KAPITEL 1

»Ich sollte dir eigentlich nichts davon erzählen«, schimpfte Daisy, als sie später am Abend aufgewühlt im Marsden-Salon auf und ab lief. »In deinem Zustand solltest du dich nicht aufregen. Aber ich kann es nicht für mich behalten, sonst explodiere ich, was dich wahrscheinlich noch weitaus mehr aufregen würde.«

Ihre ältere Schwester hob den Kopf von Lord Westcliffs Schulter. »Erzähl es mir«, forderte Lillian sie auf und schluckte gegen eine weitere Welle Übelkeit an. »Ich rege mich nur dann auf, wenn man mir etwas vorenthält.« Sie lag auf der langen Polsterbank in Westcliffs Arm, während er ihr einen Löffel mit Zitroneneis in den Mund schob. Mit geschlossenen Augen schluckte sie es hinunter, die dunklen Wimpernkränze ruhten auf ihren blassen Wangen.

»Besser?« fragte Westcliff sanft und wischte ihr einen Tropfen Eis aus dem Mundwinkel.

Lillian nickte, ihr Gesicht war kreideweiß. »Ja, ich glaube, es hilft. Bah. Du solltest beten, dass es ein Junge wird, Westcliff, denn das ist deine einzige Chance auf einen Erben. Diese Sache mach ich nicht noch einmal mit …«

»Mach den Mund auf«, sagte er und verabreichte ihr einen weiteren Löffel des aromatisierten Eises.

Normalerweise hätte Daisy dieser Einblick in das Privatleben der Westcliffs gerührt. Nur selten sah jemand Lillian so verletzlich oder Marcus so sanft und besorgt. Doch Daisy war so sehr von ihren eigenen Problemen abgelenkt, dass sie ihren liebevollen Umgang kaum bemerkte. »Vater hat mir ein Ultimatum gestellt!«, platzte sie heraus. »Er hat heute Abend …«

»Warte«, bat Westcliff sie leise und veränderte seinen Griff um Lillian. Als er seine Frau auf die Seite drehte, lehnte sie sich schwerer an ihn und legte eine schlanke weiße Hand auf die Wölbung ihres Bauches. Er murmelte etwas Unverständliches in ihr zerzaustes dunkles Haar, und sie nickte seufzend.

Jeder, der Westcliffs zärtliche Fürsorge für seine junge Frau miterlebte, konnte nicht umhin, die offensichtliche Wandlung zu bemerken, die in dem Earl vorgegangen war. Er hatte stets als kühl gegolten, nun war er deutlich zugewandter – er lächelte und lachte mehr – , und seine Vorstellungen von anständigem Verhalten hatten an Strenge verloren. Was gut war, nachdem Lillian seine Gemahlin und Daisy seine Schwägerin war.

Westcliff, dessen Augen von einem derart dunklen Braun waren, dass sie fast schwarz wirkten, musterte Daisy mit skeptischem Blick. Obwohl er kein Wort sagte, las Daisy in seinem Blick den Wunsch, Lillian vor allem und jedem zu beschützen, was ihren Frieden stören könnte.

Plötzlich schämte sie sich, dass sie sofort angestürmt gekommen war, um ihr von der Ungerechtigkeit zu berichten, die ihr Vater ihr angetan hatte. Sie hätte ihre Probleme für sich behalten sollen, stattdessen war sie wie ein petzendes Kind zu ihrer älteren Schwester geeilt. Doch dann öffnete Lillian die braunen Augen und lächelte sie herzlich an, und tausend Kindheitserinnerungen tanzten wie frohlockende Glühwürmchen zwischen ihnen in der Luft. Die tiefe Vertrautheit von Schwestern konnte nicht einmal der fürsorglichste Ehemann stören.

»Erzähl es mir«, forderte Lillian sie erneut auf und schmiegte sich an Westkliffs Schulter, »was hat das Monster gesagt?«

»Wenn ich bis Ende Mai keinen Ehemann finde, will er einen für mich auswählen. Und rate, wer das ist? Rate einfach!«

»Ich kann mir keinen vorstellen«, antwortete Lillian. »Vater billigt doch niemanden.«

»Oh doch, das tut er«, widersprach Daisy Unheil verheißend. »Es gibt einen Menschen auf der Welt, den Vater hundertprozentig gutheißt.«

Jetzt wirkte sogar Westcliff interessiert. »Ist es zufällig jemand, den ich kenne?«

»Du wirst ihn bald kennenlernen«, versprach Daisy. »Vater hat nach ihm geschickt. Er wird nächste Woche auf dem Landgut in Hampshire an der Hirschjagd teilnehmen.«

Westcliff kramte in seinem Gedächtnis nach den Namen, die Thomas Bowman ihn gebeten hatte, auf die Gästeliste für die Frühjahrsjagd zu setzen. »Der Amerikaner?«, riet er. »Mr Swift?«

»Genau der.«

Lillian sah Daisy verständnislos an, dann vergrub sie ihr Gesicht mit einem Keuchen an Westcliffs Schulter. Zuerst befürchtete Daisy, sie würde weinen, doch es wurde schnell klar, dass Lillian hemmungslos kicherte. »Nein … unmöglich … wie schrecklich … du könntest niemals …«

»Wenn du ihn heiraten solltest, würdest du es weit weniger amüsant finden!«, gab Daisy mit finsterem Blick zurück.

Westcliff blickte von einer Schwester zur anderen. »Was stimmt denn nicht mit Mr Swift? Nach Aussage deines Vaters scheint er doch ein ganz respektabler Mann zu sein.«

»Alles an ihm stimmt nicht«, antwortete Lillian und schnaubte noch einmal vor Lachen.

»Aber dein Vater schätzt ihn«, wandte Westcliff ein.

»Gewiss«, spottete Lillian. »Er schmeichelt Vaters Eitelkeit – Mr Swift versucht, ihm nachzueifern und hängt an seinen Lippen.«

Der Earl dachte über ihre Worte nach, während er den nächsten Löffel Zitroneneis an Lillians Lippen hielt. Sie seufzte befriedigt, als die eisige Substanz ihre Kehle hinabglitt.

»Hat euer Vater denn unrecht mit seiner Behauptung, dass Mr Swift intelligent sei?«, fragte Westcliff Daisy.

»Intelligent ist er«, gab sie zu. »Aber man kann sich nicht mit ihm unterhalten – er stellt Tausende von Fragen, saugt alles auf, was man sagt, gibt aber nichts zurück.«

»Vielleicht ist Swift ja schüchtern«, mutmaßte Westcliff.

Daisy musste unwillkürlich lachen. »Ich versichere dir, Mylord, Mr Swift ist alles andere als schüchtern. Er ist …« Sie hielt inne, da es ihr schwerfiel, ihre Gedanken in Worte zu fassen.

Matthew Swift war nicht nur übermäßig kühl, sondern auch noch unerträglich überheblich. Nie konnte man ihm etwas Neues erzählen – stets wusste er bereits alles. Da Daisy in einer Familie mit kompromisslosen Charakteren aufgewachsen war, konnte sie wenig mit einer weiteren sturen, streitlustigen Person in ihrem Leben anfangen.

Ihrer Meinung nach sprach es nicht gerade für Swift, dass er sich derart gut bei den Bowmans einfügte.

Vielleicht wäre er erträglicher, wenn er etwas Charmantes oder Attraktives an sich gehabt hätte. Doch weder sein Charakter noch sein Auftreten waren mit Anmut gesegnet. Er war humorlos und ließ jegliche Freundlichkeit vermissen. Zu allem Überfluss war auch sein Äußeres unvorteilhaft: groß, unproportioniert und so drahtig, dass seine Arme und Beine wie Stangenbohnen wirkten. Sie erinnerte sich, wie sein Gehrock um seine breiten Schultern geschlackert hatte.

»Statt all die Dinge aufzuzählen, die ich nicht an ihm mag«, sagte Daisy schließlich, »ist es einfacher festzustellen, dass es keinen Grund gibt, warum ich ihn mögen sollte.«

»Er ist nicht einmal attraktiv«, fügte Lillian hinzu. »Er ist ein Klappergestell.« Sie tätschelte Westcliffs muskulöse Brust und würdigte stillschweigend seinen kräftigen Körperbau.

Westcliff schien amüsiert. »Besitzt Swift denn irgendeine positive Eigenschaft?«

Die beiden Schwestern dachten über die Frage nach. »Er hat schöne Zähne«, räumte Daisy schließlich widerwillig ein.

»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Lillian. »Er lächelt doch nie!«

»Ihr urteilt wirklich sehr hart über ihn«, bemerkte Westcliff. »Mr Swift könnte sich verändert haben, seit ihr ihn das letzte Mal gesehen habt.«

»Aber niemals so sehr, dass ich jemals einwilligen würde, ihn zu heiraten«, erklärte Daisy entschieden.

»Du brauchst Swift auch nicht zu heiraten, wenn du es nicht willst«, erklärte Lillian mit Nachdruck und drehte sich in den Armen ihres Mannes. »Ist es nicht so, Westcliff?«

»Ja, Liebes«, murmelte er und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

»Und du wirst nicht zulassen, dass Vater mir Daisy wegnimmt«, beharrte Lillian.

»Natürlich nicht. Man kann immer etwas anderes aushandeln.«

Lillian schmiegte sich an ihn, offensichtlich hatte sie absolutes Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Mannes. »Siehst du«, sagte sie zu Daisy. »Kein Grund zur Sorge. Westcliff hat alles …« Sie hielt inne und gähnte ausgiebig. » … im Griff …«

Als Daisy die schweren Lider ihrer Schwester sah, lächelte sie mitfühlend. Sie begegnete Westcliffs Blick über Lillians Kopf und gab ihm ein Zeichen, dass sie gehen würde. Er antwortete mit einem höflichen Nicken, bevor seine Aufmerksamkeit fast zwanghaft zu Lillians schläfrigem Gesicht zurückkehrte. Und Daisy fragte sich unwillkürlich, ob sie jemals ein Mann so ansehen würde, als sei ihr Gewicht in seinen Armen etwas ungemein Kostbares.

Daisy war sich sicher, dass Westcliff versuchen würde, ihr auf jede erdenkliche Weise zu helfen, und sei es nur um Lillians willen. Ihr Vertrauen in den Einfluss des Earls wurde jedoch dadurch getrübt, dass sie den unbeugsamen Willen ihres Vaters kannte.

Obwohl sie sich ihm mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln widersetzen würde, hatte Daisy das ungute Gefühl, dass ihre Chancen nicht sonderlich gut standen.

Sie blieb auf der Türschwelle stehen und blickte mit einem beunruhigten Stirnrunzeln zu dem Paar auf dem Sofa zurück. Lillian war fest eingeschlafen, ihr Kopf lag schwer auf Westcliffs Brust. Als der Earl Daisys unglücklichen Blick bemerkte, hob er fragend eine Braue.

»Mein Vater …« Daisy biss sich auf die Lippe. Ihr Schwager war der Geschäftspartner ihres Vaters. Es war nicht angebracht, sich ausgerechnet bei Westcliff zu beschweren. Aber seine geduldige Miene ermutigte sie dazu weiterzusprechen. »Er hat mich eine Schmarotzerin genannt«, sagte sie leise, um Lillian nicht zu stören. »Er wollte von mir wissen, wie die Welt von meiner Existenz profitiert hat oder was ich jemals für irgendjemanden getan hätte.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Mir … fiel nichts ein.«

Der Ausdruck in Westcliffs kaffeebraunen Augen war unergründlich. Er bedeutete ihr, sich aufs Sofa zu setzen, und sie gehorchte. Zu ihrem Erstaunen nahm er ihre Hand in seine und drückte sie herzlich. So etwas hatte der sonst so zurückhaltende Earl noch nie getan.

»Daisy«, sagte Westcliff sanft, »das Leben der meisten Menschen zeichnet sich nicht durch große Leistungen aus, sondern durch eine unendliche Anzahl von kleinen. Jedes Mal, wenn du jemandem einen Gefallen tust oder ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberst, gibt das deinem Leben einen Sinn. Zweifle nie an deinem Wert, kleine Freundin. Ohne Daisy Bowman wäre die Welt ein deutlich trostloserer Ort.«

Kaum jemand würde bestreiten, dass Stony Cross Park einer der schönsten Orte Englands war. Das Anwesen in Hampshire bot eine schier unendlich vielfältige Landschaft, von undurchdringlichen Wäldern über prächtig blühende Feuchtwiesen und Sümpfe bis hin zu dem stattlichen honigfarbenen Herrenhaus aus Stein, das auf einer Klippe über dem Fluss Itchen stand.

Überall blühte das Leben, blasse Triebe sprossen aus dem Teppich aus moderndem Laub am Fuße knorriger Eichen und Zedern, und in einem dunkleren Teil des Waldes leuchteten Glockenblumen.

Rotflügelige Heuschrecken tanzten durch Wiesen voller wilder Schlüsselblumen und Frauenmantel, während durchscheinende blaue Libellen über den kunstvoll geschnittenen weißen Blüten des Fieberklees schwebten. Es roch nach Frühling, die Luft war erfüllt von dem Duft von Buchsbaumhecken und zartgrünem Rasen.

Nach einer zwölfstündigen Kutschfahrt, die Lillian als eine Reise durch die Hölle bezeichnete, trafen die Westcliffs, die Bowmans und die anderen Gäste zu ihrer Erleichterung endlich in Stony Cross Park ein.

Der Himmel über Hampshire hatte ein sanfteres Blau, und über allem lag eine glückselige Ruhe. Man hörte weder das Klappern von Rädern und Hufen auf gepflasterten Straßen noch Verkäufer oder Bettler, noch Fabriksirenen oder irgendeinen anderen Lärm, der einem in der Stadt ständig in den Ohren lag. Hier gab es nur das Zwitschern der Rotkehlchen in den Hecken, das Klappern der Grünspechte in den Bäumen und gelegentlich einen Eisvogel, der aus dem schützenden Flussschilf schoss.

Lillian, die das Landleben einst für sterbenslangweilig gehalten hatte, war überglücklich, wieder auf dem Gut zu sein. Sie mochte die Atmosphäre von Stony Cross Park außerordentlich, und nach ihrer ersten Nacht im Herrenhaus sah sie so gut aus und fühlte sich so wohl wie seit Wochen nicht mehr. Da sich Lillians Schwangerschaft nun nicht mehr so leicht durch hochgeschnittene Kleider verbergen ließ, trat sie nicht länger in der Öffentlichkeit auf. Auf ihrem eigenen Anwesen genoss Lillian jedoch relative Freiheit, auch wenn sie den Umgang mit den Gästen auf kleine Gruppen beschränken würde.

Zu Daisys großer Freude war sie in ihrem Lieblingszimmer untergebracht. Das hübsche, malerische Zimmer hatte einst Lord Westcliffs Schwester Lady Aline bewohnt, die jetzt mit Mann und Sohn in Amerika lebte. Das reizvollste Merkmal des Schlafzimmers war die kleine sich anschließende Kemenate, die aus Frankreich mitgebracht und dort eingebaut worden war. Sie stammte ursprünglich aus einem Chateau des siebtzehnten Jahrhunderts und war mit einer Chaiselongue ausgestattet, die sich hervorragend zum Schlafen oder Lesen eignete.

Gemütlich mit einem ihrer Bücher auf dem Liegemöbel zusammengerollt fühlte sich Daisy, als wäre sie vor dem Rest der Welt verborgen. Wenn sie doch nur hier in Stony Cross bleiben und für immer mit ihrer Schwester zusammenleben könnte! Doch noch während sie das dachte, wusste sie, dass sie so niemals ganz glücklich werden würde. Sie wollte ein eigenes Leben, einen eigenen Mann, eigene Kinder.

Zum ersten Mal, solange Daisy denken konnte, waren ihre Mutter und sie Verbündete, vereint in dem Wunsch, eine Heirat mit dem verhassten Matthew Swift zu verhindern.

»Dieser verachtungswürdige junge Mann«, hatte Mercedes geschimpft. »Ich hege keinen Zweifel, dass er deinem Vater diese verfluchte Idee in den Kopf gesetzt hat! Ich habe schon immer geargwöhnt, dass er …«

»Was?«, hakte Daisy nach, aber ihre Mutter presste nur die Lippen zusammen, bis sie eine schmale, verbitterte Linie bildeten.

Als Mercedes die Gästeliste studierte, informierte sie Daisy, dass eine große Zahl vielversprechender Gentlemen im Herrenhaus wohne. »Auch wenn sie nicht alle Titel erben werden, so stammen sie doch aus adligen Familien«, sagte Mercedes. »Und man weiß ja nie … Manchmal geschieht ein Unglück … tödliche Krankheiten oder ein schwerer Unfall. Mehrere Mitglieder der Familie könnten auf einmal ausgelöscht werden, und deinem Mann würde sodann automatisch der Adelstitel zukommen!« Bei dem Gedanken an den Schicksalsschlag, der Daisys zukünftigen Schwiegereltern widerfahren könnte, zeichnete sich Hoffnung auf Mercedes’ Gesicht ab, und sie ging die Liste noch einmal genauer durch.

Daisy wartete ungeduldig auf Evie und St. Vincent, die im Laufe der Woche auftauchen sollten. Sie vermisste Evie schrecklich, vor allem da Annabelle mit ihrem Baby beschäftigt war und Lillian zu langsam, um sie bei den zügigen Spaziergängen zu begleiten, die sie so liebte.

Am dritten Tag nach ihrer Ankunft in Hampshire unternahm Daisy allein einen Nachmittagsspaziergang und schlug einen ausgetretenen Pfad ein, den sie von ihren vielen früheren Besuchen her kannte. Sie trug ein blassblaues, mit Blumen bedrucktes Musselinkleid, feste Wanderschuhe und schwang eine Strohhaube an den Bändern durch die Luft.

Während sie durch einen Hohlweg schritt, vorbei an Feuchtwiesen, auf denen gelbes Schöllkraut und roter Sonnentau leuchteten, dachte Daisy über ihr Problem nach.

Warum fiel es ihr so schwer, einen Mann zu finden?

Es war ja nicht so, dass sie sich nicht verlieben wollte . Sie wünschte es sich sogar sehr, und es kam ihr schrecklich unfair vor, dass sie noch niemanden gefunden hatte. Dabei hatte sie es doch versucht! Aber irgendetwas war immer falsch.

Hatte ein Gentleman das richtige Alter, war er passiv oder aufgeblasen. War er freundlich und interessant, war er entweder alt genug, um ihr Großvater zu sein, oder er hatte ein unangenehmes Problem, wie zum Beispiel einen üblen Körpergeruch oder eine feuchte Aussprache.

Daisy wusste, dass sie keine auffallende Schönheit war. Sie war zu klein und schmächtig, und obwohl sie Komplimente für ihre dunklen Augen und ihr dunkelbraunes Haar erhielt, das einen schönen Kontrast zu ihrem hellen Teint bildete, hatte sie schon viel zu oft die Begriffe »koboldhaft« und »schelmisch« gehört. Koboldfrauen zogen Freier nicht annähernd in dem Maße an wie klassische Schönheiten oder zierliche, hübsche Frauen.

Zudem wurde angemerkt, dass Daisy zu viel Zeit mit ihren Büchern verbrachte, was vermutlich stimmte. Hätte man es ihr erlaubt, hätte Daisy den Großteil des Tages mit Lesen und Träumen verbracht. Jeder vernünftige Adlige kam zweifellos zu dem Schluss, dass sie sich als Ehefrau in Sachen Haushaltsführung nicht als besonders nützlich erweisen würde, ebenso wenig wie bei Aufgaben, bei denen es auf Details ankam. Und damit lag der Adlige ganz richtig.

Daisy interessierte sich nicht für den Inhalt der Speisekammer oder dafür, wie viel Seife für den Waschtag bestellt werden musste. Sie interessierte sich viel mehr für Romane, Gedichte und Geschichten, die sie zu langen Tagträumen anregten. Dann blickte sie aus dem Fenster in die Ferne, während sie in ihrer Vorstellung exotische Abenteuer erlebte, auf fliegenden Teppichen reiste, über fremde Ozeane segelte und auf tropischen Inseln nach Schätzen suchte.

In Daisys Träumen gab es jede Menge faszinierender Gentlemen, inspiriert von Geschichten über verwegene Heldentaten und edle Unternehmungen. Diese Fantasiemänner waren so viel aufregender und interessanter als die gewöhnlichen. Sie sprachen in wunderschöner Prosa, brillierten im Schwertkampf und im Duell und betörten die Frauen ihres Herzens mit ihren Küssen.

Natürlich war Daisy nicht so naiv zu glauben, dass es solche Männer wirklich gab, aber sie musste zugeben, dass ihr die realen Männer verglichen mit all den romantischen Bildern in ihrem Kopf schrecklich … nun ja, langweilig erschienen.

Daisy hielt das Gesicht in den milden Sonnenschein, der in hellen Fäden durch das Blätterdach der Bäume über ihrem Kopf fiel, und sang ein beschwingtes Volkslied namens »Alte Jungfer in der Mansarde«:

Komm reicher Mann, komm armer Mann,

seist du dumm oder gescheit,

Hauptsache, es kommt ein Mann!

Willst du nicht heiraten aus Mitleid?

Schon bald erreichte sie das Ziel ihres Ausflugs – einen Brunnen, der aus einer Quelle gespeist wurde und den sie und die anderen Mauerblümchen schon ein paarmal aufgesucht hatten. Ein Wunschbrunnen. Der örtlichen Überlieferung zufolge hauste darin ein Geist, und wenn man eine Nadel hineinwarf, erfüllte er einem einen Wunsch. Die einzige Gefahr bestand darin, zu nahe heranzutreten, denn der Brunnengeist konnte eine Frau mit sich in die Tiefe ziehen und sie zwingen, für immer als seine Gefährtin zu leben.

Bei früheren Gelegenheiten hatte Daisy sich etwas für ihre Freundinnen gewünscht – und es war stets in Erfüllung gegangen. Jetzt brauchte sie ein bisschen Magie für sich selbst.

Vorsichtig legte Daisy ihre Haube auf den Boden, näherte sich dem Loch und blickte in das schlammig aussehende Wasser, das darin schwappte. Sie ließ ihre Hand in die Tasche ihres Wanderkleides gleiten und zog eine Pappe mit Stecknadeln heraus.

»Also, Geist«, sagte sie im Plauderton, »da ich bislang so wenig Erfolg hatte, den Mann zu finden, den ich mir immer gewünscht habe, überlasse ich es nun dir. Ich habe keine Erwartungen, keine Bedingungen. Was ich mir wünsche, ist einfach nur … den richtigen Mann für mich. Ich bin offen für alles.«

Sie zog die Nadeln in Zweier- und Dreiergruppen aus der Pappe und warf sie in den Brunnen. Das Metall funkelte in der Luft, bevor die Nadeln auf der bewegten Wasseroberfläche landeten und unter die trübe Oberfläche sanken.

»Ich möchte alle diese Nadeln demselben Wunsch widmen«, erklärte sie dem Brunnen. Dann stand sie lange mit geschlossenen Augen da und konzentrierte sich. Das Rauschen des Wassers wurde durch das Zwitschern eines Zilpzalps, der im Sturzflug ein Insekt fing, und das Summen einer Libelle überlagert.

Plötzlich knackte es hinter ihr, als hätte jemand auf einen Zweig getreten.

Als Daisy sich daraufhin umdrehte, sah sie eine dunkle Gestalt auf sich zukommen, die nur noch wenige Meter entfernt war. Vor lauter Schreck, jemanden in ihrer Nähe zu entdecken, nachdem sie sich allein gewähnt hatte, stolperte ihr Herz ein paarmal auf unangenehme Weise.

Der Mann war genauso groß und kräftig wie der Gatte ihrer Freundin Annabelle, wobei er etwas jünger wirkte, knapp unter dreißig vielleicht. »Verzeihen Sie«, sagte er leise, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, »ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Oh, Sie haben mich nicht erschreckt«, log sie unbeschwert, während ihr Puls immer noch hämmerte. »Ich war nur etwas … überrascht.«

Er hatte die Hände in die Taschen geschoben und näherte sich ihr gelassenen Schrittes. »Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen«, sagte er. »Es hieß, Sie unternähmen hier draußen einen Spaziergang.«

Er kam ihr ziemlich bekannt vor und sah Daisy an, als erwartete er, dass sie ihn kenne. Wie immer, wenn sie den Namen einer Person vergessen hatte, der sie schon einmal begegnet war, überkam sie das peinliche Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

»Sie sind ein Gast von Lord Westcliff?« Sie versuchte verzweifelt, ihn einzuordnen.

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu und lächelte schwach. »Ja, Miss Bowman.«

Er kannte ihren Namen. Daisy betrachtete ihn mit wachsender Verwirrung. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie einen derart attraktiven Mann hatte vergessen können. Seine Gesichtszüge waren markant, zu männlich, um sie als schön zu bezeichnen, zu auffällig, um gewöhnlich zu sein. Und seine Augen hatten das satte Himmelblau einer Prunkwinde, das durch seine sonnengebräunte Haut noch intensiver wirkte. Er hatte etwas Außergewöhnliches an sich, eine Art kaum gebändigter Vitalität, die sie beinahe einen Schritt zurückweichen ließ.

Als er den Kopf neigte, um sie anzusehen, glitt ein mahagonifarbener Schimmer über sein glänzendes dunkelbraunes Haar. Seine dichten Locken waren kürzer geschnitten, als es in Europa üblich war. Eher wie es Amerikaner zu tragen pflegten. Und wenn sie es recht bedachte, hatte er auch mit amerikanischem Akzent gesprochen. Und der frische, saubere Geruch, den sie wahrnahm … Wenn sie sich nicht allzu sehr irrte, war es der Duft von … Bowman’s Seife?

Plötzlich wusste Daisy, wer er war, und beinahe gaben ihre Knie unter ihr nach.

»Sie?«, flüsterte sie, und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sie in das Gesicht von Matthew Swift blickte.