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Nachdem das Shuttle in der Zentralstation von Aret gelandet war und Danen Xiork, jüngster Informator der Ratssicherheitsabteilung des Satelliten A1 und erst seit einem Zyklus in Amt und Würden, sein unbefangenstes Lächeln aufgesetzt hatte, um durch die erste MSD Zone zu gelangen, wurde ihm erst bewußt, wie unterschiedlich die Welthauptstadt und der Satellit eigentlich waren.
Die künstliche Welt im Orbit bot zwar nur vier Millionen Menschen Platz, aber die einzigen Personen, die nicht der Alphaordnung angehörten waren die Techniker der Mehrverwertungsanlage. Ein paar hundert strahlenresistente Genklons.
Danen Xiork war ein kleiner, etwas schmächtiger Junge, der seine Siebentausend-Tage-Feier noch vor sich hatte, aber seine anerzogene Arroganz, das Wissen um seine Intelligenz, die Zugehörigkeit zur reichen und mächtigen Familie Xiork, sowie die offizielle Dienstkleidung der freien Informatoren gaben ihm etwas von einem Mann. Er hatte sich, ganz wie es die gegenwärtige Mode empfahl, seinen Kopf rasieren lassen und trug über den Augenbrauen implantierte Dak-Gläser, welche sich, je nach Stimmung des Trägers, verfärbten. Da er sich nie natürlichem Sonnenlicht ausgesetzt hatte, war seine Haut weiß wie Lidique, mit einem leichten bläulichen Schimmer, und die Mädchen aus seinem Abitor lächelten ihm schüchtern zu, wenn er ihnen zufällig in den Gängen begegnete.
Er hatte Logik studiert, Selbstverteidigung und Kommunikation, war an der Handfeuerwaffe ausgebildet worden und sprach sogar einige Brocken Ruskin, aber er hatte den Satelliten noch nie verlassen.
In den riesigen Sechseckhallen der Zentralstation befanden sich tausende Menschen, die anscheinend völlig planlos von einem Ort zum anderen hasteten oder durch lautes Zurufen und Anschreien das Ihrige zum ohnehin schon ohrenbetäubenden Lärm hinzufügten. Wrackteile von Fahrzeugen und Maschinen verrotteten hier, man watete durch knöcheltiefen Schlamm und der feine Staub in der Luft machte das Atmen ohne Atemschutzgerät unmöglich. Kondenswasser tropfte von oben herab und die Beleuchtung warf unzureichend blaukaltes Licht auf das Massenszenario, außerdem stieß man beim Gehen immer wieder an harte Gegenstände, die sich unter dem Schlamm verbargen.
"Es ist sehr kalt hier."
Danen fror, trotz des vorsorglich besorgten Thermoveralls.
"Ja, und es ist wirklich laut und dreckig, und erst dieser Gestank..."
Igid Lad, erster Assistent des jüngsten Satelliteninformators Danen Xiork, hatte sein Atemschutzgerät kurz abgenommen und bedachte die Sumpflandschaft zu seinen Füßen mit unwilligen Blicken. Er war noch kleiner als der Informator, aber mindestens doppelt so alt und etwas beleibt, so daß ihm schnellere Bewegungen unmöglich waren und er sogar einen Gravitationssubtraktor am Gürtel trug, für den Fall, daß die Kraft in seinen Beinen nachlassen sollte.
"Hör zu, Igid. Wenn wir uns gleich hier durch die Kontrolle schmuggeln, ersparen wir uns den weiteren Weg in diesem Dreckloch und..."
"Das ist Sektor B4. Wir müssen zu Sektor B2."
"Das ist doch völlig gleichgültig. Merkt keiner. Los, hier durch."
Danen schob seinen Assistenten über eine Sperrlinie, durchschritt selbst eine zweite Sperre und stand kurz darauf zwischen zwei mannshohen Metallboxen, die, in kurzen Abständen nebeneinander aufgestellt, die Ankunftszone der Zentralstation von den übrigen Hallen trennte. Ein Laser tastete Danen ab und hinter ihm schnappten schwere Stahlversperrungen ein. An seiner linken Seite befand sich ein Bildschirm, mehrere untereinander angeordnete Spaltöffnungen und in Kopfhöhe ein kleiner Lautsprecher, der ein monotones Summen von sich gab.
Ein Ideco. Ein ganz gewöhnlicher Identitätskontrollcomputer.
"Identitätskarte. Insert A."
Eine Computerstimme gab knappe Anweisungen und auf dem Bildschirm blinkte ununterbrochen das Obrigkeitszeichen des Metrosicherungsdienstes.
Danen steckte seine Identitätskarte, eine handtellergroße perforierte Kunststoffscheibe, in den angegeben Insert und die Stimme begann in einem atemberaubenden Tempo loszulegen.
"Danen Xiork. Kennzahl A 20224 cw4. Personenordnung Alpha. Profession Informator Klasse A. Basismeldung Satel 77hg4... hg... hrrrrgrrr... "
Die Computerstimme stockte und der Lautsprecher gab nun ein unangenehmes Geräusch von sich. Das mißtrauische Gesicht eines Metropolizisten erschien auf dem Schirm des Idecos. Danen begann seinen Übermut zu verfluchen. Er fluchte einen Lernfluch. Einen, der ihm schon während seiner Schulungszeit beigebracht worden war und der eigentlich mehr wie ein Gebet klang.
Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein kleiner, ölverschmierter Mann vor Danen in der Absperrung.
"In letzter Zeit spielt er total verrückt, aber die Leute in der Zentrale sagen einfach sie hätten keine Möglichkeit ihn auszutauschen, oder keine Zeit, oder Wichtigeres zu tun. Droogs!"
Mit diesen Worten, die er mehr an den Bildschirm, als an den jungen Informator richtete, schlug er mit einem kleinen Gegenstand auf eine Stelle direkt über dem Lautsprecher und stieg dann wieder durch eine Luke nahe am Boden in die Maschine ein. Danen war äußerst verblüfft, aber die Computerstimme begann wieder seine Daten herunterzuleiern und wenige Augenblicke später hatte er seine Identitätskarte zurück, die Stahlsperren öffneten sich und er begab sich in den dahinterliegenden Raum.
Das hohlwangige Gesicht vom Idecobildschirm saß hinter einer Panzersperre und sah weiterhin mißtrauisch auf den Informator.
"Zweck und Dauer des Aufenthalts?"
"Auftrag des Satellitenrates. Dauer ungewiß."
"Wer ist ihre Kontaktperson in Aret?"
"Al Vizrab. Kapitanmajor der RSA von Aret."
Beim Namen des Geheimdienstoffiziers schreckte der Wachmann ein wenig auf, beugte sich vor, und versuchte irgendwelche Abzeichen am Overall des Informators festzustellen.
"Ratssicherheitsabteilung, hm...Vizrab? Besitzen sie einen digitalen Nachweis... oder eine Übermittlung?"
Danen schüttelte den Kopf.
"Ich muß ihre ID noch einmal überprüfen."
Der Ordnungsbeamte tippte einige Codes in seinen Computer, nickte ein paar mal und wollte Danen gerade eine weitere Frage stellen, als ein großer, dunkelhäutiger Mann in einer völlig zerschlissenen Thermojacke in die Kabine trat.
"Willkommen in Aret, Informator. Ich bin Nomis Fisher. RSA. Ich bin hier um sie abzuholen. Mein Major, Al Vizrab..."
Der hohlwangige Polizist sprang auf.
"Was soll das? Bist du übergeschnappt? Das hier ist nicht deine..."
"Halt die Füße still, Zacharia... du hast hier überhaupt nichts zu sagen."
"Ich lass dich isolieren, Fisher! Ich schick dich wieder in den Trakt, wo du hingehörst..."
"Halt deine verdammte Fresse oder ich schlag sie dir ein! Was glaubst du, wer er ist... der Union? Spiel dich nicht so verflucht auf, du lächerlicher Droog."
Der große Mann sah so aus, als würde er das Angedrohte tatsächlich ausführen und der Wachmann setzte sich schlagartig wieder hin. Der Große wandte sich an Danen, der dem aggressiven Zwischenspiel irritiert zugesehen hatte. 
"Kommen sie, Informator. Wir haben es eilig."
Der Immigrationsoffizier hatte ein hochrotes Gesicht, aber es sah nicht so aus als würde er versuchen sie aufzuhalten.
"Erste Meldepflicht in zehn Stunden und Fisher ... das wird dir noch leid tun. Passieren."
Der MSD-Ordnungsbeamte ließ noch eine kurze Kunstpause verstreichen und drückte dann auf einen Knopf, der das Öffnen einer metallenen Sicherheitsschleuse veranlasste. Der große Mann namens Fisher lächelte nur.
"Keine Angst Informator. Ich kenne die meisten der Idioten hier in der Station und die wollen sich alle nur wichtig machen. Lauter luftarme Droogs."
Er schob den verwirrten Informator vor sich her und als sie aus der Kontrollkabine traten stießen sie auf Igid Lad, der vor der Schleuse auf der Stelle schwebte - ein Metron über der Erde.
Sein Gravitationssubtraktor glühte und in seinem sauberen, blauen Overall sah er aus wie einer der Windballons vor der Stadt, die zu Tausenden in der Wüste verankert waren.
Dahalag Fleming, Sonderregulator des Metrosicherungsdienstes, MSD-Code 771 in der Personenordnung Beta, hatte seine Hände wie zum Gebet verschlungen und blickte seinem Gegenüber starr ins Gesicht. Die zwei Männer saßen unter einer der ovalen Sauerstoffkuppeln, die man an den meisten öffentlichen Plätzen hatte aufstellen lassen, um der Smogbelastung entgegenzutreten, denn die Dunstglocke war der eigentliche Herr der Stadt und ohne Atemschutzmaske hielt sich fast niemand in der Welthauptstadt unter freiem Himmel auf.
War der Metropolizist ein mittelgroßer Mann mit unregelmäßigen Gesichtszügen und etwas schrägstehenden Augen, die nie von seinem Gesprächspartner abließen, so war dieser ein stark untersetzter Kaukasier mit unablässig umherschweifendem Blick und kleinen Schweißperlen auf dem glattrasierten Kopf. Sie sprachen schnell und ohne ausladenden Gesten miteinander und vermieden auffällige und plötzliche Bewegungen.
Wenn sie nicht gesehen werden wollten, so hatten sie sich zweifellos den besten Platz in Aret ausgesucht - die Zone vor der Medienstation.
Die Welthauptstadt Aret, eine der ersten zwölf Hauptstädte der Erde, hatte zu diesem Zeitpunkt mehr als vierundneunzig Millionen Einwohner und war in fünf große Gebiete, Trocities, aufgeteilt. Der gesamte südliche Teil der Metropole gehörte einem Konzern namens Icc Terra und obwohl sich diese Trocity fast über die Hälfte der Stadt erstreckte, lebte dort nur ein Zehntel der Bevölkerung. Die übrigen achtzig Millionen Menschen ballten sich auf dem ratseigenen Stadtteil und dem der Medienstation, sowie auf dem privaten Besitz zweier Nahrungsmittelhersteller, die von den gewählten Gilden der Eigentümer kontrolliert wurden. Dieser Gigant einer Stadt wurde von einem Direktorium aus den Mitgliedern des Hohen Rates und den Vertretern des Protektorats regiert, die jeweils einen Kanzler stellten, eigene Industrien, Medien und Geheimdienste unterhielten und sich seit über zwanzig Perioden um die Macht in Aret schlugen wie zwei Kampfsportroboter in der Arena.
Zum Eigentum der Medienstation gehörte nun auch diese Zone, die von der riesigen Station, einem gigantischen Superabitor und einem Industrieblock eingezäunt wurde, aus denen sich pausenlos tausende Menschen auf die offene Fläche ergossen.
"... ich weiß das mit völliger Sicherheit."
Der untersetzte Kaukasier sprach Ruskin.
"...außer Sad Schario und seinem Team arbeitet auch ein Sonderkommando unter Airam 12 an dieser Sache und man sagt, daß sogar der Großprotektor mit dem Kerl reden will."
"Der zweite Kanzler?  Großprotektor Naddaz persönlich will mit dem Mann sprechen? Er will ihn lebend?"
Fleming, der Sonderregulator, sprach mit einem starken japanischen Akzent. Der untersetzte Kaukasier nickte bestimmt.
"Ja, es ist wahr. Ich habe es selbst gehört. Er gab den Beiden bis morgen früh Zeit um den Chemiker zu finden, andernfalls würde er ihnen die Köpfe abschlagen. Das hat er gesagt. Ich verstehe diese Sache sowieso nicht, der Kerl ist doch nur ein kleiner, unwichtiger Drogenlieferant, warum ist alle Welt hinter ihm her?"
"Wer hat in dieser Angelegenheit bei der Ratssicherheitsabteilung das Kommando?"
"Der Prinzipal... Kapitanmajor Vizrab. Der ist sogar Mitglied im Hohen Rat und wie ihr sicher wißt, ein mächtiger Mann. Die Sache ist mir jedenfalls viel zu heiss."
Zur Unterstützung der letzten Bemerkung fielen dem dicken V-Mann ein paar Schweißtropfen auf die Knie. Fleming sah kurz auf.
"Vizrab und die gesamte Sicherheitsabteilung, der oberschlaue Schario und Airam 12, der Liebling des Großprotektors - sie sind alle hinter dem Mann her und doch konnte ihn bis jetzt niemand finden...?"
Der MSD-Regulator betrachtete seine Handrücken, als ob sie ihm den Aufenthaltsort des Chemikers preisgeben könnten. Der untersetzte Zuträger lächelte gezwungen.
"Vielleicht ist er schon tot und liegt jetzt auf der Deponie?"
"Das glaube ich nicht - es wollen ihn ja alle lebend."
"Wollt ihr das auch?"
"Für zwölf C-Chips kann ich das wohl verlangen, oder?"
Der Spitzel nickte und stieg aus der Sauerstoffkuppel, als er abrupt stoppte und sich noch einmal an Fleming wandte.
"Ist es wahr, daß Moud Toida auf der Flucht ist?"
Der Regulator hob erstaunt die rasierten Augenbrauen und lächelte.
"Nein. Moud Toida ist zu groß um wegzulaufen."
Dahalag Fleming, Sonderregulator des allgemeinen Metrosicherungsdienstes MSD und der Polizist mit der höchsten Aufklärungsrate in der Stadt lächelte noch als sein Informant in der Menge untergetaucht war, und während der dicke, schwitzende Spitzel sich nervös umsehend, einer Subterrestation näherte, schlenderte der Regulator langsam und entspannt zurück zu seinem Helikopter.
Airam 12 war eine Protektorin im Rang eines Commander und daher direkt Salem Naddaz, Großprotektor und zweitem Kanzler von Aret unterstellt. Sie war eine junge Frau afrikanischer Prägung und obwohl ihr Gesicht von Operationsnarben entstellt war, die man ihr während der zweiten Morphose beigebracht hatte, war sie die attraktivste Frau im Hauptquartier des Protektorats. Sie besaß einen drahtigen, durchtrainierten Körper und die Gentechniker hatten auch nicht mit großzügigen weiblichen Attributen gespart, aber als Genklon stand sie außerhalb der Personenordnung und die, auf ihre Stirn gebrannte Zahl, markierte ihre Herkunft.
Sie wurde während der letzten Periode der Sexualinquisition im Labor gezeugt, und als eines der letzten Exemplare eines fehlgeschlagenen sozialen Experiments an das Protektorat verschenkt, das aus dem kleinen, elternlosen Mädchen eine harte, gnadenlose Jägerin machte. Einen Elite-Commander.
Und niemand außer dem Großprotektor konnte ihr Befehle erteilen.
Es war deshalb nicht verwunderlich, daß sie auf die Order von Sad Schario, dem zweiten Commander des Protektorats, nie reagierte, denn obwohl sie ohne Platz in der Personenordnung war, wußte man, daß Großprotektor Naddaz seinen weiblichen Kommandanten bevorzugte.
Sad Schario tobte.
"Ich habe dir schon einmal gesagt, daß du dich aus dieser Sache raushalten sollst, aber nun erfahre ich, daß du in IceCity Daten schleifen lässt und dich mit Metros triffst. Lass die Finger von der Sache, oder es wird dir noch so verdammt leid tun!"
Sad Schario war zwei Kopf größer als Airam 12, und wenn er wütend war bebte seine Unterlippe, aber die Protektorin blickte nur regungslos auf seinen Brustkorb und wirkte gänzlich ungerührt. Sie antwortete zischend.
"Ich habe mir schon gedacht das du mich überwachen lässt, Sad, aber ich hoffe deine Leute sind besser als dein Atem, denn während du brav an dem Köder kaust, den Vizrab dir hinwirft, habe ich schon Dinge erfahren, die dich überraschen würden."
"Ja sicher..."
Der bullige Commander winkte verächtlich ab und stieg in einen Elevator.
"... du hast nicht die geringste Ahnung, Labordroog... keine Ahnung. Helikopterplateau."
Noch bevor Airam etwas erwidern konnte, war der grobschlächtige, und als extrem brutal verschriene Fahnder des Protektorats hinter den gräuschlos zuschnappenden Stahltüren des Aufzugs verschwunden. Airam wandte sich wütend an ihre Assistentin.
"Er weiß nichts und er ist nur ein verdammter Killer und seine schlitzäugigen Nigger sind wie die Hunde..."
Sie verzog angewidert das Gesicht.
"... und manchmal fressen sie die Beute."
Das Mädchen starrte ihre Vorgesetzte verwirrt an und folgte ihr dann durch den Korridor zum Hochsicherheitstrakt des Protektorats von Aret. Zum Bunker des Großprotektors.