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Das Summen klang wie die Startsequenz eines Satellitentransporters. Danen hielt die Augen weiterhin geschlossen. Ein Shuttlestart. Ein beruhigendes Geräusch. Jemand vom Transporterpersonal würde ihm jede Sekunde eine Erfrischung anbieten, ihm danach Videonachrichten seiner Familie aushändigen und ihn mit den neuesten Gerüchten aus der Kolonie versorgen. Er würde frische Kleidung tragen, wäre modegerecht enthaart und völlig hygienisiert. Er wäre bald zuhause.
Das Summen wurde leiser. Und der Schmerz kehrte zurück. Schnell und unerbittlich. Er schrie laut auf. Der Schmerz wurde unerträglich. Danen riss die Augen weit auf, aber trotzdem blieb es dunkel. Schwarz. Nacht. Er zerrte unter überwältigendem Entsetzen an seinen Fesseln und warf sich auf dem Medikalträger verzweifelt hin und her. Sie hatten ihm die Augen ausgestochen. Geblendet. Verstümmelt. Er war blind. Danen Xiork, bester Absolvent seiner Schulungsperiode und jüngster Sohn eines Satellitenalphas sackte wimmernd in sich zusammen. Er war von mörderischen menschlichen Bestien zu einem Deformiertieren gemacht worden, zu einem biologisch Mißgebildeten, zu einem Droog. Er weinte, er rief nach seiner Mutter, er flehte in die Dunkelheit um Hilfe. Keine Antwort. Keine Hilfe. Keine Hoffnung. Schließlich ergab er sich den Schmerzen, ließ den Kopf auf die Brust sacken und bettelte in völliger Agonie um einen schnellen Tod.
Doch Ewigkeiten vergingen. Und nichts geschah.
Die implantierten Dak-Gläser hatten alle Farbe zugunsten eines milchigen Grauschleiers verloren, dicke Blutkrusten zierten seine Glatze und der blutbesudelte Anzug klebte ihm am Körper.
Irgendwie schaffte es Danen in dieser Zeit bei Bewußtsein zu bleiben und als das summende Geräusch unvermittelt wieder lauter wurde, pumpte ihm einer der wohlwollenden Götter der Tausend Galaxien neuen Überlebenswillen in den Körper. Er war nicht erblindet. Nicht ganz. Sein linkes Auge war unversehrt, völlig zugeschwollen, aber intakt. Denn mit dem Summen kehrte auch das Licht zurück, etwas Licht nur, aber nun konnte der junge Informator seine Umgebung durch einen dunklen Schleier wahrnehmen.
Jemand betrat den Raum in dem der Informator an den Medikalträger gefesselt war. Einer von Toidas Killern. Einer der drei, die er zurückgelassen hatte. Der Jakuza blieb in der Tür stehen. Das Summen rührte von einem tragbaren Interfunksender und der Mann stellte den Sender am Eingang ab, bevor er sich direkt vor dem Informator aufbaute. Die bewegliche Lichtquelle befand sich in Kopfhöhe des Schutzgebietbanditen, denn er hatte einen Spotstrahler an seinem Helm befestigt. Er stieß Danen mit dem Lauf seines Takate-Gewehres hart in die Seite.
"Wenn du mir hier abkratzt, schneid' ich dir das andere auch noch raus, du Satellitenfotze."
Er zog einen Laserschneider aus der Tasche und schnitt Danens Fesseln durch.
"Beweg' dich, du Mondfresse, wir ziehen um."
Danen wollte aufstehen, doch seine Gliedmaßen waren schwer und taub und gehorchten ihm nicht mehr. Er konnte sich nicht bewegen. Der Jakuza riss den Informator brutal hoch.
"Ich hab' gesagt, wir gehen. Los, du Fleisch!"
Einen Augenblick lang konnte sich Danen auf den Beinen halten, doch dann ließen ihn seine steifen Muskeln im Stich, er verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach in den übelriechenden Schlamm, der den Boden des Raumes bedeckte.
"Wenn du glaubst, ich trag' dich hier raus, dann hast du Hundescheiße im Kopf, du Wurm... verdammter Muzbark, du bist doch nichts wert. Ich werd' dich eigenhändig häuten."
Er schnappte den Informator am Träger seiner Thermojacke und schleifte ihn hinter sich her aus dem Raum.
Nomis Fisher hob den Kopf und spähte vorsichtig über den Rand der Bunkerfestung. Vor ihm lag ein, von Geröll übersätes und mit tiefen Gräben überzogenes Gelände, ein paar zerstörte einstöckige Bauten, und in einiger Entfernung der versteckte Eingang zu der längst aufgegebenen unterirdischen Verteidigungsanlage.
"Wo? Ich sehe nichts. Ich kann keinen sehen."
Zen berührte ihn leicht am Arm und deutete auf ein ausgebombtes Gebäude zu seiner linken, keine hundert Metron entfernt.
"Es sind zwei. Einer neben dem Eingang und ein anderer oben auf dem Dach. Außerdem liegt in dem Graben genau vor uns ein Verwundeter vom Deck. Da ist Blut. Es gibt da unten sicher noch mehr. Sie sind gut verteilt und sie wehren sich entschlossen. Wahrscheinlich werden sie vom Deformierten angeführt."
Fisher drehte sich zu ihm um.
"Vom Deformierten? Wer, zum Muzbark, ist der Deformierte?"
Der Schattenmann entsicherte mit grimmiger Miene den Granatwerfer seiner Hochleistungswaffe und ließ ein Nukleargeschoß einrasten.
"Sein Name ist Seven. Er war einmal einer von uns, ist mit mir zusammen am selben Ort aufgewachsen, hat mit mir die alte Wüstenstrasse bewacht und war mir wie ein Bruder..."
Zen nahm das Gewehr hoch, legte an und zielte.
"... doch dann wurde er von dem Mädchen, das er liebte abgewiesen und er tötete sie. Nach dem Gesetz der Wüste musste er dafür gerichtet werden, also flüchtete er, kam hierher und wurde Toidas erster Mann für Mord und Folter. Er ist unbesiegbar."
"Unbesiegbar?! Was? Wie meinst du..."
Zen drückte den Abzug durch, die Granate zischte über das vor ihnen liegende Grabenfeld und schlug dicht neben dem Eingang des zerbombten Gebäudes ein. Schrille Schmerzensschreie und Gewehrfeuer aus unzähligen Richtungen beantworteten die Explosion und hinderten den entgeisterten Sicherheitsagenten daran eine befriedigende Antwort auf seine Frage zu verlangen.
Als Fisher und Zen, der Schattenmann, kurz zuvor das alte Helikopterdeck erreicht hatten, wurden sie schon von weitem von einem Großaufgebot blutgieriger Jakuza unter Beschuß genommen. Der RSA-Personenschützer brachte sich hinter einem heruntergekommenen Helipack in Sicherheit und erwiderte das Feuer so gut er konnte in der niederschmetternden Erwartung, daß der schwarze Krieger jeden Augenblick aufspringen und losstürmen würde. Dieser lunatische Muzbark. Aber Zen änderte die Taktik, befahl Fisher auf alles zu schießen, was sich aus südlicher Richtung dem Helipack nähern sollte und tauchte dann zwischen den verwüsteten und mit Grünpflanzen überwucherten ehemaligen Teibstoffdepots unter.
Eine wahre Treibjagd begann.
Der Schattenmann schlich lautlos über das gigantische Deck, stöberte die Banditen einzeln auf und hetzte sie vor sich her. Und in regelmäßigen Abständen von wenigen Minuten liefen panisch um sich feuernde Mitglieder von Moud Toidas Bande über das verwucherte Startdeck direkt auf Fishers Stellung zu. Es war wie eine Koordinationsübung am Schießstand der Sicherheitsabteilung. Ein reines Zielschießen. Nach einem Dutzend Toter vor dem Helipack korrigierten die Banditen ihre Methode zur Verteidigung des Helikopterdecks, rotteten sich in kleinen Gruppen zusammen und versuchten Zen zwischen den Depots in die Zange zu nehmen.
Ein erbarmungsloser Nahkampf entbrannte. Combatorenfixer, Laserschlingen, Hologramexploder und immer wieder der trockene Mündungsknall der Castolluxpistolen. Nach kurzer Zeit und einer großen Anzahl weiterer Opfer unter den Delinquenten zogen sich die wenigen Überlebenden von Mouds Bande fluchtartig in die Bunkerfestung zurück und Zen robbte unter den schützenden Aufbau eines aufgerissenen Treibstofftanks. Ein Detonationsprojektil hatte den Schattenmann am Oberschenkel verletzt, aber die Fleischwunde schien den schwarzen Krieger nicht besonders zu irritieren, denn als der RSA-Bodyguard zu ihm aufschloß, um die Depots abzusichern, hatte sich der kampferprobte Desserter einen provisorischen Verband angelegt und war damit beschäftigt das Granatenmagazin eines aufgenommenen Hochleistungsgewehres aufzufüllen. Die Feuerpause währte nur kurz, denn während die Schutzgebietbanditen wieder versuchten sich neu zu formieren, drängten sie der Schattenmann und sein neuer Partner unbarmherzig Schritt für Schritt immer weiter zurück, bis sie den Rand der Bunkeranlage erreicht hatten.
Das Feuer wurde eingestellt. Zen wandte sich grinsend an Fisher.
"Seven? Er ist unbesiegbar. Man kann ihn nicht besiegen, nur töten."
"Man kann ihn nur töten? Was soll das denn heissen?"
"Wenn wir in diesen Bunker wollen, und wenn wir den Informator befreien wollen... dann müssen wir an Seven vorbei und Seven gibt nicht auf, deshalb müssen wir ihn auf jeden Fall töten."
Der Schattenmann ließ eine weitere Granate einrasten.
"Jetzt kommt es darauf an, Operator. Der Weg zu diesem Bunkereingang wird hart, sehr hart. Bereit?"
Nomis Fisher schüttelte entschieden den Kopf, doch Zen sprang auf und stürmte unter markerschütterndem Kampfgeschrei los.
Al Vizrab, der Kapitanmajor der Ratssicherheitsabteilung, starrte entgeistert auf den wundgeprügelten und wimmernden Körper zu seinen Füßen, dann blickte er auf und sah Kolsher, seinen ersten Sekundanten, fassungslos an. Der untersetzte Fahndungs-Operator stand mit einer Laserkeule in der Hand über dem geschundenen Mann und wischte angeekelt das Blut von seinem schmerzverstärkenden Schlagstock. Kolsher deutete auf den Gefolterten.
"Sire, ich glaube, er sagt die Wahrheit. Wenn ich ihn noch weiter bearbeite, dann könnte er extinktieren."
Al Vizrab schien förmlich zu explodieren.
"Die Wahrheit?! Er sagt die Wahrheit?! Das kann nicht die Wahrheit sein, Kolsher! Dieser Mann ist Tibar Weller und ich weiß... ich weiß, daß er die Datalogger hat! Ich weiß es! Er muß sie haben!"
Er griff sich die Laserkeule.
"Die Wahrheit?! Wenn das wahr ist... wenn das wahr ist, dann sind wir alle schon tot! Wenn dieser Submensch die Wahrheit sagt und er hat die Datenlogger nicht... dann... dann wird keiner von uns diesen Tag überleben!"
Der Kapitanmajor der RSA holte aus und schlug mehrmals auf den am Boden Liegenden ein. Ein gequältes Stöhnen war die Antwort. Vizrab holte wieder aus und immer wieder, die blutleeren Lippen fest aufeinander gepresst und die Sicht stumpf ins Leere gerichtet. Er steigerte sich allmählich in einen bestialischen Blutrausch und unter den betretenen Blicken der Umstehenden knüppelte er das Opfer mechanisch zu Tode. Als die blutige Gestalt am Boden in den letzten Zuckungen lag, warf Al Vizrab den Schlagstock mit einem wütenden Aufschrei in eine Ecke des Hygieneraums, der ihm als Folterkammer diente und trat wie ein jähzorniges Kind unbeherrscht gegen das Inventar. Schwere Stiefel kamen hastig näher. Vizrab sah auf. Ein Angehöriger seiner Leibwache steckte den Kopf zur Tür herein.
"Sire, mehrere Hundertschaften Jakuza bewegen sich auf unseren Abitor zu. Sektor Eins und Drei sind schon dicht, da gibt es kein Durchkommen mehr. Was sollen wir tun?"
Der sichtlich erschütterte Befehlshaber der elitären Ratssicherheitsabteilung ballte die Fäuste und jeder, der im Raum Versammelten konnte sehen, daß ihm Tränen über das Gesicht liefen. Operator Kolsher entsicherte seine Waffe.
"Kapitanmajor, Sire. Ihre Befehle. Wir warten auf ihre Befehle."
Al Vizrab, mächtigster Geheimdienstoffizier des Hohen Rates und vermeintlicher Messias der neuen Periode ließ sich kraftlos auf den Boden sinken und deutete seinen Männern den Raum zu verlassen.