Als die Karawane in Cammoria eintraf, war es für Ryan und Arabelle an der Zeit, getrennte Wege zu gehen. Was Ryan überraschend schwerfiel. Die wenigen Tage, die sie zusammen gereist waren, hatten sie praktisch unzertrennlich zusammengeschweißt. Oft waren sie zusammen über die grasbewachsenen Hügel spaziert, hatten Blumen gepflückt und miteinander gelacht – natürlich immer unter den wachsamen Blicken ihrer bewaffneten Leibgarde. Dabei hatten sie so viel übereinander erfahren, und Ryan war überzeugt davon, dass sein Vater und er die richtige Entscheidung getroffen hatten.
Als Ryan, Dad und Throll von der Karawane aufbrachen und weiter zum Turm des Zauberers ritten, wandte sich Ryan an seinen Vater. »Wenn wir hier fertig sind«, sagte er, »kannst du mir dann helfen, einen Ring für Arabelle zu schmieden?«
Dad lächelte. »Natürlich, Sohn. Schwebt dir etwas Bestimmtes vor?«
»Darüber muss ich erst nachdenken, aber auf jeden Fall soll es ein Verständigungsring sein. Ihr Vater schickt immer seine Gardisten mit, und wir können uns nie ungestört unterhalten ...« Verlegen beschlich ihn das Gefühl, bereits zu viel preisgegeben zu haben.
»Ich verstehe.« Dad zwinkerte ihm zu. »Du willst ein spezielles Paar Ringe, die nicht mit unseren verbunden sind.«
Ryans Wangen erwärmten sich. »Ja.«
Dad zerzauste ihm das Haar und lachte. »Kannst es als erledigt betrachten.«
Ryan umarmte seinen Vater.
»Ich habe doch gesagt, die beiden passen gut zusammen«, meinte Throll und grinste.
»Wie weit ist der Turm noch entfernt?«, fragte Dad und straffte die Schultern.
»Wenn ich mich recht erinnere, ein paar Stunden zu Pferd von hier.«
»Du bist schon mal dort gewesen?«, fragte Ryan überrascht.
»Noch nie im Inneren. Aber es steht in der Nähe einer Reihe von Höhlen, die ich als Kind erkundet habe.«
»Meinst du, wir schaffen es dorthin, ohne auf Schwierigkeiten zu stoßen?«, wollte Dad wissen.
Throll zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir nicht sicher sein, aber ich hoffe, dass die Soldaten des Zauberers uns für Boten halten werden, bis wir dem Turm nah sind.«
»Vergiss nicht«, erwiderte Dad, »wenn du Azazel siehst, bleibst du hinter uns. Deine Rüstung ist zwar voll aufgeladen, trotzdem würde ich sie lieber nicht noch mal auf die Probe stellen.«
Das erinnerte Ryan daran, dass er darauf achten musste, seine Energie voll aufzufüllen – von diesem Punkt an konnten sie nie wissen, wann sie vielleicht kämpfen müssten. Während sie weiterritten, holte er ein Stück Brot aus der Satteltasche und begann, davon zu essen.
»Stimmt mit dem Brot etwas nicht?«, erkundigte sich Throll. »Du machst so ein verkniffenes Gesicht.«
Ryan schnitt eine Grimasse. »Arabelle hat es gebacken. Ich glaube, es ist nicht ganz gar.«
Throll lachte grölend. »Also wohl keine gute Bäckerin, was?«
»Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, deshalb hatte sie den Großteil ihres Lebens niemanden, der es ihr beigebracht hätte«, erklärte Ryan und zuckte mit den Schultern. »Sie sagt, mit einigem kommt sie schon recht gut zurecht, aber Backen lernt sie gerade erst.«
»Tja, du bist wirklich ein hochanständiger junger Mann, dass du das halbgare Brot deiner Geliebten isst«, fand Throll. »Ich weiß noch, wie ich unter Gwens ersten Kochversuchen gelitten habe. Wir haben etliche praktisch ungenießbare Mahlzeiten hinuntergewürgt, bevor es allmählich besser wurde.«
»Vielleicht könnte Gwen ihr ja etwas beibringen«, schlug Ryan vor. »Und in der Zwischenzeit ...« Er nahm einen weiteren Bissen von dem Brot und musste beinah würgen.
Wieder lachte Throll schallend.
* * *
Bald ragte die Turmspitze fast direkt über ihnen auf. Die Pferde trabten zwischen den Bäumen hervor auf die Felder, die Azazels Turm umgaben. Der Eingang zum Turm selbst befand sich geradeaus vor ihnen. Zwei Soldaten mit dem Zeichen des dunklen Zauberers bewachten ihn. Sie rührten sich nicht von der Stelle, als sich die drei Reiter näherten.
Throll hielt vor den Wachleuten an und stieg ab. Wie immer verkörperte er durch seine Größe, seine schimmernde Rüstung und das große, leuchtende Schwert an seiner Hüfte eine einschüchternde Gestalt. Die Wachleute wirkten unbehaglich.
»Seid gegrüßt«, dröhnte Throll. »Ich bin Throll Lancaster, Generalprotektor von Trimoria. Wir ersuchen um eine Audienz beim Zauberer Azazel.«
»Eigentlich, H-Herr«, stammelte der Wachmann links, »bewachen wir heute einen leeren Turm. Fürst Azazel ist nicht zu Hause.«
»Nicht zu Hause?«, wiederholte Throll.
»Er kommt und geht«, warf der Soldat rechts ein. Der Mann wirkte weniger eingeschüchtert als der andere. »Er ist erst vor einem Tag hier aufgetaucht und gleich wieder verschwunden.«
»Wie viele seid ihr?«, fragte Throll. »Wie viele Soldaten hat der Zauberer hier?«
Der zweite Wachmann runzelte die Stirn. »Verzeih, Generalprotektor, aber ich glaube nicht, dass es Azazel gutheißen würde, wenn ich dir diese Auskunft erteile. Und ich möchte ihn nicht verärgern. Ich habe in Cammoria eine Familie, die auf mich angewiesen ist.«
Throll lächelte. »Ich verstehe, Soldat. Aber erlaube mir, deine Befürchtungen zu zerstreuen.« Er deutete mit der Hand auf Ryan und Jared. »Meine Freunde und ich haben bereits 20 Soldaten wie euch in Asche verwandelt. Azazel ist in diesem Augenblick auf der Flucht vor uns. Weißt du, der Zauberer war so unverfroren und wollte mein Kind ermorden. So etwas kann ich überhaupt nicht leiden.«
Offenbar wollte Throll die Soldaten durch eine Demonstration von Stärke erschrecken. Ryan witterte die Gelegenheit, etwas dazu beizutragen. Unbekümmert ließ er ein Geflecht aus Energie zwischen seinen Händen hin und her hüpfen.
Aus dem Gesicht des selbstbewussteren Wachmanns entwich alle Farbe, und er fiel tatsächlich in Ohnmacht.
Überraschenderweise erwies sich der nervösere Soldat als robuster, obwohl er sichtlich verängstigt war. »Bitte, G-Generalprotektor, lass nicht zu, dass d-diese Zauberer mich töten.«
Throll winkte mit einer beruhigenden Geste ab und sprach mit gelassener Stimme. »Wir wollen dir nichts tun. Tatsächlich mag ich dich irgendwie. Ich merke dir an, dass du ein pflichtbewusster Bursche bist.« Er ging näher zu dem Wachmann und legte ihm den Arm um die Schultern. »Ich sage dir was: Geh und sprich mit dem Protektor in Cammoria. Sag ihm, dass Throll empfiehlt, dich und deinen Kameraden in die Garnison der Stadt aufzunehmen. Tut das, dann wird alles gut.«
»Danke, Herr«, sagte der Soldat. »Ich würde gerne in Cammoria dienen, Herr.« Unruhig verlagerte er das Gewicht von einem Bein aufs andere.
»Gut«, befand Throll. »Aber bevor du gehst, kannst du uns sagen, in welche Richtung Azazel verschwunden ist?«
Der Soldat zeigte nach Südwesten. »Da lang, Herr.«
»Danke«, sagte Throll. »Ich wünsche dir viel Glück in Cammoria. Und nimm unbedingt deinen Freund mit.«
Der Soldat rüttelte den anderen Soldaten wach und half ihm auf die Beine. »Komm mit, Munson. Wir müssen los.«
Die beiden Soldaten eilten davon. Der namens Munson schaute noch einmal über die Schulter zurück, bevor beide Männer in Laufschritt verfielen.
Dad klopfte Throll auf die Schulter. »Glaubst du, sie tun, was du gesagt hast?«
Throll schmunzelte. »Ich glaube, wir haben ihnen genug Angst eingejagt, dass sie so ziemlich alles tun würden, was wir ihnen sagen. Zumindest für heute. Wer weiß schon, was der morgige Tag bringt? Aber ich kenne den Protektor in Cammoria wirklich. Er ist ein guter Mann und wird sich um sie kümmern.«
»Ist es klug, Angst zu erzeugen?«, stellte Dad zur Diskussion. »Ich meine ... nach dem Sturz eines Gewaltherrschers waltet immer Chaos.«
Throll nickte. »Ein weiser Punkt. Aber im Augenblick jagen wir einen gefährlichen, verwundeten Mann und können es uns nicht leisten, ihn zu unterschätzen. Wenn wir seine Soldaten dazu bringen, uns zu fürchten, erhöhen wir unsere Erfolgsaussichten. Die Angst, die wir säen, können wir noch früh genug beseitigen. Vorläufig wird sie uns gute Dienste erweisen.«
»Vermutlich hast du recht«, räumte Jared ein, obwohl er sich damit immer noch unwohl zu fühlen schien.
»Tja, jetzt ist es ohnehin schon passiert«, meinte Ryan. »Und da der Zauberer nicht da ist und niemand seinen Turm bewacht: Was haltet ihr davon, wenn wir uns mal umsehen? Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wohin er gegangen sein oder was er vorhaben könnte.«
»Den Versuch ist es wert«, fand sein Vater.
Throll trat vor und öffnete die breiten Türen. Im Turm erwies es sich als stockdunkel – keine einzige brennende Fackel, kein Lebenszeichen.
Sie traten ein, und Düsternis umhüllte sie.
* * *
Der Großteil des Turms stellte sich als entweder völlig leer heraus oder enthielt nichts von Interesse. Allerdings gab einen Raum, den sie tagelang hätten durchsuchen können: das Arbeitszimmer. An sämtlichen Wänden reihten sich Bücher um Bücher, und weitere türmten sich auf vereinzelten Tischen.
Dad entdeckte einen Stapel persönlicher Tagebücher und setzte sich prompt hin, um sie durchzusehen. Ryan blätterte wahllos in einigen davon, entdeckte aber kaum Wertvolles. Die Einträge wirkten banal, obwohl einige Passagen verdeutlichten, dass Azazel eine Abneigung gegen Zwerge hatte. Mehr als einmal äußerte er die Absicht, eines Tages in die Berge vorzudringen und sie auszurotten.
Während Dad über den Tagebüchern brütete, betrachtete Ryan die Bücher in den Regalen. Ein Schmöker mit einem Schloss erregte seine Aufmerksamkeit, und Ryan zog ihn heraus. Falls das Schloss die Geheimnisse darin schützen sollte, hatte es gerade das Gegenteil bewirkt, denn erst dadurch war Ryan darauf aufmerksam geworden. Und das Schloss hatte er mit einem Stück Draht im Handumdrehen geknackt.
Er setzte sich hin, um darin zu schmökern. Als er zu einer Stelle kam, die ihn fesselte, las er sie laut vor.
»Bringt eure Kinder zu mir, auf dass sie neugeboren geprüft werden. Denn die Wasser künden sie als Zauberer, und unsere Hoffnung verweilt bei ihnen. Ein wöchentliches Bad feit den Zauberer gegen die Macht des Bösen .«
Ryan schaute von dem Buch auf. »Throll, wie lautet die Botschaft auf dem Brunnen?«
Throll zitierte aus dem Gedächtnis. »Bringt mir eure Neugeborenen, auf dass sie im Wasser dieses Brunnens gereinigt werden.«
»Kann es sein, dass die Passage in dem Buch die ursprüngliche Botschaft war«, meinte Dad, »und dass Azazel sie verändert hat, um sie für seine Zwecke anzupassen?«
Ryan nickte. »Ich wette, Azazel benutzt die Brunnen, um magisch Begabte aufzuspüren.« Unverhofft ereilte ihn ein Gedanke. »Was, wenn Azazel an jedem Brunnen seine Spitzel hat und jedes Mal, wenn ein Kind den Brunnen zum Leuchten bringt, einen seiner Meuchelmörder schickt? Throll, hast du nicht gesagt, dass Säuglinge, bei denen der Brunnen aufleuchtet, immer ein tragisches Ende erleiden? Wir haben sogar einen Mörder mit Gift für Zenethar erwischt! Das passt total zusammen.«
Dad runzelte die Stirn. »Es klingt plausibel.«
Throll blätterte in einem Buch und grinste. »Wie es scheint, hat unser Zauberer eine Verehrerin. Hört euch das an.«
Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht längst vor Alter zu Staub zerfallen bin ... vielleicht erhält mich die Magie der Elfenkönigin am Leben. Ich weiß es schlichtweg nicht. Sie hat mir verboten, sie in Ellisanethra zu besuchen, also warte ich hier. Wie ein Gehörnter, der sich nach der Geliebten verzehrt, die ihn verschmäht hat. Ein schöner Herrscher von Trimoria bin ich ...
»Also, das ist zugleich traurig und erbärmlich«, befand Dad und schüttelte den Kopf.
»Ellisanethra ...« Ryan hatte die Karte in seiner Tasche schon beinah vergessen. Nun holte er sie hervor. »Throll, danach wollte ich dich ohnehin schon fragen.«
Der Waldhüter nahm das Papier entgegen. »Woher hast du das?«
»Es war in einem der Bücher, die Honfrion uns geschenkt hat. Zwischen die Seiten geklemmt.«
Throll runzelte die Stirn. »Ich habe noch nie von Ellisanethra gehört. Ebenso wenig habe ich je eine solche Karte gesehen, aber ...« Er nickte. »Ich glaube, ich weiß, wo dieser Wald liegt. Siehst du diese Felswand hier? Und diese Hügel? Ja ... ich glaube, das ist in der Nähe der Höhlen, die ich als Kind erkundet habe.«
Dad kam herüber, um einen Blick darauf zu werfen. »Könnte sich Azazel dorthin zurückgezogen haben, wo seine alte Freundin gelebt hat?«
»Keine Ahnung. Aber die Gegend ist nicht weit von hier. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es durch die Höhlen einen Weg, der in die Nähe dieser Wälder führt. Und sie liegen in der Richtung, in die Azazel laut den Soldaten gegangen ist. Wir könnten dort nachsehen.«
»Ich würde sagen, eine bessere Spur haben wir im Augenblick nicht.«
* * *
Sie wollten das Arbeitszimmer und den Turm gerade verlassen, als Ryan ein rötliches Funkeln von einem Kerzenhalter neben der Tür bemerkte. »Hey, Dad«, sagte er, »sieh dir das an. Das Material ist mit roten Kristallflocken oder so gesprenkelt.«
Jared ergriff den Kerzenhalter und begutachtete ihn dicht vor seinem Gesicht. »Interessant. Ein solches Metall ist mir noch nie untergekommen. Throll, kommt dir das bekannt vor?«
Throll trat näher und schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
In die Augen von Ryans Vater trat ein vertrautes Funkeln. »Ein neues Metall verlangt nach einem neuen Test«, meinte er grinsend. »Ryan, könntest du ein Stück davon abschneiden, damit wir herausfinden können, welche Eigenschaften es hat?«
Throll runzelte die Stirn. »Mein Freund, ich bin mir nicht sicher, ob das der rechte Zeitpunkt für Metallexperimente ist.«
Dad machte eine beschwichtigende Geste. »Dauert nur einen Moment. Ryan?« Er stellte den Kerzenhalter auf den Steinboden und wich zurück.
Ryan trat näher hin und entsandte einen dünnen Energiefaden zu dem Kerzenständer, wie er es vor langer Zeit getan hatte, um die Münzen zu teilen. Diesmal jedoch fiel es ihm nicht annähernd so leicht. Tatsächlich schwitzte er heftig, als er fertig war.
»Das ist viel härter als jedes Metall, das ich bisher durchgeschnitten habe«, sagte er. »Es war, als würde es sich gegen mich wehren.«
Dad zog eine kleine Flasche mit Wasser von seinem Gürtel und goss etwas davon über das abgeschnittene Stück Metall. »Das habe ich vermutet. Versuch mal, es aufzuladen. Ich zähle.«
Ryan übertrug Energie in das Metall, während Dad die Zeit maß. Zu Ryans Überraschung schien das Metall unerschöpflich zu sein. Eine volle Minute verging, und immer noch nahm es Ladung auf. Eine weitere Minute folgte, und noch eine. Nach vier Minuten fürchtete Ryan, jeden Moment vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Aber er machte weiter, und schließlich, nach fünf Minuten, zeigte das Metall funkensprühend an, dass es vollständig geladen war.
Ryan hörte auf. Seine Knie knickten ein. »Wow.« Er schnappte sich ein Stück Käse aus seinem Rucksack und schlang es hinunter.
Das Stück Metall schimmerte unglaublich hell.
Dad zeigte sich begeistert. »Throll, hast du irgendeine Ahnung, wer etwas über dieses Metall wissen könnte?«
»Ich wünschte, ich könnte dir weiterhelfen«, erwiderte Throll, »aber wie gesagt, das entzieht sich meiner Erfahrung. Vielleicht würde ein Zwerg mehr darüber wissen.«
»Tja, dann füge ich mal ein Treffen mit Zwergenschmieden meiner Wunschliste hinzu«, sagte Dad sachlich, während er das leuchtende Metall einsteckte. »Gehen wir zu dieser Abkürzung durch die Höhlen, von der du gesprochen hast?«
»Ja. Ist nicht weit zu den Höhlen. Sie liegen gleich im Südwesten.«
Dad sah Ryan an und fragte: »Bist du bereit?«
Ryan nickte, während er das letzte Stückchen Käse kaute und das nicht leuchtende Stück des neuen Metalls einsteckte. »Bereit.«
Throll klopfte sich mit der Faust auf den Brustpanzer. »Auf zu den Höhlen ...«
* * *
Nach etwa 30 Minuten geriet ein gebirgiger Höhenzug in Sicht. Throll beschleunigte, und schon bald erblickten sie den Schlund eines großen Höhleneingangs. Ryans Herz schlug schneller, als er eine Gruppe unwahrscheinlich kleiner Leute sichtete, die das Gebiet von Trümmern räumte. Das Geröll schien von einem kürzlichen Erdrutsch zu stammen.
»Jared, heute ist dein Glückstag«, flüsterte Throll. »Zwerge.«
Ryan bewunderte, wie emsig und koordiniert die Zwerge daran arbeiteten, den Höhleneingang freizuräumen.
Throll rief einen Gruß. »Hallo. Können wir irgendwie behilflich sein?«
Einer der Zwerge schaute auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Keine Sorge wegen der paar Steine hier. Die haben meine Männer und ich im Nu geräumt.« Er zeigte auf den Hügel neben den Höhlen. »Wenn ihr helfen wollt, dann überzeugt den Fluss da drüben, sich nicht ständig von Geröll verstopfen zu lassen und diese Höhle zu überschwemmen. Als es zuletzt passiert ist, durften wir den ganzen Frühling über nicht hinein.«
Ryans Blick folgte der Richtung, in die der Zwerg zeigte. An einer engen Biegung hatten sich Baumwurzeln und Geröll angesammelt und blockierten die Strömung des Flusses. Und wenn er über die Ufer träte, würde das Wasser wahrscheinlich geradewegs in die Höhlen fließen.
Dad wandte sich an Throll. »Ist das der schnellste Weg zum Wald?«
»Aye, so ist es.« Throll nickte.
»Komm mit, Ryan.« Dad bedeutete Ryan, ihm zum Flussufer zu folgen. »Du verbrennst das Holz über dem Wasser, ich das darunter. Dadurch bringen wir zwar die Strömung des Wassers durcheinander und lassen wahrscheinlich eine Menge Dampf entstehen, aber abgesehen von ein paar toten Fischen dürften wir keinen Schaden anrichten. So sollten wir den Bereich im Nu geräumt haben.«
»Na schön, alles oder nichts ...« Ryan streckte die Hand aus und entfesselte einen tosenden Energiestrahl. Von hinten hörte er über das Zischen des Dampfs, der aus dem Fluss aufstieg, die Rufe der Zwerge.
»Keiner von denen ist Azazel«, sagte einer. »Ich würde meinen Bart darauf wetten.«
In kürzester Zeit hatten Ryan und sein Vater den Fluss von sämtlichen Trümmern befreit. Sie füllten ihre Reserven auf, indem sie Käse aßen, während sie zum Höhleneingang zurückkehrten.
»Können wir sonst noch etwas tun, um zu helfen?«, fragte Dad nüchtern.
Die Zwerge starrten Ryan und seinen Vater an.
»Seid ihr von Azazels Schlag?«, fragte ein Zwerg mit außergewöhnlich langem rotem Bart.
Dad lachte. »Wenn du damit meinst, ob mein Sohn und ich vom Schlag eines bösartigen, tyrannischen, wahnsinnigen Zauberers sind, der es nicht verdient zu leben, lautet die Antwort nein. Ich denke nicht, dass wir in diese Kategorie fallen. Tatsächlich haben wir vor, Azazel aus dieser Welt zu entfernen, damit er ihren Bewohnern keinen Kummer mehr bereitet.«
Die Zwerge standen schweigend und mit offenen Mündern da.
»Soll das heißen, Azazel ist tot?«, fragte der rotbärtige Zwerg.
»Noch nicht«, antwortete Ryan. »Aber wir haben vor, das zu ändern. Er wollte uns umbringen, also vergelten wir im Grunde nur Gleiches mit Gleichem. Ich hoffe, es macht euch nichts aus.«
Die Zwerge lachten.
»Ich bin Silas Rotbart vom Rotbart-Clan«, stellte sich der langbärtige Zwerg vor und reichte Ryan die Hand zum Schütteln. »Wir würden uns freuen, wenn ihr mit uns esst. Dabei können wir Geschichten austauschen. Was ihr drei zu erzählen habt, dürfte recht interessant sein.«
* * *
Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, wurden Geschichten ausgetauscht, unter anderem über die Ereignisse in Aubgherle. Zu Ryans Überraschung stellte sich heraus, dass einige der Zwerge von Ohaobbok wussten.
»Ich kann nicht fassen, dass der Oger von einer Felswand gefallen ist und überlebt hat«, meinte Silas lachend. »Ich schulde dem Muskelberg noch eine Entschuldigung dafür, wie ich ihn anfangs behandelt habe. Ich würde ihn nur zu gern wiedersehen.«
»Ihr solltet Aubgherle besuchen«, schlug Throll vor. »Vermutlich würdet ihr auch Jareds anderen Sohn interessant finden. Er ist der andere Junge aus der Vision des ersten Protektors.«
Silas’ Augen weiteten sich, als er Ryan ansah. »Willst du damit andeuten, dass dieser Junge hier der aus der Prophezeiung ist?«
»Er ist noch ein bisschen jünger als in der Vision«, erwiderte Throll freundlich. »Aber ja.«
Dad lachte. »Ich fürchte, meine beiden Söhne sind noch etwas zu jung für den Kampf.«
Silas grübelte darüber nach. »Ich muss den Häuptlingsrat einberufen, um das mit den anderen Clans zu besprechen. Wie du vorgeschlagen hast, dürfte uns wohl eine Reise bevorstehen. Kann ich irgendetwas für euch tun, bevor wir in die Berge zurückkehren?«
»Tatsächlich ja.« Dad griff in eine Tasche seiner Robe und holte das Stück Metall hervor, das Ryan aufgeladen hatte. »Kannst du mir sagen, wo man das Erz für dieses Metall bekommen kann?«
Silas runzelte die Stirn. »Was verstehst du denn von Erzen, Herr Zauberer? Das ist das Fachgebiet unserer Zwergenschmiede.«
Dad zeigte auf Throll. »Siehst du die Rüstung, die er trägt? Was hältst du davon?«
Silas betrachtete Throll mit dem Auge eines Kenners. »Ich würde sagen, sie ist zwar grob gefertigt, aber von guter Machart. Außerdem weist sie einen sehr ungewöhnlichen Schimmer auf, den ich gern irgendwann näher untersuchen würde. Warum fragst du?«
Dad zeigte mit dem Daumen auf seine Brust. »Ich habe das Eisenerz verhüttet, gehämmert und die Rüstung auf die nötigen Maße angepasst. Mein Sohn hat sie mit dem Schimmer angereichert, der dir aufgefallen ist. Ich würde also behaupten, dass ich etwas von Erz verstehe. Trotzdem ... würde ich gern mehr lernen.«
Silas sah Dad überrascht an. »Zauberer, ich hätte nicht damit gerechnet, dass du dich für die Schmiedekunst interessierst. Nur die wenigsten können die damit verbundenen Feinheiten einschätzen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut.«
»Wenn ihr zu Besuch kommt, kann ich dich ja in meine Schmiede mitnehmen, dann können wir vielleicht Techniken vergleichen. Ich würde gern mehr von einem Fachmann lernen.«
Silas lächelte breit. »Auf das Angebot komme ich noch zurück, das kann ich dir versprechen.« Er lehnte sich zurück. »Und was dieses Metall angeht – ja, ich erkenne es. Die Arbeit damit ist schwierig, denn es erfordert einen sehr heißen Ofen – und selbst dann kann es knifflig sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Mensch es verhütten könnte. Ein Feuer zu erzeugen, das heiß genug dafür ist, dürfte eure Fähigkeiten übersteigen.«
Lächelnd stand Dad auf. »Lass mich dir etwas zeigen.«
Er legte das Metallstück in sicherer Entfernung zu den Zwergen mitten auf einen großen flachen Stein. Dann entfesselte er einen mächtigen Energiestrom darauf. Das Metall färbte sich glühend rot und schmolz zu einer blubbernden Lache flüssigen Metalls.
Silas stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Vergiss, was ich gesagt habe, Herr Zauberer. Ich glaube nicht mehr, dass du Schwierigkeiten dabei hättest, das Erz zu verhütten. Tatsächlich vermute ich, du wärst sehr gefragt bei uns, wenn du je zu Besuch kämst.«
»Ich bin sicher, das lässt sich irgendwann einrichten«, erwiderte Dad herzlich. »Aber kannst du mir vorerst sagen, wo ich etwas von diesem Erz bekommen kann? Ich würde gern damit experimentieren.«
»Wenn du die Welt von Azazel befreist, beliefere ich dich mit Freuden mit mehr Erz, als du je verarbeiten könntest. Ich kenne in den Bergen nahe meiner Heimat viele Adern mit solchem Erz.«
Dad lächelte. »Das wäre wunderbar.«
Als Ryan eine Pause im Gespräch spürte, schaltete er sich ein. »Ich habe eine andere Frage.« Er zog die Karte aus Honfrions Buch heraus und reichte sie Silas. »Sagt dir das etwas?«
Silas betrachtete das Papier, bevor er es zurückgab. »Ich erkenne den Namen Ellisanethra. Das ist eine Elfenstadt, angeblich von einem Spukwald umgeben. Es ist nicht weit. Wenn ihr in die Höhlen geht und euch links haltet, führt euch der erste Ausgang in den verwunschenen Wald, von dem ich rede. Aber ich weiß nicht viel darüber. Wir neigen dazu, uns aus den Angelegenheiten der Elfen herauszuhalten. Sind ziemlich wortkarg, diese Elfen. Selbst wenn sie reichlich Bier geschlürft haben, sprechen sie selten von der, die angeblich in Ellisanethra lebt.«
»Wer lebt dort angeblich?«
Silas zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, es ist nur ein Gerücht – das es schon länger gibt als mich. Man sagt, die Waldhexe würde dort leben. Ellisandrea, die Königin der Elfen.«
Dad und Throll wechselten einen Blick.
Ryan beugte sich vor und sagte: »Throll, der Eintrag, den du vorgelesen hast – darin wurde die Magie der Elfenkönigin erwähnt, nicht wahr?«
Throll runzelte die Stirn. »Ich glaube allmählich, diese Königin und die Freundin, die Azazel besucht, könnten ein und dieselbe sein.«
Dad nickte. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir dieser Hexe einen Besuch abstatten.«