Matthew wusste, dass es falsch war, kaum dass sich ihre Lippen berührten. Weil nichts jemals dem vollkommenen Gefühl, Daisy in seinen Armen zu halten, gleichkommen würde. Er war für sein ganzes Leben ruiniert. Aber Gott möge ihm beistehen, es war ihm gleichgültig.
Ihr Mund war weich und heiß wie Sonnenschein, wie die weiße Flamme eines Holzfeuers. Als er ihre Unterlippe mit der Zungenspitze berührte, keuchte sie. Langsam wanderten ihre Hände zu seinen Schultern, und dann spürte er, wie ihre Finger in sein Haar glitten und ihn davon abhielten, den Kopf zurückzuziehen. Dabei bestand nicht einmal der Hauch einer Chance, dass das geschah. Nichts hätte ihn dazu bringen können aufzuhören.
Seine Finger zitterten, als er die exquisite Linie ihres Kinns mit seiner Hand umschloss und ihr Gesicht sanft zurückneigte. Der köstliche, kaum zu beschreibende Geschmack ihres Mundes schürte ein Verlangen in ihm, das außer Kontrolle zu geraten drohte, bis sie in langen Seufzern zu atmen begann und sich ihr Körper an seinen schmiegte.
Er ließ sie spüren, wie viel stärker er war, wie viel schwerer, sein muskulöser Arm lag fest um ihren Rücken, und er stand leicht breitbeinig, um sie zwischen seinen kräftigen Schenkeln zu halten. Ihr Oberkörper war in ein gepolstertes Korsett geschnürt, und fast hätte er sich von dem Drang überwältigen lassen, die Schnüre wegzureißen und die zarte Haut darunter zu berühren.
Stattdessen versenkte er seine Finger in ihrem hochgesteckten Haar und zog ihren Kopf nach hinten, bis er in seiner Hand lag und ihr blasser Hals freigelegt war. Er suchte nach dem Puls, den er vorhin gesehen hatte, und fuhr mit seinen Lippen sanft über die unsichtbaren Nervenbahnen unter ihrer Haut. Als er eine empfindliche Stelle berührte, spürte er, wie sie ein Stöhnen unterdrückte.
So würde es sein, mit ihr Liebe zu machen, dachte er benommen. Das süße Zittern ihres Körpers, wenn er in sie eindrang, das zarte, unruhige Atmen, die hilflosen Laute, die aus ihrer Kehle drangen. Ihre Haut, warm und weiblich, duftete nach Tee und Talkum und nach einem Hauch Salz. Er fand ihren Mund wieder, öffnete ihn, schwelgte in dem seidigen Gefühl und ihrem Geschmack, der ihn verrückt machte.
Sie hätte sich wehren sollen, aber sie gab immer weiter nach, wurde immer anschmiegsamer, was ihn dazu trieb, alle Grenzen zu übertreten. Er eroberte ihren Mund mit tiefen, leidenschaftlichen Küssen und zog ihren Körper leidenschaftlich an seinen. Er spürte, wie sie die Beine unter ihrem Kleid spreizte, und schob seinen Oberschenkel zwischen sie. Sie wand sich in unschuldigem Verlangen, ihr Gesicht glühte in der Farbe von Spätsommermohn. Hätte sie genau verstanden, was er von ihr wollte, wäre sie mehr als nur errötet. Sie wäre auf der Stelle in Ohnmacht gefallen.
Matthew löste seinen Mund von ihrem und drückte sein Kinn an ihre Schläfe. »Ich denke«, sagte er schwer atmend, »damit ist die Frage, ob ich Sie begehrenswert finde, beantwortet.«
Daisy sammelte Kraft, um sich in seinem Griff zu drehen, wandte sich von ihm ab und starrte blind auf die Reihen von ledergebundenen Büchern vor ihr. Mit ihren zarten Händen stützte sie sich auf das Mahagoniregal, während sie ihren rasenden Atem zu beruhigen versuchte.
Matthew stand hinter ihr und legte seine Hände auf ihre, und als er die zarte Spitze ihres Ohrs berührte, verspannten sich ihre schmalen Schultern an seiner Brust.
»Nicht«, sagte sie mit belegter Stimme und versuchte, sich von ihm zu lösen.
Doch Matthew konnte nicht aufhören. Er folgte der Bewegung ihres Kopfes und liebkoste die flaumige Neigung ihres Halses. Er ließ eine ihrer Hände los und legte seine Handfläche auf die freiliegende Haut über ihrem Mieder, direkt über ihrem Brustansatz. Daisy hob die Hand, um seine Finger fester an ihre Brust zu drücken, als ob ihre gemeinsamen Anstrengungen notwendig wären, um das Pochen ihres unbesonnenen Herzens zu unterdrücken.
Matthew spannte alle seine Muskeln an, um den übermächtigen Drang zu unterdrücken, sie zu packen und auf das nahe Sofa zu tragen. Er wollte sie lieben, sich in ihr vergraben, bis sich alle bitteren Erinnerungen in ihrer Süße aufgelöst hatten. Aber diese Chance war ihm schon lange vor ihrer ersten Begegnung genommen worden.
Er hatte ihr nichts zu bieten. Sein Leben, sein Name, seine Identität … das alles war eine Illusion. Er war nicht der Mann, für den sie ihn hielt. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es herausfand.
Zu seinem Leidwesen stellte er fest, dass er unbewusst eine Hand in ihren Rock gekrallt hatte, als wollte er ihn hochziehen. Der Satin floss in schimmernden Bahnen durch seine Finger. Er dachte an ihren Körper, der in all diesen Stoff gehüllt war, und an das unselige Vergnügen, das es ihm bereiten würde, sie zu entkleiden. Ihren Körper mit seinem Mund und seinen Fingerspitzen zu erforschen, jede Kurve und jede Vertiefung, jede verborgene Stelle.
Matthew betrachtete seine Hand, als gehörte sie jemand anderem, und öffnete einen Finger nach dem anderen, bis der gelbe Satin herunterfiel. Er drehte sie zu sich herum und blickte in ihre tiefbraunen Augen.
»Matthew«, sagte sie undeutlich.
Es war das erste Mal, dass sie seinen Vornamen aussprach, und er hatte Schwierigkeiten, zu überspielen, welche starke Reaktion das in ihm auslöste. »Ja?«
»So wie du dich vorhin ausgedrückt hast … du hast nicht gesagt, dass du mich unter keinen Umständen heiraten wolltest … du hast gesagt, du kannst es nicht. Warum?«
»Da es nicht dazu kommen wird«, sagte er, »sind die Gründe nicht von Bedeutung.«
Daisy sah ihn skeptisch an und schürzte die Lippen auf eine Weise, die in ihm den flammenden Wunsch weckte, sie erneut zu küssen.
Er drehte sich zur Seite, um sie gehen zu lassen.
Dem stummen Signal gehorchend, schob sich Daisy an ihm vorbei.
Doch als Daisys Arm gegen seinen stieß, packte Matthew ihr Handgelenk, und plötzlich lag sie erneut in seinen Armen. Er konnte sich nicht beherrschen, seinen Mund auf ihren zu pressen, sie zu küssen, als ob sie ihm gehörte, als ob er in ihr wäre.
Das empfinde ich für dich, sagte er ihr mit leidenschaftlichen, verzehrenden Küssen. Das ist es, was ich will. Er spürte die neue Spannung in ihren Gliedern, schmeckte ihre Lust und erkannte, dass er sie hier und jetzt zum Höhepunkt bringen konnte, wenn er ihr unter das Kleid griff und …
Nein!, sagte er sich verzweifelt. Er war schon zu weit gegangen. Als er merkte, wie nahe er daran war, jede Selbstbeherrschung zu verlieren, riss Matthew mit einem leisen Stöhnen seinen Mund von ihrem und stieß Daisy von sich.
Woraufhin sie umgehend aus der Bibliothek floh. Der Saum des gelben Kleides glitt um die Kante des Türrahmens, bevor er verschwand wie der letzte Sonnenstrahl, der über den Horizont gleitet. Und Matthew fragte sich düster, wie er jemals wieder normal mit ihr umgehen sollte.
*
Es war eine altehrwürdige Tradition, dass die Herrin eines Landsitzes den Pächtern und Dorfbewohnern als gute Fee zur Seite stand. Das bedeutete, dass sie denjenigen, die es am nötigsten hatten, mit Rat und Tat half und ihnen notwendige Dinge wie Lebensmittel und Kleidung spendete. Bislang hatte Lillian diese Aufgaben bereitwillig erfüllt, doch ihr Zustand machte es ihr mittlerweile unmöglich.
Es kam nicht infrage, Mercedes zu bitten, sie zu vertreten – Mercedes war zu herrisch und ungeduldig für ein solches Unterfangen. Sie ertrug die Nähe von Kranken nicht, ältere Menschen fühlten sich in ihrer Gegenwart nicht wohl, und etwas in ihrem Tonfall brachte Babys unweigerlich zum Weinen.
Daher war Daisy die logische Wahl. Ihr machte dieser Besuchstag überhaupt nichts aus. Sie liebte es, allein mit dem Ponykarren unterwegs zu sein, Pakete und Einweckgläser auszuliefern, Sehbehinderten vorzulesen und Neuigkeiten von den Dorfbewohnern zu erfahren. Noch besser war, dass das Ganze äußerst zwanglos ablief und sie sich nicht elegant anziehen und auch nicht um die Etikette scheren musste.
Doch es gab noch einen weiteren Grund, warum Daisy froh war, ins Dorf zu fahren … so war sie beschäftigt und kam aus dem Herrenhaus fort, damit sie an etwas anderes als an Matthew Swift denken konnte.
Drei Tage waren seit diesem schrecklichen Gesellschaftsspiel und seinen Folgen verstrichen – nämlich, dass Matthew sie mit seinen Küssen beinahe um den Verstand gebracht hatte. Jetzt verhielt er sich ihr gegenüber so, wie er es auch zuvor stets getan hatte – kühl und höflich.
Fast hätte sie sich einbilden können, es habe sich um einen Traum gehandelt, wenn nicht ihre Nerven jedes Mal Funken sprühten, sobald Swift in ihrer Nähe war, und sich ihr Magen hob und senkte wie ein betrunkener Spatz.
Gern hätte sie mit jemandem darüber geredet, aber das wäre zu beschämend gewesen und hätte sich zudem wie Verrat angefühlt, wobei sie nicht hätte sagen können, an wem. Sie wusste nur, dass sich nichts mehr richtig anfühlte. Sie schlief nicht gut, und deshalb war sie tagsüber unbeholfen und unkonzentriert.
Da sie annahm, sie sei krank, war Daisy mit einer Beschreibung ihres Zustands zur Haushälterin gegangen und hatte einen Löffel übel schmeckendes Rizinusöl verabreicht bekommen. Das hatte nicht im Geringsten geholfen. Und das Schlimmste war, dass sie sich nicht mehr auf ihre Bücher konzentrieren konnte. Sie hatte immer wieder dieselben Seiten gelesen, aber sie konnte einfach kein Interesse mehr für die Geschichte aufbringen.
Daisy hatte keine Ahnung, wie sie sich wieder fangen sollte. Aber sie hielt es für eine gute Sache, nicht mehr über sich nachzudenken und etwas für jemand anderen zu tun.
Am Vormittag fuhr sie mit dem großen offenen Wagen los, der von einem stämmigen braunen Pony namens Hubert gezogen wurde. Der Wagen war mit Porzellangefäßen mit Lebensmitteln beladen, Ballen mit Flanellstoff, Käselaiben, Hammelfleisch, Speck, Tee und Portweinflaschen.
Die Besuche verliefen im Allgemeinen recht angenehm, und die Dorfbewohner schienen Daisys fröhliche Gegenwart zu genießen. Einige von ihnen brachten sie zum Lachen, wenn sie verschmitzt beschrieben, wie es früher gewesen war, wenn Lord Westcliffs Mutter zu Besuch gekommen war.
Die Countesswitwe hatte nur zähneknirschend ihre Geschenke verteilt und große Dankesbekundungen erwartet. Wenn die Frauen nicht tief genug knicksten, hatte die Countesswitwe säuerlich gefragt, ob ihre Knie steif seien. Ebenso hatte sie erwartet, dass man sie fragte, wie die Menschen ihre Kinder nennen sollten, und sie belehrt, welche Ansichten sie über Religion und Hygiene haben sollten. Erschwerend kam hinzu, dass die Countess Speisen mitbrachte, die unappetitlich zusammengewürfelt waren. Zum Beispiel Fleisch, Gemüse und Süßigkeiten in einem Gefäß.
»Du liebe Güte«, rief Daisy aus und legte Gläser und Stoffballen auf den Tisch. »Was für eine böse alte Hexe! Genau wie in den Märchen …« Dann unterhielt sie die Kinder mit einer dramatischen Rezitation von Hänsel und Gretel, bis sie kichernd und kreischend unter den Tisch flüchteten und sie begeistert anschauten.
Am Ende des Besuchstages hatte Daisy ein kleines Buch mit Notizen gefüllt. War es möglich, einen Spezialisten ausfindig zu machen, der sich das schwindende Augenlicht vom alten Mr Hearnsley ansah, und könnten die Blunts vielleicht noch eine Flasche des Tonikums der Haushälterin gegen Mr Blunts Verdauungsbeschwerden bekommen?
Mit dem Versprechen, alle Fragen direkt an Lord und Lady Westcliff weiterzuleiten, stieg Daisy wieder auf den nun leeren Ponywagen und fuhr zurück nach Stony Cross Park.
Es dämmerte bereits, und die langen Schatten von Eichen und Kastanien fielen auf den ungepflasterten Feldweg, der vom Dorf wegführte. In diesem Teil Englands hatte man noch nicht die Wälder abgeholzt, um die Flotten und Fabriken zu versorgen, die in den Großstädten aus dem Boden gesprossen waren. Die Wälder waren unberührt und geheimnisvoll, durchzogen von kleinen Feldwegen, die halb von überhängenden, dicht belaubten Ästen verdeckt waren. In der aufziehenden Dämmerung waren die Bäume von Dunst umhüllt, wie Wächter einer Welt von Druiden, Hexenmeistern und Einhörnern. Eine braune Eule glitt durch den Hohlweg, wie ein Falter am sich verdunkelnden Himmel.
Es war still, und man hörte nur das Rattern der Wagenräder und das Klappern von Huberts eisenbeschlagenen Hufen. Daisy verstärkte ihren Griff um die Zügel, als das Pony sein Tempo beschleunigte. Hubert schien nervös zu sein, denn er warf den Kopf hin und her.
»Ganz ruhig, mein Junge«, beruhigte Daisy ihn und verlangsamte das Tempo, als die Achse des Wagens über eine unebene Stelle holperte. »Du magst den Wald wohl nicht, hab ich recht? Keine Sorge, bald erreichen wir freies Gelände.«
Das Pony trappelte nervös weiter, bis sich die Vegetation lichtete und das Blätterdach über ihnen verschwand. Sie erreichten einen trockenen, leicht abgesenkten Teil des Weges, der auf der einen Seite von Wald und auf der anderen von einer Wiese gesäumt war. »Siehst du, du Angsthase«, sagte Daisy fröhlich, »Kein Grund zur Sorge.«
Wie sich herausstellte, war ihre Zuversicht verfrüht. Plötzlich hörte sie laute Knackgeräusche aus dem Wald, Zweige und Äste, die unter Tritten knackten. Hubert wieherte ängstlich und riss den Kopf in Richtung des Geräusches. Ein lautes Grunzen ertönte, und Daisy sträubten sich die Nackenhaare.
Großer Gott, was war das?
Plötzlich stürmte ein riesiges, massiges Wesen aus dem Wald auf den Wagen zu.
Es ging alles zu schnell, als dass Daisy es hätte begreifen können. Sie hielt sich an den Zügeln fest, während Hubert mit einem panischen Wiehern einen Satz nach vorn machte, der Karren rappelte und holperte hinterher, als wäre er ein Kinderspielzeug.
Daisy versuchte vergeblich, Halt auf dem Bock zu finden, doch als der Wagen in eine tiefe Spurrille geriet, wurde sie herausgeschleudert. Hubert galoppierte weiter den Weg hinunter, während Daisy mit heftiger Wucht auf dem harten Boden landete.
Ihr stockte der Atem, und sie würgte und keuchte. Entfernt nahm sie wahr, dass ein riesiges Wesen, ein wahres Monster, auf sie zustürmte, doch dann hallte ein Schuss durch die Luft und klingelte in ihren Ohren.
Ein markerschüttertes, animalisches Kreischen ertönte … dann nichts mehr.
Daisy versuchte, sich aufzusetzen, und sank schwach auf den Bauch, da sich ihre Lunge verkrampfte. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als wäre er in einem Schraubstock eingeklemmt. Sehr wahrscheinlich musste sie sich übergeben, aber allein die Vorstellung, wie sehr das schmerzen würde, genügte, um den Drang zu unterdrücken.
Im nächsten Moment ließen donnernde Hufe den Boden unter Daisys Wange vibrieren. Endlich gelang es ihr, flach einzuatmen. Sie stützte sich auf die Ellbogen und hob das Kinn.
Drei Reiter – nein, vier – galoppierten auf sie zu, wobei die Hufe ihrer Pferde Staubwolken auf dem unbefestigten Weg aufwirbelten. Einer der Männer schwang sich aus dem Sattel, noch bevor sein Pferd zum Stehen kam, und eilte mit langen Schritten zu ihr.
Daisy blinzelte überrascht, als er sich auf die Knie sinken ließ und sie augenblicklich an sich zog. Ihr Kopf sank auf seinen Arm, und sie blickte auf Matthew Swifts dunkles und etwas verschwommenes Gesicht.
»Daisy.« Diesen Ton hatte sie noch nie von ihm gehört, seine Stimme klang rau und eindringlich. Er wiegte sie in seinem Arm und fuhr mit der freien Hand über ihren Körper, um sie rasch auf Verletzungen zu untersuchen. »Bist du verletzt?«
Daisy versuchte zu erklären, dass sie im Moment nur schlecht Luft bekam, und er schien ihr unzusammenhängendes Gestammel zu verstehen. »In Ordnung«, sagte er. »Versuche nicht zu sprechen. Und atme langsam.« Als er spürte, wie sie sich in seinen Armen rührte, drückte er sie behutsam an sich. »Lehne dich an mich.« Er strich über ihr Haar und schob es ihr aus dem Gesicht. Winzige Schauer ließen ihre Glieder beben, und er zog sie dichter an sich. »Ruhig, Liebes. Ganz ruhig. Du bist jetzt in Sicherheit.«
Daisy schloss die Augen, um ihr Erstaunen zu verbergen. Matthew Swift murmelte ihr Zärtlichkeiten zu und hielt sie in seinen starken Armen, und ihre Knochen schienen zu schmelzen wie karamellisierender Zucker.
Jahrelanges ungebärdiges Toben mit ihren Geschwistern hatte Daisy gelehrt, sich schnell von einem Sturz zu erholen. Unter anderen Umständen wäre sie schon längst aufgesprungen und hätte sich wieder aufgerappelt Aber jede entzückte Zelle in ihrem Körper versuchte, diesen genussvollen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern.
Matthews strich ihr sanft mit den Fingern übers Gesicht. »Sieh mich an, Liebes. Sag mir, wo es wehtut.«
Sie schlug die Augen auf. Sein Gesicht war direkt über ihrem. Als er sie aus seinen außergewöhnlich blauen Augen ansah, fühlte sie sich, als würde sie in Schichten aus Farbe schweben. »Du hast schöne Zähne«, sagte sie erschöpft zu ihm, »aber weißt du, deine Augen sind noch schöner …«
Swift runzelte die Stirn und strich mit dem Daumen über ihre Wange. Seine Berührung lockte einen Hauch von Rosa auf ihre Haut. »Kannst du mir deinen Namen nennen?«
Sie blinzelte ihn an. »Hast du ihn vergessen?«
»Nein, ich will wissen, ob du ihn vergessen hast.«
»Ich wäre nie so dumm, meinen eigenen Namen zu vergessen«, sagte sie. »Ich bin Daisy Bowman.«
»Und wann hast du Geburtstag?«
Sie konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. »Du würdest es nicht merken, wenn ich dir ein falsches Datum nenne.«
»Dein Geburtstag«, beharrte er.
»Der fünfte März.«
Er verzog den Mund. »Spiel keine Spielchen, du Schelm.«
»Also gut. Es ist der zwölfte September. Woher kennst du meinen Geburtstag?«
Statt zu antworten, blickte Swift auf und sprach zu seinen Begleitern, die sich um sie herum versammelt hatten. »Ihre Pupillen haben die gleiche Größe«, sagte er. »Und sie ist wach. Ich konnte auch keine Knochenbrüche feststellen.«
»Gott sei Dank.« Das war Westcliffs Stimme.
Hinter Matthew Swifts breiter Schulter sah sie ihren Schwager. Mr Mardling und Lord Llandrindon waren ebenfalls da und machten mitfühlende Gesichter.
Westcliff hielt ein Gewehr in der Hand und ging neben ihr in die Hocke. »Wir waren gerade auf Rückweg von einer Nachmittagsjagd«, erklärte der Earl. »Es war reiner Zufall, dass wir gerade dann auf dich gestoßen sind, als du angegriffen wurdest.«
»Ich hätte schwören können, dass es ein Wildschwein war«, sagte Daisy erstaunt.
»Aber das kann nicht sein«, bemerkte Lord Llandrindon mit einem herablassenden Kichern. »Da hat Ihnen Ihre Fantasie einen Streich gespielt, Miss Bowman. In England gibt es schon seit Hunderten von Jahren keine Wildschweine mehr.«
»Aber ich habe es gesehen …«, widersprach Daisy hartnäckig.
»Ist schon gut«, murmelte Swift und verstärkte seinen Griff. »Ich habe es auch gesehen.«
Westcliff machte eine bedauernde Miene. »Miss Bowman liegt nicht ganz falsch«, sagte er zu Llandrindon. »Wir haben ein lokales Problem mit entlaufenen Nutztieren, die eine oder zwei Würfe in Freiheit gezeugt haben. Erst letzten Monat wurde eine Reiterin von einem dieser Tiere angegriffen.«
»Du meinst, ich wurde gerade von einem wütenden Schwein angegriffen?«, fragte Daisy und richtete sich mühsam auf. Swift hielt einen Arm stützend in ihrem Rücken und drückte sie an seine warme Seite.
Am Horizont blitzte ein letzter Sonnenstrahl auf und blendete sie vorübergehend. Als Daisy daraufhin das Gesicht abwandte, spürte sie, wie Swifts Kinn über ihr Haar streifte.
»Nicht wütend«, sagte Westcliff. »Diese Schweine sind verwildert und daher gefährlich. Hausschweine, die in der freien Wildbahn ausgesetzt werden, können leicht aggressiv und ziemlich groß werden. Ich würde das Schwein, das wir gerade gesehen haben, auf mindestens zwanzig Stones schätzen.« Als der Earl Swifts Ratlosigkeit bemerkte, präzisierte er: »Ungefähr dreihundert Pfund.«
Swift half Daisy auf die Beine und stützte sie mit seinem kräftigen Körper. »Langsam«, murmelte er. »Ist Ihnen schwindlig? Oder übel?« Er war zum formellen Sie zurückgekehrt.
Daisy fühlte sich absolut wohl. Aber es war so wundervoll, nah bei ihm zu stehen, dass sie atemlos sagte: »Vielleicht ein bisschen.«
Er umfasste ihren Hinterkopf und drückte ihn sanft an seine Schulter. Ihr wurde warm, als sie die schützende Umarmung und seinen wundervoll kräftigen Körper spürte. Und das alles bei Matthew Swift, dem unromantischsten Mann, dem sie je begegnet war.
Bis jetzt hielt dieser Besuch eine Überraschung nach der anderen für sie bereit.
»Ich bringe Sie zurück«, sagte Swift dicht an ihrem Ohr. Ihre Haut prickelte vor Freude. »Meinen Sie, Sie können vor mir auf dem Sattel reiten?«
Wie sich alles umgekehrt hat, dachte Daisy, da sie bei dieser Aussicht einen schamlosen Kitzel der Vorfreude verspürte. Sie konnte sich in seine Arme zurücklehnen, während er sie auf seinem Pferd davontrug, und sich heimlich der einen oder anderen Fantasie hingeben. Sie konnte so tun, als wäre sie eine Abenteurerin, die von einem verwegenen Schurken entführt wurde.
»Ich fürchte, das wäre nicht klug«, unterbrach Lord Llandrindon lachend. »In Anbetracht der Situation zwischen Ihnen beiden …«
Daisy errötete und dachte zuerst, dass er sich auf die glühenden Küsse in der Bibliothek bezog. Aber davon konnte Llandrindon unmöglich wissen. Sie hatte es niemandem erzählt, und Swift war so verschlossen wie eine Muschel, was sein Privatleben anging. Nein, Llandrindon musste auf ihre Rivalität beim Rasenbowling anspielen.
»… denke ich, ich sollte Miss Bowman nach Hause begleiten«, fuhr Llandrindon fort, »damit es nicht etwa noch zu Handgreiflichkeiten kommt.«
Daisy warf einen Blick auf das lächelnde Gesicht des Viscount und wünschte sich, er hätte den Mund gehalten. Sie hob bereits zu einem Protest an, aber Swift kam ihr zuvor.
»Vielleicht haben Sie recht, Mylord.«
Oh, verflixt. Daisy war plötzlich kalt, und sie fühlte sich verstimmt, als Swift sie aus der warmen Geborgenheit seines Körpers entließ.
Westcliff suchte derweil grimmig den Boden ab. »Ich muss das Tier finden und es schießen.«
»Aber nicht meinetwegen, hoffe ich«, warf Daisy ängstlich ein.
»Da ist Blut auf dem Boden«, antwortete der Earl. »Das Tier ist verletzt. Es ist besser, es zu töten und damit zu erlösen, als es leiden zu lassen.«
Mr Mardling eilte zu seinem Pferd, um sein Gewehr zu holen. »Ich begleite Sie, Mylord!«, bot er eifrig an.
Lord Llandrindon war mittlerweile wieder auf sein Pferd gestiegen. »Übergeben Sie sie getrost mir«, sagte er zu Swift. »Ich bringe sie sicher zum Herrenhaus zurück.«
Swift legte einen Finger unter Daisys Kinn und hob sanft ihr Gesicht an. Dann holte er ein weißes Taschentuch heraus. »Wenn Ihnen immer noch schwindlig ist, wenn wir zu Hause ankommen«, sagte er und wischte ihr vorsichtig den Schmutz aus dem Gesicht, »lasse ich einen Arzt holen. Verstanden?«
Trotz seiner anmaßenden Art lag eine schwer zu beschreibende Zärtlichkeit in seinem Blick. Daisy wäre am liebsten in seinen Jagdmantel gekrochen und hätte sich an seine Brust geschmiegt, um seinen Herzschlag zu spüren. »Reiten Sie mit zurück«, fragte sie, »oder bleiben Sie bei Lord Westcliff?«
»Ich komme sofort nach.« Swift steckte das Taschentuch wieder in seine Tasche, bückte sich und hob sie mit Leichtigkeit vom Boden hoch. »Halten Sie sich an mir fest.«
Daisy legte ihre Arme um seinen Hals, ihr Handgelenk kribbelte, als es die heiße Haut in seinem Nacken und die kühlen, seidigen Locken berührte. Er trug sie, als ob sie nichts wöge. Seine Brust war wie aus Stahl, er atmete ruhig und gleichmäßig an ihrer Wange. Seine Haut verströmte den Duft von Sonne und Natur, und sie konnte sich gerade noch beherrschen, ihre Nase an seinem Hals zu reiben.
Verwirrt von der starken Anziehung, die er auf sie ausübte, schwieg Daisy, als Swift sie Lord Llandrindon übergab, der auf einem großen kastanienbraunen Wallach saß. Der Viscount setzte sie vor sich, und die Kante des Sattels bohrte sich in ihren Oberschenkel.
Llandrindon war ein gut aussehender Mann, elegant, mit dunklem Haar und vornehmen Gesichtszügen. Doch das Gefühl von Llandrindons Armen um ihren Körper, seine schmale Brust, sein Geruch … irgendwie war das alles nicht richtig. Die Berührung seiner Hand an ihrer Taille kam ihr fremd und aufdringlich vor.
Am liebsten hätte sie vor Verzweiflung darüber geweint, dass sie nicht ihn anstelle des Mannes begehrte, der der Falsche für sie war.
»Was ist passiert?« fragte Lillian, als Daisy den Salon der Marsdens betrat. Sie lag mit einem Journal auf dem Sofa. »Du siehst aus, als wärst du von einer Kutsche überrollt worden.«
»Ich hatte eine Begegnung mit einem ungezogenen Schwein.«
Lillian lächelte und legte das Journal zur Seite. »Wer könnte das wohl sein?«
»Das war nicht metaphorisch gemeint. Es war ein echtes Schwein.« Daisy setzte sich auf einen Stuhl neben ihre Schwester und schilderte ihr das Missgeschick, wobei sie es in ein humorvolles Licht rückte.
»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Lillian beunruhigt.
»Wunderbar«, versicherte Daisy ihr. »Und mit Hubert war auch alles in Ordnung. Er kam zur gleichen Zeit wie Lord Llandrindon und ich bei den Stallungen an.«
»Ein Glück.«
»Ja, es war schlau von Hubert, den Weg nach Hause zu finden.«
»Nein, nicht das verflixte Pony. Ich spreche davon, dass du mit Lord Llandrindon nach Hause geritten bist. Nicht, dass ich dich ermutigen will, ihn als Verehrer zu gewinnen, aber andererseits …«
»Er war nur leider nicht derjenige, mit dem ich zurückreiten wollte.« Daisy starrte auf ihre schmutzigen Röcke und konzentrierte sich darauf, ein Pferdehaar aus dem feinen Musselingewebe zu zupfen.
»Das kann ich dir nicht verübeln«, sagte Lillian. »Llandrindon ist nett, aber eher harmlos. Ich bin mir sicher, dass du lieber mit Mr Mardling zurückgeritten wärst.«
»Nein«, sagte Daisy. »Ich war sehr froh, dass ich nicht mit ihm zurückkommen musste. Derjenige, mit dem ich eigentlich auf einem Pferd reiten wollte, war …«
»Nein.« Lillian hielt sich die Ohren zu. »Sag es nicht. Ich will es nicht hören!«
Daisy musterte sie eindringlich. »Meinst du das wirklich ernst?«
Lillian schnitt eine Grimasse. »Hölle!«, murmelte sie. »Verdammt und zugenäht. Dieser Hunde …«
»Wenn das Baby auf der Welt ist«, unterbrach Daisy sie lächelnd, »musst du unbedingt aufhören, derart unflätige Worte zu benutzen.«
»Dann werde ich mich dem voll und ganz hingeben, bis er auf der Welt ist.«
»Bist du sicher, dass es ein ›Er‹ ist?«
»Das wäre besser, denn Westcliff braucht einen Erben, und ich werde so etwas nicht noch einmal durchmachen.« Lillian rieb sich mit den Handballen die müden Augen. »Da nur noch Matthew Swift übrig war«, fuhr sie dann mürrisch fort, »nehme ich an, er war derjenige, mit dem du zurückreiten wolltest.«
»Ja. Weil ich … Ich fühle mich zu ihm hingezogen.« Es tat gut, es laut auszusprechen.
Daisys Kehle, die sich wie zugeschnürt angefühlt hatte, weitete sich endlich und erlaubte ihr einen langen, tiefen Atemzug.
»Meinst du körperlich?«
»Auch in anderer Hinsicht.«
Lillian stützte ihre Wange auf ihre Hand, die sie so fest zur Faust geballt hatte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ist es, weil Vater ihn bevorzugt?«, erkundigte sie sich. »Hoffst du irgendwie, auf diese Weise seine Anerkennung zu gewinnen?«
»Oh nein. Wenn überhaupt, wäre Vaters Anerkennung ein Argument gegen Mr Swift. Ich bemühe mich nicht darum, ihm zu gefallen – ich weiß genau, dass das unmöglich ist.«
»Dann verstehe ich nicht, warum du einen Mann willst, der so offensichtlich der Falsche für dich ist. Du bist kein Tollkopf, Daisy. Impulsiv, ja, das bist du. Romantisch? Ganz gewiss. Aber du bist auch praktisch veranlagt und klug genug, um die Konsequenzen einer Beziehung mit Swift zu überblicken. Ich glaube, das Problem ist, dass du verzweifelt bist. Du bist die letzte von uns Mauerblümchen, die noch unverheiratet ist, und dann hat Vater dir dieses idiotische Ultimatum gestellt, und …«
»Ich bin nicht verzweifelt!«
»Wenn du tatsächlich in Erwägung ziehst, Matthew Swift zu heiraten, würde ich sogar behaupten, dass das ein Zeichen von extremer Verzweiflung ist.«
Man hatte Daisy noch nie vorgeworfen, jähzornig zu sein – diese zweifelhafte Ehre war stets Lillian zuteilgeworden. Doch jetzt erfüllte Empörung ihre Brust, sie fühlte sich wie ein unter Druck stehender Dampfkessel und musste sich schwer beherrschen, um nicht zu explodieren.
Der Blick auf den gewölbten Bauch ihrer Schwester half ihr, sich zu beruhigen. Lillian hatte mit vielen neuen Unannehmlichkeiten und Unsicherheiten zu kämpfen. Und jetzt bereitete ihr Daisy auch noch Sorgen.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn heiraten will«, antwortete Daisy. »Ich möchte nur mehr über ihn herausfinden. Was für ein Mann er ist. Ich wüsste nicht, was das schaden kann.«
»Aber das wirst du nicht«, widersprach Lillian voller Überzeugung. »Das ist genau der Punkt. Er wird dir nicht zeigen, wer er wirklich ist, er wird dich täuschen. Er beherrscht die Kunst herauszufinden, was die Leute wollen, und es ihnen zu geben, und das stets nur zu seinem eigenen Vorteil. Sieh doch nur, wie er sich zu dem Sohn gemacht hat, den Vater immer wollte. Jetzt wird er dir vorspielen, der Mann zu sein, den du dir immer gewünscht hast.«
»Er konnte nicht wissen, dass …«, wollte Daisy entgegnen, aber Lillian unterbrach sie rücksichtslos, zu erzürnt, um ein vernünftiges Gespräch zu führen.
»Er hat kein Interesse an dir, an deinem Herzen und deinem Verstand, an der Person, die du bist … er will die Kontrolle über das Unternehmen, und du bist für ihn ein Weg, sie zu bekommen. Natürlich versucht er, dich dazu zu bringen, ihn zu mögen … er wird dich verzaubern, bis du am Tag nach deiner Hochzeit herausfindest, dass das alles nur eine Illusion war. Er ist genau wie Vater, Daisy! Er wird dich erdrücken oder dich in jemanden wie Mutter verwandeln. Ist das das Leben, das du willst?«
»Natürlich nicht.«
Zum ersten Mal erlebte Daisy, dass sie mit ihrer älteren Schwester über etwas Wichtiges nicht sprechen konnte.
Es gab so vieles, was sie sagen wollte … dass nicht alles, was Matthew Swift gesagt und getan hatte, berechnend gewesen sein konnte. Dass er darauf hätte bestehen können, dass sie mit ihm zum Herrenhaus zurückritt und dass er sie stattdessen ohne Protest an Llandrindon übergeben hatte. Sie wollte ihr auch anvertrauen, dass Swift sie geküsst hatte, wie wundervoll es gewesen war und wie sehr es sie gleichzeitig beunruhigte.
Aber wenn Lillian in dieser Stimmung war, hatte es keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Sie würden sich nur im Kreis drehen.
Das anhaltende Schweigen wurde bedrückend.
»Und?«, fragte Lillian schließlich. »Was willst du tun?«
Daisy stand auf, rieb an einem Schmutzfleck auf ihrem Arm und sagte zerknirscht: »Ich glaube, ich sollte erst einmal ein Bad nehmen.«
»Du weißt genau, was ich meine!«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«, fragte Daisy mit einer förmlichen Höflichkeit, die ihr einen finsteren Blick von Lillian einbrachte.
»Sag Matthew Swift, er wäre eine widerliche Kröte, und du würdest auf keinen Fall in Betracht ziehen, ihn zu heiraten!«