Elfen

Aaron spürte, dass Gwen ihn beobachtete, während er Sloane das Lesen beibrachte. Sloane und er verbrachten neuerdings sehr viel Zeit miteinander. Seit ihrem Gespräch über ihre mögliche Zukunft hatten sich die Dinge verändert. Natürlich waren sie bereits eng befreundet gewesen, doch plötzlich sah er sie in einem anderen Licht. Ihm fiel auf, dass sie gegenüber dem strichdünnen Mädchen, als das er sie kennengelernt hatte, allmählich weiblichere Kurven entwickelte. Und Sloane behandelte ihn auch anders. Sie setzte sich näher zu ihm und hielt öfter seine Hand, wenn sie ihn von einem Ort zum anderen führte. Aaron hätte es nicht für möglich gehalten, aber er hatte tatsächlich das Gefühl, dass sie sich noch nähergekommen waren.

Sloanes Mutter musste es auch bemerkt haben, denn sie wachte ständig über sie. Aaron wünschte sich, sie würde gehen und sie ausnahmsweise mal allein lassen.

Als Zenethar zu weinen anfing, stand Gwen auf und ging zu seinem Bettchen, um sich um ihn zu kümmern. »Wisst ihr«, meinte sie dabei, »ich könnte gut ein paar Pilze für den Braten heute gebrauchen. Ihr esst sie schneller, als ich sie kochen kann. Würdet ihr mir wohl nach eurem Unterricht noch welche holen?«

Aaron lachte. »Ich selbst hab’s nicht so mit Pilzen. Ohaobbok isst sie alle.«

Gwen lächelte. »Na ja, hast du gesehen, wie groß der Junge ist? Um die acht Fuß. Und Appetit hat er für drei. Ich habe keine Ahnung, wie er nur mit Gemüse so groß und stark wird.«

»Gelten Pilze als Gemüse?«, fragte Sloane.

»Was auch immer sie sein mögen, wir brauchen davon, so viel wir bekommen können«, gab ihre Mutter zurück. »Niemand unter diesem Dach soll darauf verzichten müssen. Falls ihr unterwegs wilde Zwiebeln seht, könnt ihr davon auch welche mitbringen. Ich liebe die Frühlingszwiebeln. Aber wahrscheinlich ist es schon zu spät, um noch welche zu finden.«

»Dann mal los«, sagte Sloane zu Aaron.

Er legte das Lehrbuch beiseite und folgte ihr nach draußen. Auf dem Hof kamen sie an Ohaobbok vorbei, der seine Schwertformen übte.

»Throll wird sauer sein, wenn du nicht bald übst!«, rief der Oger Aaron hinterher.

»Ich übe heute Abend mit dir«, rief Aaron zurück. »Und diesmal schlage ich dich. Wart’s nur ab!«

Ohaobbok lachte und schüttelte den Kopf.

Aaron und Sloane schnappten sich einen Korb und marschierten in den Wald. Doch kaum befanden sie sich zwischen den Bäumen, nahmen sie von vorn panisch klingende Geräusche wahr. Sie hörten sich nach einem wild zappelnden Tier an.

Aaron schob Sloane hinter sich und zog sein Schwert. Langsam rückten sie durch die Bäume vor.

Die Quelle des Geräuschs fanden sie auf einer Lichtung. Ein Reh mit einem Pfeil im Hals. Das Tier zappelte noch kurz, bevor es mit einem letzten Schauder starb.

Sloane zeigte auf die Befiederung des Pfeils. »Das ist ein gut gearbeiteter Pfeil. Nur der Schuss war nicht makellos. Siehst du? Er hat das Reh ein bisschen höher getroffen, als er sollte. Deshalb ist das Tier nicht sofort gestorben.«

Noch während Sloane sprach, kam ein kleiner Junge auf die Lichtung gerannt. Er war dünn, hatte sonnengebräunte Haut, blondes Haar und spitze Ohren. Beim Anblick des Schwerts in Aarons Hand wäre er vor Schreck beinah umgekippt.

Aaron lächelte und steckte die Klinge zurück in die Scheide. »Tut mir leid. Wir wollen dir nichts tun.«

Der Junge erwiderte darauf etwas in einer melodiösen Sprache, die Aaron noch nie gehört hatte. Er verstand kein Wort davon.

Sloane stupste ihn. »Er ist ein Elf«, flüsterte sie.

Aarons Augen weiteten sich. »Kannst du mich verstehen?«, fragte er den Elfen. »Wir sind nur aus Versehen über dein Reh gestolpert.«

Der Elf schüttelte den Kopf.

»Mein kleiner Bruder hat eure Sprache noch nicht gelernt«, drang eine Stimme aus dem Wald. »Ich schon.«

Ein größerer Elf betrat die Lichtung. »Das ist die erste Jagd meines Bruders. Ich fürchte, er hätte es deutlich besser machen können. Aber erlegt ist erlegt, das muss ich ihm zugestehen. Tut uns leid, dass wir euch gestört haben. Wir gehen jetzt.«

Der jüngere Bruder sprach schnell mit dem älteren und zeigte dabei die ganze Zeit auf Aaron.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Aaron.

Der jüngere Bruder stampfte eindringlich mit dem Fuß auf. Immer noch deutete er dabei auf Aaron.

»Ich will mich wirklich nicht aufdrängen«, sagte der ältere, »aber darf ich mir dich aus der Nähe ansehen? Mein Bruder schwört, dass er dich erkannt hat.«

Aaron nickte. »Wie du willst.«

Der ältere kam auf Aaron zu, musterte ihn und umrundete ihn, um ihn auch von der Seite zu betrachten. Als er fertig war, verneigte er sich.

»Wahrhaftig, du bist es«, sagte er respektvoll. »Ich muss dich einfach fragen, guter Herr: Hättest du etwas dagegen, wenn ich dich unseren Ältesten vorstelle? Ich würde es bis ans Ende meiner Tage bereuen, wenn ich ihnen nicht die Möglichkeit gebe zu überprüfen, ob stimmt, was mein Bruder sagt.«

»Was sagt denn dein Bruder?«, fragte Sloane.

Der Elf zeigte auf Aaron. »Dass dies der Junge aus unserem Traum ist. Der Junge, der unser Volk gegen die Dämonenhorde anführen wird.«

»Also, dafür brauchen wir keine Ältesten«, warf Sloane ein. »Aaron ist der Mann aus dieser neuen Vision. Sein Bruder wird die Zauberer anführen, Aaron die Armee.«

Der Elf schaute verblüfft drein. »Ihr habt auch den Traum von der Zukunft? Wir waren uns nicht sicher, ob die Menschen unsere Visionen teilen.«

»Wie weit ist es zu euren Ältesten?«, erkundigte sich Aaron.

Der Elf musterte sie beide von oben bis unten. »Ich denke, ungefähr eine halbe Stunde.«

»Haben wir Zeit, mit ihnen zu gehen?«, wollte Aaron von Sloane wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht, solange wir meiner Mutter die Pilze vor dem Abendessen bringen.«

Der Elf lachte. »Pilze sind kein Problem. Ich kann dafür sorgen, dass sie in großer Zahl gesammelt werden, während ihr mit unseren Ältesten sprecht.« Er trat vor und streckte die Hand aus. »Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Illisandre, und mein kleiner Bruder heißt Ealuanni. Wie darf ich dich nennen?«

»Freut mich, euch kennenzulernen«, erwiderte Aaron lächelnd. »Ich bin Aaron Riverton. Das ist Sloane Lancaster, meine gute Freundin.«

Sloane ergriff Aarons Hand.

»Folgt mir«, sagte der Elf. »Ich will versuchen, langsam für euch zu gehen.«

* * *

Die nächsten 30 Minuten erwiesen sich als beschwerlicher Marsch über verwirrende Pfade. Aber schließlich erreichten sie einen Teil des Walds, den Aaron noch nie gesehen hatte. Die Bäume erwiesen sich als wesentlich größer und älter, die Luft roch nach frischen Blättern und Blumen. Aaron erhaschte vereinzelte Blicke auf andere Elfen. Das blieben die einzigen Hinweise darauf, dass sie nicht allein waren.

»Seid ihr bereit zu klettern?«, fragte Illisandre, als sie den Stamm eines gewaltigen Baums erreichten.

»Klettern?«, wiederholte Aaron.

Illisandre lachte. »Kommt mit.« Er näherte sich dem Stamm, dessen Durchmesser mindestens sechs Meter betragen musste. Mit den Händen fest in der Rinde kletterte er schräg den Stamm hinauf.

Als sich Aaron dem Baum näherte, entdeckte er winzige Auftritte – allerdings nur, weil er danach Ausschau hielt. Er benutzte sie beim Aufstieg mit den Händen und Füßen. Unterwegs schaute er regelmäßig zurück, um sich zu vergewissern, dass Sloane ihm folgte. Durch die Schräge gestaltete sich das Klettern den Baumriesen hinauf einfacher. Nach mehreren Runden um den Stamm endeten die Auftritte an einer Plattform in etwa zehn Metern Höhe.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Höhen mag«, gestand Sloane und klammerte sich an Aarons Arm.

Illisandre lächelte mitfühlend. »Keine Sorge. Wir sind nicht lange hier oben.« Er bot Sloane eine Hand an, um sie zu führen. »Folgen wir diesem Weg. Schaut nicht nach unten, nur geradeaus.«

Aaron versuchte, den Rat zu beherzigen, und schaute nur geradeaus, als sie einen Weg überquerten, der zwei Bäume hoch über dem Waldboden miteinander verband.

»Achtet nicht auf den Nebel«, sagte Illisandre und schwenkte die Hand. Tatsächlich war die Luft seit Beginn ihres Aufstiegs entschieden dunstiger geworden. »Es wird noch dichter werden. Folgt einfach dem Weg und meiner Stimme. Behaltet die Hände auf dem Weg.«

Damit begann Illisandre, ein seltsames Lied in der Sprache der Elfen zu singen.

»Ich kann nichts sehen«, sagte Sloane nach einer Weile.

»Geh einfach weiter«, rief Aaron zu ihr zurück.

Illisandre marschierte weiter und sang dabei unentwegt. Allmählich lichtete sich der Nebel, und plötzlich löste er sich vollständig auf. Sie befanden sich wieder auf dem Waldboden, aber in einer Elfenstadt mitten im Wald. Auf Wegen um sie herum wimmelte es nur so von Elfen aller Größen.

»Wow«, sagte Aaron. »Ich habe nicht mal mitbekommen, dass wir abgestiegen sind. Ich glaube nicht, dass ich den Weg zurück je allein finden könnte.«

Illisandre lächelte. »Keine Sorge, ich führe euch zurück. Jetzt, da ihr hier seid, untersteht ihr meiner Verantwortung.«

»Wo ist hier?«, fragte Sloane.

»Willkommen in Eluanethra«, sagte Illisandre und verneigte sich. »Der Name bedeutet wörtlich übersetzt ›Stadt der Elfen‹.«

Aaron betrachtete staunend die Umgebung. »Kaum zu glauben, dass es all das hier gibt, und doch so gut versteckt.« Jedes Bauwerk war nahtlos in den Wald integriert. Ranken klammerten sich an die schuppige Rinde der Gebäude und überzogen sie mit einem grünen Tarnumhang. Sogar die Dächer bestanden aus einem engmaschigen Geflecht aus lebendem Grün. Alles wirkte so natürlich, Aaron war überzeugt davon, die Stadt würde völlig aus der Wahrnehmung verschwinden, wenn das geschäftige Treiben ringsum innehielte.

»Es ist meine Pflicht, den Ältesten umgehend Meldung zu erstatten«, erklärte Illisandre, »da ich nun Fremde in unsere Stadt gebracht habe. Die meisten Leute hier sind freundlich, nur sind Außenstehende in Eluanethra normalerweise nicht gestattet. Aber mit dir werden sie reden wollen, Aaron, das weiß ich.«

* * *

Illisandre führte sie zu einem großen Gebäude mit einem Geflecht aus Ranken vor dem Eingang. Als er an einer der Ranken zog, ertönte tief im Inneren eine Glocke. Wenige Augenblicke später erschien ein älterer Elf mit freundlichen Gesichtszügen und scharfen Augen am Eingang.

»Illisandre!«, sagte er unwirsch. »Warum bist du gekommen?« Dann bemerkte er Aaron und Sloane. »Ah. Ich verstehe. Wartet hier. Bestimmt hast du eine Erklärung für diesen Verstoß gegen das Protokoll. Aber ich rufe den Rest des Rats zusammen, damit wir sie alle auf einmal hören.«

Der Elf zog eine Pfeife aus der Brusttasche und blies einen Ton, den Aaron nicht hören konnte. Bald trafen mehrere ältere Elfen aus anderen Teilen des Dorfs ein. Schweigend marschierten sie an Aaron, Sloane und Illisandre vorbei ins Haus.

Als ein besonders greis wirkender Elf heranschlurfte – er schien dringend einen Gehstock zu brauchen –, rief Illisandre ihm zu. »Beeilung, Großvater! Oder soll ich das Haus zu dir schieben?«

Der greise Elf schaute auf und krächzte: »Illi, du Schlitzohr! Nicht alles sollte überstürzt werden. Dazu gehört das Gehen. Sei tugendhaft und zeig Geduld. Ich bin gleich da.«

Illisandre flüsterte zu Aaron und Sloane: »Das ist mein Großvater. Er ist der Älteste der Ältesten und hat mit eigenen Augen bezeugt, wie Trimoria vom Rest der Welt abgeschottet wurde.«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, stieß Aaron hervor. »Dann müsste er ja ...«

»Ja, ich bin alt«, fiel ihm der betagte Elf ins Wort. »Aber nicht taub. Ihr jungen Leute bildet euch ein, schon etwas zu wissen, wenn ihr 100 Jahre alt werdet. Wenn ihr mal über 500 seid, dann gestehe ich euch zu, dass ihr genug Zeitenwechsel erlebt habt, um ein bisschen Weisheit erlangt zu haben. Keinen Deut früher.«

Illisandre lachte. »Großvater, du erschreckst unsere Gäste noch.«

Der alte Elf schlurfte auf sie zu. »Es erscheint mir töricht zu behaupten, ich könnte den zukünftigen General unserer Armeen erschrecken.«

Aarons Mund klappte auf.

»Überrascht?«, fragte der Elf schmunzelnd. »Ich bin alt, aber nicht blind. Du bist das Menschenkind, das unsere Armeen anführen wird.«

Aaron lachte. »Herr, du steckst wirklich voller Überraschungen. Ich denke, ich sollte lernen, nicht so sehr danach zu urteilen, was ich sehe, sondern ein bisschen mehr zuhören. Du bist nicht, was du zu sein scheinst.«

Illisandres Großvater nickte anerkennend. »Also, das finde ich vielversprechend. Worte der Weisheit von einem so jungen Burschen. Ja, du wirst heute zu Wort kommen, wenn du dazu aufgefordert wirst. Aber ich denke, du wirst auch ein wenig zuhören müssen. Wenn du das beherzigst, dürfte der heutige Tag für alle aufschlussreich werden.«

Der alte Elf wandte sich an Sloane. »Und du bist wohl die Verlobte unseres Generals, das spüre ich. Willkommen in Eluanethra, meine Dame. Ich will versuchen, deinen künftigen Gemahl nicht zu lange damit in Beschlag zu nehmen, dass er uns alte Gauner unterhält.«

Damit zwinkerte er Illisandre zu, richtete sich auf und sprang buchstäblich wie eine Gazelle ins Gebäude.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Illisandre. »Mein Großvater spielt gern Streiche. Und ich glaube, er hat nur deshalb den fußlahmen Elfen gemimt, um Gelegenheit zu haben, allein mit euch beiden zu reden.«

Der Elf führte sie hinein und eine lange Treppenflucht hinauf. Sie bogen nach rechts und passierten mehrere Türen, bevor sie ihr Ziel erreichten.

Es handelte sich um einen riesigen, hell erleuchteten Raum mit einer Decke wie ein Dom. Die älteren Elfen, die vor ihnen eingetreten waren, saßen alle auf Stühlen in einem Halbkreis. Nur ein freier Stuhl stand vor ihnen.

»Sloane und ich müssen gehen«, flüsterte Illisandre zu Aaron. »Wie ich meinen Großvater kenne, wird er es vorziehen, nur vor dir zu sprechen.«

Aaron drehte sich unsicher Sloane zu, aber sie drückte beruhigend seine Hand. »Ist schon gut«, sagte sie. »Ich helfe Illisandre, Pilze zu sammeln, die wir später zu meiner Mutter bringen.« Damit drückte sie Aaron einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Rede du ruhig mit dem Rat. Wir sehen uns, wenn du fertig bist.«

Als Sloane ging, nahm Aaron nervös auf dem freien Stuhl vor dem versammelten Rat der Elfen Platz. Aaron zählte insgesamt zwölf. Ihm fiel auf, dass der Stuhl von Illisandres Großvater leicht erhöht über den anderen stand. Anscheinend verkörperte er das Oberhaupt.

Langes Schweigen setzte ein, bevor Illisandres Großvater das Wort ergriff. »Sehr gut. Du bleibst trotz Verunsicherung ruhig. Ich hege Hoffnung für die Jugend der Menschheit. Sag mir, Aaron aus den Visionen des Protektors, wer bist du?«

Aaron begann von ganz vorn. Er erzählte, wie seine Familie und er nach Trimoria gelangt waren, dass sich sein Vater und sein Bruder als Zauberer herausgestellt hatten, dass seine Mutter heilen konnte und dass er selbst ungewöhnlich stark geworden war. Außerdem berichtete er, dass sie mit dem Generalprotektor und dessen Familie zusammenlebten, und er erwähnte die Bedrohung für Zenethar nach ihrem Besuch des Brunnens. Er beschrieb, wie der Meuchelmörder aufgehalten werden konnte, und danach den Kampf gegen Azazels Soldaten und zuletzt gegen Azazel höchstpersönlich. Schließlich merkte er an, dass er lediglich auf der Suche nach Pilzen gewesen war, als sich die Begegnung mit Illisandre und dessen Bruder ereignet hatte.

Während Aaron sprach, nickten einige der Ältesten. Andere blieben beunruhigend ausdruckslos. Bei der Erwähnung des Anschlags auf Zenethar hatten mehrere Elfen teils entsetzte, teils wütende Blicke gewechselt. Und als Aaron vom Kampf gegen Azazel erzählte, brach so lauter Tumult aus, dass Illisandres Großvater die anderen Ratsmitglieder brüllend auffordern musste, sich zu beruhigen.

Schließlich nickte der greise Elf.

»Aaron Riverton, ich danke dir für deine Offenheit. Wir mussten dich gar nicht darauf hinweisen, dass einige von uns die Macht besitzen, Lügen zu erkennen. Das zeugt von deinem Charakter. Dass du die Wahrheit kein einziges Mal verdreht hast, spricht für die Erziehung durch deine Eltern und für dich.« Er seufzte. »Leider bestätigt deine Geschichte etwas, das wir schon lange fürchten – dass die Zeit für die Rückkehr des ersten Protektors angebrochen ist.«

Kurz verstummte er, bevor er fortfuhr. »Ich weiß, dass du und dein Bruder in unseren Visionen die Menschen sind, die dabei helfen werden, drei Nationen gegen die Dämonenhorde jenseits der Barriere zu vereinen. Ihr seid noch jung, also vermute ich, ihr habt noch viel zu lernen. Ich habe nur eine Frage an dich, Kind: Bist du dazu bereit?«

»Ich bin mir nicht sicher, was du von mir verlangst«, erwiderte Aaron. »Ich lerne bereits vom Generalprotektor.«

Der alte Elf lächelte. »Und das solltest du. Aber ich würde vorschlagen, dass du zusätzlich sowohl mit unseren Schwertmeistern als auch mit unseren meisterlichen Bogenschützen übst. Ich treffe die Vorkehrungen dafür. Außerdem würde ich gern deine Familie, deinen Oger-Freund und den Generalprotektor kennenlernen. Hast du im Augenblick irgendwelche Fragen an uns?«

Aaron dachte einige Herzschläge lang darüber nach. »Gibt es bei den Elfen auch Zauberer?«

Der alte Elf schüttelte den Kopf. »Wir Elfen sind ungewöhnlich. Unser Volk verleiht jedem ein wenig Magie. In der Regel bewirkt sie ein tiefreichendes Verständnis unserer Umgebung. Dadurch sind wir unübertreffliche Fährtensucher und hervorragend im Umgang mit Waffen. Manche von uns besitzen die Fähigkeit, bestimmte Stimmungen oder Veränderungen in der Persönlichkeit zu erkennen. Beispielsweise spüren sie Unwahrheiten, wie bereits erwähnt. Dadurch besitzt unser Volk nur leidliche magische Begabung. Abgesehen natürlich von einer unter uns: unserer Königin.«

Der Elf seufzte. »Ich habe Ellisandrea gekannt, als sie noch jung war. Damals war sie eine gute und gerechte Herrscherin. Sie hat den ersten Protektor in magischen Fähigkeiten ausgebildet, bis er sogar sie übertroffen hat. Leider ist sie für unser Volk verloren, und ein neuer Zauberer oder eine neue Zauberin unter den Elfen kann erst dann ihren Platz einnehmen, wenn sie stirbt oder zu uns zurückkehrt.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Aaron. »Was meinst du damit, dass sie für euch verloren ist?«

Einige der Ratsmitglieder begannen, untereinander zu murmeln und die Köpfe zu schütteln. Illisandres Großvater brachte sie zum Schweigen.

»Du stellst eine einfache Frage mit einer sehr schwierigen Antwort. Die anderen Ältesten werden es mir übelnehmen, aber ich weihe dich in eines unserer dunkelsten und schändlichsten Geheimnisse ein.«

Er schaute zur Decke, als riefe er eine alte Erinnerung wach.

»Wie ich schon sagte, war Ellisandrea in jungen Jahren eine wunderbare Herrscherin. Und sie besaß die ausgeprägte Gabe der Hellsicht. Sie wurde von Visionen geradezu heimgesucht. Ellisandrea hat als Erste die Ankunft der Dämonenhorde vorhergesehen. Außerdem hat sie zwei Dinge gesehen, die ihr Schicksal für immer verändern sollten. Zum einen die Entdeckung von etwas, das die Zwerge als den ›Keim von Trimoria‹ bezeichnen. Nach dem Keim zu streben, war meiner bescheidenen Meinung nach ihr größter Fehler. Zum anderen hat sie den ersten Protektor vorhergesehen und entschieden, sie müsste ihn in der Kunst der Zauberei ausbilden.«

»Warum war ihr Streben nach dem Keim ihr größter Fehler?«, hakte Aaron nach.

»Der Keim ist eine verdorbene Schöpfung. Je mehr jemand ihn verwendet, desto stärker beeinflusst er den Benutzer. Unsere Königin hat vorhergesehen, dass der erste Protektor den Keim in der bevorstehenden Schlacht brauchen würde. Also hat sie dafür gesorgt, dass er ihn benutzen konnte. Aber nachdem er ihn dazu eingesetzt hatte, das Tal von der Außenwelt abzuschotten, hätte der Keim ihn beinah zerstört. Letztlich ließ der erste Protektor ihn so verwahren, dass er für niemanden mehr zugänglich sein würde.

Leider hatte der Einfluss des Keims zu diesem Zeitpunkt bereits unsere Königin berührt. Im Verlauf der Jahre wurde sie davon besessen, und ihre Suche danach schien kein Ende zu nehmen. Der Keim hatte sie entstellt und verwundet. Und obwohl sie ihn nicht mehr besaß, wurde ihr Wesen bösartig und grausam. Sie hat sich von Eluanethra entfernt und ihre gesamte Zeit in der Nähe des Orts verbracht, an dem sie den Keim von dieser Welt weggesperrt glaubte. Sie hat sich dort sogar ein Haus gebaut. Seit Hunderten Jahren hat keiner von uns unsere Königin gesehen.«

»Woher wisst ihr dann, dass sie noch am Leben ist?«, fragte Aaron.

Der alte Elf lächelte. »Wir würden es spüren, wenn es anders wäre. Unser Volk hat immer nur eine Königin. Wäre sie gestorben, wäre die Macht in ihr auf die nächste Königin übergegangen. Das ist bisher nicht geschehen.«

Er holte eine Pfeife aus der Tasche und blies hinein. Wieder hörte Aaron nichts, aber wenig später tauchte Illisandre auf.

»Illisandre wird dich und deine Verlobte zurück nach Hause begleiten. Er wird mit deinem Vater Vorkehrungen für eine künftige Verständigung zwischen uns treffen.«

»Wir sind nicht wirklich verlobt«, stellte Aaron klar.

Der Älteste lachte. »Noch nicht, junger Mann. Aber das wird sich sehr bald ändern. Jetzt geh zurück zu deiner Herzensdame. Und wisse, dass du und deine Familie von diesem Tag an als Freunde der Elfen gelten.«

* * *

Sloane erwartete sie am Stadtrand. Als sie Aaron auf sich zukommen sah, rannte sie los und warf sich ihm in die Arme.

»Oh Aaron, ich habe so viele Dinge gesehen. Wir müssen unbedingt wieder herkommen und sie erkunden.« Sie hob ihren Korb an. »Einige der Frauen haben mir gezeigt, was hier an Obst und Gemüse angebaut wird. Sie haben mir ein paar Kostproben mitgegeben. Meine Mutter wird begeistert davon sein.«

Aaron lachte. »Ich bin froh, dass du Spaß hattest. Und ja, wir werden wieder herkommen. Wahrscheinlich sogar öfter. Übrigens sagt Illisandres Großvater voraus, dass wir bald verlobt sein werden.«

Sloane lächelte von einem Ohr zum anderen. »Ich hoffe, es stimmt. Du hast mit unseren Vätern immer noch nicht darüber geredet.«

»Ich weiß.« Dieses spezielle Gespräch schob Aaron vor sich her.

»Wie ist es mit den Ältesten gelaufen?«

»Sehr gut«, antwortete Aaron. »Sieht so aus, als würde ich bald auch von den Elfen ausgebildet werden. Nicht nur im Umgang mit dem Schwert, sondern mit Pfeil und Bogen.«

»Wirklich? Elfen sind angeblich sagenhafte Schwertkämpfer, und Pfeil und Bogen beherrscht niemand besser als sie.«

»Ungeachtet meines jüngeren Bruders«, warf Illisandre schmunzelnd ein. »Aber kommt jetzt, ihr zwei. Ich will nicht schuld daran sein, dass eure Mütter wütend auf uns werden.«