10
Danen erwachte vom Geruch des Brackwassers. Sein Kopf dröhnte.
Er war auf einen alten, verrosteten Medikalträger geschnallt und seine total durchnässte Kleidung klebte an seinem Körper. Der Medikalträger befand sich inmitten eines hohen, leeren Raumes, der unter Wasser stand und ein außergewöhnlich starker Scheinwerfer über dem Informator war die einzige Beleuchtung. Man konnte nicht erkennen, ob sich jenseits des Lichtkegels noch jemand aufhielt, aber außer dem Geräusch der aufschlagenden Wassertropfen war nichts zu hören.
"Er wird kommen."
Danen erschrak so heftig, daß er unwillkürlich aufzuspringen versuchte, wobei ihm eine Halsschlinge die Luft abschnürte und der Draht seiner Handfesseln tief in sein Fleisch schnitt.
"Wer ist da? Was wollt ihr von mir?"
Blut lief langsam über seine Finger und tropfte auf seine Ultragrip-Stiefel. Er röchelte.
"Ich bin Danen Xiork. Ich bin Informator der Sicherheitsabteilung des Hohen Rates. Ich bin..."
Ein kehliges Lachen ertönte.
"Er wird kommen und mit ihm kommt der Schmerz."
Aus der Dunkelheit vor Danen löste sich eine hünenhafte Figur, größer als jeder Mann, den der junge Informator je gesehen hatte, und kam langsam auf ihn zu. Eine breite, hellrote Narbe zog sich über das steinerne Gesicht des Hünen und seine linke Hand war zu einer grotesken Scheibe mutiert, so groß wie eine Futterplatte. Er musterte Danen mit kalten, grauen Augen.
"Ich bin Seven. Die anderen Sechs sind in mir."
Diesmal klang das Lachen gurgelnd und und so abgrundtief dunkel, daß die Wände der Untergrundhalle verzerrte Bässe reflektierten. Er lachte, ohne die Lippen dabei zu bewegen.
"Wo sind die Datalogger?"
Das steinerne Gesicht schien zu altern. Danens Zunge wurde schwerer als angereichertes Titanium. Er stotterte.
"Ich weiß nicht wo sie sind. Wirklich nicht. Ich suche den Mann, der sie gestohlen hat. Ich habe ihn aber nicht gefunden. Ich weiß nicht wo die Datenspeicher sind, ich wollte nur..."
"Sei still!"
Seven fletschte die Zähne.
"Wenn er kommt, kommt auch das Wissen."
Ohne jede Vorwarnung schlug der Mutant dem Informator mit seiner verformten Hand auf den Kopf. Die Hand war stahlhart. Danen verlor sofort wieder das Bewußtsein.
Als Nomis Fisher und der schwarze Mann, der sich Zen nannte, die Bar verlassen hatten, sich nach Norden wandten und Softtown hinter sich ließen, war es Nacht geworden und die dreckigen Kunststoffgassen erstreckten sich menschenleer bis nach Deet, der stillgelegten Energiezentrale von Aret. Zwischen Deet und dem äußersten Ring der Stadt, einem Minengürtel mit Selbstschußanlagen, Überwachungskameras und Roboterkampftrupps, gab es nur noch das ehemalige Schutzgebiet, das schon in den ersten Perioden nach der Räumung des Ziviledikts von jeglicher Art menschlichen Treibguts besiedelt worden war.
Während der Bevökerungsanteil der Energiezentrale nahe Null Prozent betrug - einzige Ausnahme waren die Bewacher der aufgelassenen Nuklearanlage - so lebten im Schutzgebiet nach Schätzungen des MSD über zehn Millionen Menschen unter den unglaublichsten Bedingungen. Abgesehen davon, daß es keine Ordnungskräfte, keine Lazaretteinrichtungen oder Katastrophenbekämpfungseinheiten in dieser Zone gab, und eine handvoll Bandenführer das Territorium unter sich aufgeteilt hatten, war die Versorgung diese Gebiets mit Wasser und Nahrung ein Geheimnis, daß sogar dem Direktorium größtenteils unbekannt blieb. Außerhalb des Minengürtels gab es nur noch die Wüste – und viertausend Meilen bis zur nächsten Welthauptstadt, New Tokio - und in der Wüste lebten schon seit Generationen die Desserter, die Nichtklassigen, die Wüstenterroristen, die Überlebenden und Geflohenen des Ziviledikts, des letzten großen Bürgerkrieges. Wie und wo war völlig unbekannt. Nicht einmal die Militärsatelliten, die aus dem Weltraum sensorische, thermobile und deflektorische Aufnahmen machten, oder die unbemannten Spionagefahrzeuge, die regelmäßig verschwanden, konnten Aufschluss über die legendären Wüstenkämpfer geben. Es wurde allgemein angenommen, daß es ihnen gelungen sein mußte, durch den, eigentlich unüberwindbaren Minengürtel in das Schutzgebiet einzusickern und dort Handel zu treiben. Wie es ihnen gelungen war Wasser und Lebensmittel in der Wüste herzustellen, und was sie dafür eintauschten, blieb zwar im Dunkeln, aber es war anzunehmen, daß sie im Gegenzug Waffen und anderes technisches Gerät aus dem Schutzgebiet erhielten.
Niemand wusste, wie groß diese Zivilisation der Desserter war.
Nomis Fisher versuchte mit dem Schattenmann Schritt zu halten und taumelte hinter ihm durch die Dunkelheit.
"Nicht so schnell, ich kann nichts sehen."
Der Schattenmann blieb stehen und drehte sich um.
"Wo ist dein Nachtsichtgerät?"
"Ich besitze kein verdammtes Nachtsichtgerät. Es ist immer hell in der Stadt und ich treibe mich normalerweise nicht hier draußen herum."
"Jeder Krieger braucht ein solches Gerät. Eine dunkle Gasse, ein lichtloser Raum, ein schwarzer Kanal. lch werde dir eines geben."
Zen entnahm einer Seitentasche in seinem SpaceNet-Anzug ein paar kleine Teile, baute sie zusammen und übergab dem Leibwächter eine Art optischer Brille, die er an seiner Schutzmaske befestigte.
"Ich brauche es nicht. Aber ich habe immer eines bei mir. Weiter."
Fisher, der den Schattenmann bei dem Wort Krieger
erstaunt angesehen hatte, ließ einen Ausruf des Erstaunens hören und sah sich um. Es war taghell. Das war der beste Restlichtverstärker durch den er je gesehen hatte.
"He, nicht schlecht."
Der Bodyguard beschleunigte seine Schritte, um auf gleiche Höhe mit dem Schattenmann zu kommen.
"Ich habe bis jetzt nichts gesagt, aber wohin gehen wir?"
"Der dicke Mann sagte: Sektor Beta Vier, ein Militärbunker im ersten Abschnitt nach dem alten Helikopterdeck. Leicht zu finden."
"Leicht zu finden? Warst du denn schon einmal im Schutzgebiet?"
"Schon viele Male. Aber du mußt dich schneller bewegen, wir haben nicht viel Zeit."
Das biogenetische Objektiv zoomte irgendetwas näher heran und der schwarze Mann namens Zen wurde langsamer. Jemand kam von vorne auf sie zu.
"Vorsicht."
Der Schattenmann flüsterte, ohne den Blick vom Näherkommenden abzuwenden.
"Beobachte die Gebäude und Wege hinter uns. Bei Bewegung sofort schießen."
"Gleich schießen?"
Fisher drehte sich um und hielt seine Waffe schußbereit.
"Ja!"
Die Gestalt am anderen Ende der Gasse war stehengeblieben und verharrte regungslos. Fisher, der mit dem Rücken zum Geschehen stand, wippte nervös auf und ab.
"Was ist los?"
"Geduld."
Der Schattenmann hob den Arm zum Gruß und plötzlich schallte eine dunkle Frauenstimme durch den Kunststofftunnel.
"Tac leh aimah es gehaja?"
"Koj hamah da jamle!"
Zen schlug Fisher leicht auf die Schulter und setzte dann seinen Weg fort. Der Leibwächter wußte nicht genau, was vor sich ging und versuchte, rückwärts gehend, mit ihm mitzuhalten.
"Was ist? Wer ist das?"
"Sie kommt von dort, wo auch ich herkomme."
Der Schattenmann sah den RSA Bodyguard kurz an.
"Du kannst dich wieder umdrehen. Keine Gefahr..."
Er drückte den Lauf des Nukleargewehres nach unten.
"...aber sprich sie nicht an. Sie könnte beleidigt sein."
Fisher nickte nur erstaunt, fluchte dann leise und beobachtete, wie die Frau schnell näherkam. Die Frau war eigentlich ein junges Mädchen in einem alten Militäroverall, der an den Beinen mit Quorzanfolie beschichtet war und seine einstige Farbe zugunsten eines ausgeblichenen Gelbs verloren hatte. Sie hatte ein kleines, neuartiges Schnellfeuergewehr umgeschnallt und trug ein Headset. Ihre Hautfarbe war weiß, aber sie war so braungebrannt, daß der Unterschied zum Schattenmann geringer war als zu ihm, und sie hatte kurze, schwarze Haare auf dem Kopf - eine Eigenart, die er noch nie an einer Frau gesehen hatte. Als sie den Beiden gegenüber stand, schien sie Zen, den Schattenmann zu erkennen, denn sie neigte ihr Haupt, faltete ihre Hände und murmelte etwas in ihrer unverständlichen Sprache. Zen nickte nur, antwortete ihr kurz und machte eine unzweideutige Geste. Er fuhr sich mit der offenen Hand über die Kehle. Fisher konnte der Unterhaltung nicht folgen, aber er begriff, daß der Schattenmann dem Mädchen einen unmißverständlichen Befehl gegeben hatte, da sie sich noch einmal vor ihm verbeugte, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung lief - zurück durch die Gasse, aus der er und Zen gerade gekommen waren. Das Mädchen hatte ihn nicht einmal angesehen und obwohl sein Gesicht durch die Schutzmaske und das Nachtsichtgerät völlig unkenntlich gemacht wurde, hatte Fisher unwillkürlich gelächelt. Sie war sehr hübsch gewesen.
"Wer ist die Kleine, und was macht sie hier in Deet?... was zum Muzbark... ich weiß ja nicht einmal wer du bist und was du hier tust."
Der Schattenmann sah dem Mädchen nach, bis es um eine Ecke verschwand.
"Sie wird uns helfen und unseren Rücken decken. Ich glaube, daß jemand hinter uns ist."
Fisher sah ihn erstaunt an.
"Hinter uns her? Wer sollte uns gefolgt sein? Ich habe seit einer Stunde niemanden mehr gesehen."
"Ich habe dich gefunden, weil ich das Signal der Alarmanlage aus dem Abitor zurückverfolgt habe. Vielleicht hat das auch ein anderer getan..."
Sie hatten zu laufen begonnen, aber der Schattenmann sprach mit unveränderter Stimme weiter.
"... aber wir haben keine Zeit für ihn, denn wir müssen den Informator befreien."
Er erhöhte die Geschwindikeit.
"Sie wird ihn aufspüren."
Nomis Fisher, durchtrainierter Bodyguard der RSA, blieb schon leicht zurück und alles was er noch verstand war das Wort: töten, als die Detronrohre über seinem Kopf plötzlich endeten und er Sicht auf einen klaren Sternenhimmel hatte.
Vor ihnen erstreckte sich ein unbebauter Platz von mehreren Quadratmeilen, aus dessen Mitte die nukleare Anlage wie ein überdimensionaler Superabitor mindestens achthundert Metron in die Höhe emporragte.
Deet, das ehemalige Energiezentrum von Aret.
Die Anlage, ein mehrstufiger Fusionsreaktor mit Rotationsprinzip, war schon Mitte des zweiundzwanzigsten Centurion gebaut worden und der eigentliche Anlaß des Aufstandes zum Ziviledikt gewesen. Amon der Dritte hatte die Anlage als sein Privateigentum betrachtet und als die kontinentale Energiekrise am Ende des Centurion die gesamte Stadt lahmlegte und die Menschen zu Tausenden starben, während Amon der Dritte, Caesar von Aret, den letzten Rest an elektrischer und plasmatischer Energie, den er nicht für sein Palastviertel benötigte an den Präsidenten von New Tokio verkaufte, kam es zum Aufstand. Ein blutiger Bürgerkrieg, der vier Perioden andauerte und sechs Millionen Opfer forderte war die Folge dieser unvorstellbaren Tat und Amon der Dritte wurde als letzter Caesar von Aret grausam hingerichtet, während seine Anhänger und Gefolgsleute, ja sogar die Beamten seiner Verwaltung vom siegreichen Ziviledikt barbarisch und unbarmherzig verfolgt wurden. Die neuen Machthaber, die schon lange auf eine Möglichkeit gewartet hatten, den Caesar loszuwerden, zogen den Genozid endlos in die Länge und zehn Generationen später bezeichnete das Direktorium die Nachfahren dieser, in die Wüste Vertriebenen immer noch als Terroristen. Das System brauchte Schuldige. Die Anlage hatte nie wieder Energie verkauft. Keine, noch so kleine Einheit.
Der Leibwächter rannte schneller.
Der Platz schien dreimal so lang, wie breit zu sein, denn während er sich einerseits bis an den Horizont zog, konnte der Leibwächter auf der gegenüberliegenden Seite gerade noch ein paar Gebäude erkennen. Zwei, vielleicht drei Meilen entfernt.
Der Schattenmann legte ein unglaubliches Tempo vor und Fisher hatte große Mühe nicht zu weit zurückzufallen, aber es war ihm klar, daß die offene Fläche, die sie überquerten, überhaupt keinen Schutz bot. Helikopter des Metrosicherungsdienstes konnten sie aufspüren - Deet war strengstes Sperrgebiet - und gesetzteskonform liquidieren, aber auch der Verfolger hatte sie auf einer beleuchteten Präsentationsplatte. Und daß es diesen Verfolger gab, davon war Fisher überzeugt. Zen hatte es gesagt.
Unerwartet, sie hatten gerade ein Drittel des Weges zurückgelegt, zog Zen mitten im Lauf seine Waffe und deutete auf eine weit entfernte Stelle links von ihm, in unmittelbarer Nähe des Reaktors.
Fisher brauchte einige Sekunden, um die zwei kleinen Punkte identifizieren zu können.
Fahrzeuge. Er rannte schneller.
Nach wenigen Metron wurde klar, daß sie es nicht bis zur anderen Seite schaffen würden. Der Schattenmann hielt an, kniete nieder und zog eine zweite Waffe. Fisher ließ sich neben ihn auf den Graphit fallen.
"Verdammt. Ich kann nicht mehr..."
Er legte sein Nukleargewehr an.
"...laß sie kommen. Wen auch immer."
Dann sah der Ratsagent den Schattenmann zum ersten Mal lächeln.
"Schutzgebietbanditen. Aber keine Angst, mit diesen Körnern werden wir fertig. Gaj Hadj."
"Ich hab' keine Angst, verdammt."
Die Fahrzeuge, zwei alte Raupenpanzer mit Biozellenantrieb kamen im großen Bogen auf sie zu. Sie teilten sich erst knappe fünfhundert Metron vor Erreichen ihrer Position, aber noch bevor die Motoren auf Angriffsgeschwindigkeit beschleunigen konnten, begann der Schattenmann zu schießen.