich habe mich gefragt, ob ihr, meine Herren, einige meiner Soldaten gesehen habt. Sie wollten vor etwa sieben Tagen vorbeikommen, um euch für euer Neugeborenes alles Gute zu wünschen.«
»Und warum sollten Soldaten vorbeikommen, um meinem Sohn alles Gute zu wünschen?«, fragte Throll mit einem grimmigen Grinsen.
Der Zauberer erwiderte nichts, starrte den Waldläufer nur eindringlich an.
»Ich habe keine Soldaten gesehen«, sagte Throll schließlich. »Und mein Sohn ist nicht hier. Seine Mutter hat ihn zu einem Besuch ihrer Schwester in Cammoria mitgenommen. Ihr wisst ja, wie Mütter sind, sie zeigen ihre Kinder gern herum.« Wie bekümmert schüttelte er den Kopf. »Was für ein Jammer, dass Ihr den weiten Weg umsonst auf Euch genommen habt. Cammoria hätte Eurem Turm näher gelegen.«
Azazels gesamte Erscheinung wurde düster, passte sich der ihn umgebenden Aura an. »Ich spüre deine Lügen. Es hat keinen Sinn, es abzustreiten. Ich biete dir eine letzte Gelegenheit, mir zu sagen, was hier passiert ist, bevor Menschen sterben.«
Ryan tippte eine kurze Nachricht auf seinem Ring: »Vor dem Haus. Azazel.«
»Ich habe nichts mehr zu sagen«, erwiderte der Waldläufer und griff nach seinem Schwert.
Der Zauberer seufzte bedauernd. Dann schnellte seine Hand schier unvorstellbar flink in Throlls Richtung und feuerte einen Strahl weißer Energie auf den Waldläufer ab. Die Energie prallte gegen Throlls Brustpanzer und schleuderte den Mann wuchtig gegen die Mauer. Er rutschte daran zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Mit einem wilden Aufschrei blanker Wut entfesselte Ryan einen Strahl der eigenen Energie auf den Zauberer.
Doch Azazel wischte den Angriff mit einer beiläufigen Handbewegung einfach weg. »Na so was«, sagte er leise. »Da haben wir ja einen angehenden Zauberer. Du hast mir gerade den Tag versüßt, Kleiner.«
Damit entsandte Azazel einen schillernden Strahl in Ryans Richtung. Im selben Moment schoss eine zweite Energieranke aus Ryan selbst. Die beiden Ströme prallten aufeinander und entluden sich mit grellen Funken und grauem Rauch. Ryan kämpfte mit all seiner Kraft, war jedoch der Macht des Zauberers nicht gewachsen, und langsam kroch der Punkt, an dem sich die Energieströme trafen, näher zu Ryan. In wenigen Sekunden würde er vernichtet sein.
Aaron und Ohaobbok stürmten aus verschiedenen Richtungen herbei, um Azazel anzugreifen, während Silver mit gebleckten Fängen von hinten heranraste. Aber Azazel löste lediglich drei Energieranken aus dem Hauptstrom, traf seine Angreifer damit in die Brust und ließ sie in einem Durcheinander von Rüstungen und versengtem Fell zu Boden gehen.
Ryan spürte, wie er einknickte, als sich die volle Kraft des Zauberers wieder auf ihn richtete. Seine eigene Energie war beinah aufgebraucht. Er ließ alle Hoffnung fahren.
Dann raste aus der Nähe der Hügelkuppe an der Straße ein gewaltiger Energieblitz herbei und schleuderte Azazel von den Beinen. Ryan hielt Ausschau nach der Quelle und erblickte seinen Vater, das Gesicht vor lodernder Wut verzogen. Er zügelte sein verschwitztes Pferd, sprang ab und rannte los zum Kampfgeschehen.
Azazel schrie frustriert auf, als er sich auf die Beine rappelte. Dann jedoch lächelte er. »Zwei Zauberer?«, sagte er. »Oh, daran werde ich mich über Jahre weiden.«
Mit einem höhnischen Grinsen entfesselte der dunkle Zauberer einen Energiestrom auf Dad. Sein hämischer Ausdruck wich nach und nach Konzentration, als er erkannte, dass er es nicht bloß mit einem dahergelaufenen Buschzauberer zu tun hatte. Die Raserei, mit der Dad konterte, überstieg alles, was Ryan je zuvor gesehen hatte.
Rasch trank Ryan das Fläschchen mit heilender Milch von seiner Mutter leer, das er immer bei sich trug. Seine Kraft kehrte zurück, als die Energie seines Vaters zu schwinden schien. Ryan konzentrierte sich, ballte die Energie in sich, bündelte sie, bis sein gesamter Körper vor Verlangen, sie freizusetzen, bebte. Dann entfesselte er seine gesamte Kraft mit einer einzigen, vernichtenden Entladung.
Azazel, dessen Aufmerksamkeit allein Dad galt, wurde von den Beinen katapultiert. Er krachte gegen den Handkarren neben der Scheune.
Ryan brach zusammen. Er hatte jedes Quäntchen Energie eingesetzt, das er besaß. Benommen sah er seinen Vater auf den Knien. Sie hatten beide alles gegeben.
Und es reichte nicht.
Aber als Ryan hinüber zu dem dunklen Zauberer spähte, konnte er seinen Augen kaum trauen. Einer der Holzgriffe des Karrens hatte Azazel gepfählt. Der Zauberer hustete und röchelte. Blut quoll über seine Lippen.
Das kann nicht sein, dachte Ryan. Er ist der mächtigste Zauberer der Welt ...
Dad stürzte eine Flasche mit Heiltrank hinunter, bevor er rasch einen weiteren verheerenden Energieblitz auf den wehrlosen Azazel abfeuerte. Aber statt ihn zu treffen, verharrten die Funken und die Flammen nur Zentimeter vor dem Ziel. Es war, als hätte Azazel einen magischen Schild um sich errichtet.
Dennoch war der Zauberer tödlich verwundet. Mühsam riss er sich von dem Wagen los und fiel zu Boden. Seine dunkle Aura stürzte auf ihn, schrumpfte zu einem Ball aus knisterndem, schwarzem und rotem Plasma und löste sich dann in Nichts auf. Von Azazel blieb nur das Blut am Griff des Karrens zurück.
»Wo ist er hin?«, fragte Ryan. »Ist er tot?«
Dad schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht. Aber ich bezweifle es. Irgendwie vermute ich, dass er sich zurück nach Hause teleportiert hat, um seine Wunden zu lecken.«
Ein Schauder kroch Ryan über den Rücken, als ihm klar wurde, dass es noch nicht vorbei war.