20
Nomis Fisher kletterte durch eine Felsspalte, setzte über einen schmalen Grat und blieb wie angewurzelt auf einer überhängenden Felsklippe stehen. Er strauchelte und wäre fast über den Rand der Klippe in den Abgrund gestolpert, aber der schockierende Anblick hatte den abgebrühten RSA-Operator vollkommen überrascht. Die schmale, karstige Schlucht unter ihm war übersät mit Leichen. Hunderte Tote. Zerfetzte, verstümmelte und bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper lagen in kleinen Gruppen verteilt entlang eines ausgetretenen Pfades. Fisher wandte sich entgeistert an Nyleva, die kurz nach ihm den Felsvorsprung betrat.
"Bei den Göttern... was zum Muzbark ist das?"
Nyleva starrte ungläubig auf das Schlachtfeld zu ihren Füßen, riß ihren veralteten Fernspäher aus dem umhängenden Futteral und sah sich hektisch die umliegenden Anhöhen und Felsformationen an.
"Madjac daj sam! Hier hat ein Kampf stattgefunden."
Fisher warf ihr einen spöttischen Blick zu.
"Wirklich? Und ich dachte, die da unten ruhen sich nur ein bißchen in der prallen Sonne aus."
Sie erwiderte nichts, aber an den angespannten Backenmuskeln konnte er den gezügelten Zorn erkennen und er wich einen Schritt zurück. Danen trat auf den Felsvorsprung und blickte sich erschreckt um. Der junge Informator trug eine behelfsmäßig angefertigte Augenbinde über seinem biogenetischen Ersatzauge. Er stieß Fisher an und zeigte auf eine uniformierte Leiche direkt am Fuß der Klippe.
"Das sind alles Protektoren. Mindestens fünfhundert ermordete Protektoren. Was... wieso? Was ist hier geschehen?"
Der Bodyguard kratzte sich an der Stirn und schüttelte zweifelnd den Kopf.
"Das kann er nicht alleine geschafft haben. Das war er nicht."
"Wer war was nicht?"
"Zen. Das war er nicht. So viele... das schafft nicht einmal er."
Danen sah den bulligen Operator erstaunt an.
"Ihr dachtet wirklich, ein einziger Mann könnte so etwas tun?"
Fisher nickte.
"Aber das hier war er nicht. Das war ein klug ausgewählter Hinterhalt einer größeren Truppe. Die waren sicher hier oben positioniert und da drüben bei den bewachsenen Felsen... und sie haben schwere Waffen."
"Wer sollte...?"
"Ich weiß es nicht... aber ich frage mich auch, was diese kleine Protektorenarmee überhaupt hier draussen zu suchen hatte?"
Danen riss die störende Augenbinde mit einem energischen Ruck herunter, warf sie zu Boden und drehte sich zu Nyleva um.
"Hast du eine Ahnung, was hier los war?"
Nyleva antwortete ihm nicht, aber nachdem sie den Fernspäher abgenommen hatte, deutete sie auf schwache, kaum zu erkennende Rauchwolken über einer kargen, baumlosen Hügelkette am Horizont.
"Hinter diesen Hügeln liegt das Kastell Djag-Sanbar. Es ist das Tor zur Stadt in der Wüste. Jemand greift es an. Wir müssen uns beeilen. Dejamle bar jedala!"
Sie stopfte den Fernspäher wieder in das Futteral, drückte ihr kleines Gewehr an die Brust, sah kurz auf und nahm Anlauf.
Nyleva rannte unvermutet schnell. Sie sprang furchtlos von Felsklippe zu Felsklippe, manchmal über zwei oder drei Metron breite Gräben, ohne auf Danen und Fisher zu warten oder sonst Notiz von ihnen zu nehmen. Erst als sie bei einer weithin sichtbaren Gruppe flechtenbewachsener Felsen angekommen war, hielt sie abrupt an und bückte sich nach einem Gegenstand zu ihren Füßen.
Danen stieß als erster zu ihr. Nyleva stand breitbeinig über der Leiche einer jungen Frau und untersuchte den Inhalt ihrer Taschen. Danen erkannte die Tote. Es war das Mädchen mit den leblosen Augen aus Toidas Bunker. Das Jakuza-Mädchen. Das Mädchen, das ihm die Nase gebrochen hatte.
"Das war Moud Toida! Dieser menschliche Albtraum war das. Ich erkenne sie wieder. Sie war in dem Bunker... in dem..."
Danens Stimme erstarb und er taumelte gegen den Felsblock. Alles drehte sich. Bevor er jedoch fiel, packte ihn ein starker Arm und drückte ihn sanft auf den steinigen Boden.
"Ihr müsst euch setzen."
Nomis Fisher hatte die Stelle ebenfalls erreicht und zwang den Informator vorsichtig auf eine erhöhte Steinplatte.
"Sie ist eine Jakuza? Eine von Toidas privater Wache?"
Danen atmete mehrmals tief durch und nickte zustimmend. Nyleva hockte sich neben ihn. Sie hielt eine blutverschmierte Kette in ihrer Hand. Danen sah auf.
"Ich hab sie in diesem Bunker gesehen. Ich kann mich an sie erinnern. In ihren Augen war kein Leben. Tote Augen."
Fisher und Nyleva warfen sich einen verstehenden Blick zu. Die Kreuzerin vom Stamm der Veme hielt Fisher die Kette hin.
"Sie wurde von einem Geschoß in den Unterleib getroffen. Ein Laserprojektil. Protektorenmunition."
Der Operator nickte.
"Moud Toida und Airam 12. Das hier war ihre private Schlacht."
Er sah sich um. Ausser den Felsen war nichts zu sehen.
"Der verfluchte Big Black lockt eine stattliche Streitmacht von Protektoren in die Wüste und in einen Hinterhalt, wo er sie mit seinen Jakuza bis auf den letzten Mann niedermacht. Hunderte von ihnen. Er muß alle Schutzgebietbanditen aus dem nördlichen Territorium zusammengezogen haben... und jetzt greift er die Wüstenstadt an."
Fisher schüttelte fassungslos den Kopf.
"Er muß verrückt geworden sein. Salem Naddaz wird ihm die Centauri-Brigade auf den Hals hetzten... und eine Armee von Söldnern aus den verdammten Eiskolonien. Und dann sind da noch Zen und seine Desserter. Das ist sein Ende. Moud ist wahnsinnig."
Nyleva nahm ihm die Kette des toten Jakuza-Mädchens wieder aus der Hand.
"Er will das Divine."
"Das wird ihn dann auch nicht wieder lebendig machen."
Sie gab einen verächtlichen Laut von sich.
"Gadaj duc... das wird es."
Bevor der verwirrte Operator allerdings eine Erklärung für diese kryptische Aussage von ihr verlangen konnte, sprang Danen wie von einem Stellarblitz getroffen auf und legte sein Gewehr an. Am anderen Ende der Schlucht bewegte sich eine geduckte Gestalt außerordentlich schnell zwischen den Steinblöcken über den Felsschutt. Danen feuerte. Die Gestalt verschwand.
"Tac leh gehaja!"
Nyleva drückte den Lauf von Danens Waffe nach unten.
"Das ist Zen, Informator. Er wird uns sagen, was hier geschehen ist."
Die Gestalt, die inzwischen unbemerkt nähergekommen war, richtete sich hinter einem Felsblock in unmittelbarer Nähe Danens auf, grinste den Informator an und streckte seine rechte Hand aus, die Handfläche nach aussen.
"Ihr seid kein schlechter Schütze, Danen Xiork. Nicht so gut wie der Operator, aber besser als ich dachte. Das war nahe dran."
Danen starrte den Desserter sprachlos an. Zen war ein muskulöser Hüne in einem hautengen Spacenet-Anzug, schwarz wie die Nacht der Poliaris und mit einem identischen biogenetischen Objektiv anstelle seines linken Auges. Unbewußt tastete der Satelliteninformator nach seinem eigenen Ersatzauge. Zen grinste wieder. Schwarze Zähne aus gehärtetem Kunststoff.
"Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, will man kein anderes Auge mehr. Es verbessert unsere Fähigkeiten als Krieger. Es macht uns stärker."
Er verneigte sich vor Danen.
"Ich bin Zen vom Stamm der Veme. Ich wurde geschickt, um euch zu suchen und an einen sicheren Ort zu bringen, wo man euch zu gegebener Zeit alles erklären wird. Wir müssen nach Djag-Sanbar."
Danen starrte ihn immer noch verwundert an.
"Wer hat dich geschickt?"
"Lord Namesin im Auftrag des Union."
"Lord... was? In wessen...?"
"Der Union."
"Der Union? Wer... wer ist das?"
"Der wahre Lord der neun Stämme."
"Der wahre Lord?"
"Der wahre Führer aller unserer Stämme. Habt Geduld, ihr werdet alles im Kastell erfahren, aber jetzt müsst ihr mir vertrauen und tun, was ich euch sage."
"Aber, was... ?"
"Vertraut mir, Danen Xiork. Ich werde euch führen."
Der schwarze Desserter neigte nun auch vor Nyleva kurz das Haupt und schlug danach Fisher erfreut auf die Schulter.
"Nomis Fisher. Der furchtlose Operator. Es freut mich, daß du mein Angebot zum freien Abzug nicht angenommen hast. Ein Krieger wie du, zählt für drei Schutzgebietbanditen... nein, für vier."
Der Bodyguard des Informators sah ihn zweifelnd an und schüttelte dann geschmeichelt den Kopf. Er deutete auf das Schlachtfeld in der Schlucht unter ihnen.
"Ich dachte schon, du wärst das gewesen. Was war los?"
Zen hockte sich hin und deutete den anderen seinem Beispiel zu folgen. Dann begann er die verschiedenen Stellungen und Truppenbewegungen mit kleinen Steinen zu veranschaulichen.
"Das war der Bandit, den ihr Moud nennt. Die Protektoren haben ihn schon in Deet angegriffen, mit Helikoptern und Fahrzeugen, und ihn und seine Männer durch den Minengürtel getrieben, aber dann wurden sie unvorsichtig und hochmütig. Als er sie hier endlich in der Falle hatte kannte er keine Gnade. Die Fahrzeuge sind weiter westlich in den Minen liegen geblieben und zwei der Helikopter sind schon beim Zugang zur alten Wüstenstrasse abgestürzt... aber ein paar Überlebende haben sich durch die Schlucht gekämpft und sind zu den Hügeln dort geflüchtet."
Danen sah auf.
"Es gibt welche, die entkommen konnten?"
"Nur ein paar. Die meisten sind kampfunfähig. Sogar ihr Commander ist darunter. Eine Frau. Einer meiner Läufer beobachtet sie und folgt ihnen."
Nyleva stand wieder auf und drehte sich zu den Hügeln um.
"Und Djag-Sanbar?"
"Seit einer Stunde greift der Bandit vergeblich das südliche Tor an... aber das eigentliche Unglück hat eben erst stattgefunden..."
Zen sah Nyleva direkt in die Augen.
"... Su-Razaal hat den Tunnel gesprengt. Dein Vater wollte es so."
Nyleva die Kreuzerin, die jüngste Tochter des Namesin, des Lords der Veme, des Beschützers der Wüstenstadt, verzog keine Miene und zuckte mit keiner Wimper. Sie ließ nur das kleine Gewehr klirrend auf den Felsboden fallen.
Der Diener war verletzt. Er hockte neben dem versiegelten Ausgang einer Subterrestation im Untergeschoß eines zerstörten Abitors und wartete. Der zweite Metropolizist hatte ihn überrascht. Reaktionsschnell. Slackmunition. Zwei der Slacks hatten ihn an der Schulter erwischt. Die winzigen Suchkopfprojektile besaßen zwar keine besondere Durchschlagskraft, aber sie waren mit einem gerinnungshemmenden Pharmakon überzogen und die kleinen Wunden, die sie erzeugten, bluteten extrem stark.
Der Diener zog einen handlichen Injektor aus dem Medikit an seinem Schultergurt und injizierte sich zum wiederholten Mal ein Gegenmittel. Ihm war speiübel und er hatte starke Schmerzen von den pharmakonverseuchten Wunden, aber er war außergewöhnlich hart im Nehmen.
Er war immer schon der Härteste gewesen. Schon während der Ausbildung an der Akademie und während der Initiation. Selbst die Ausbildner wurden in der Zeit der Initiationsriten vorsichtiger, wenn er in der Nähe war und nach dem finalen Test waren alle Operatoren seines Jahrgangs überzeugt, daß er ein lunatischer Psychopath sein musste. Und es entsprach auch durchaus der Wahrheit. Sein Testgegner starb noch am Übungsgelände der Akademie. Er war sozusagen an seiner eigenen Stahlrute erstickt. 
Plötzlich hörte der Diener Stiefelschritte am anderen Ende der verlassenen Subterrestation. Er duckte sich.
"Wo bist du?"
Der Diener erhob sich. Er hielt eine entsicherte Takate-Pistole hinter seinem Rücken versteckt.
"Ich bin hier. Wer ist das?"
Zwei Gestalten taumelten auf ihn zu. Einer der beiden schien ebenfalls schwer verletzt zu sein. Der andere war Swama.
Der Geheimdienstleiter des Großprotektors stützte mit einem Arm den Verletzten, während er mit dem freien Arm eine Laserwaffe auf den Diener richtete.
"Hast du es dabei?"
Der Diener deutete auf einen tragbaren Behälter zu seinen Füßen. Swama ließ die Waffe sinken.
"Wir sind im Geschäft... oder?"
"Wir sind im Geschäft."
Der Schwerverletzte in dem grellorangen Overall mit den übergroßen Protektorenabzeichen stöhnte laut auf und Swama ließ ihn unsanft zu Boden fallen.
"Ich habe ihn mitgebracht, weil ich glaube, daß er der Richtige für die Aufgabe ist."
"Der ist halbtot."
"Genau deshalb. Er wird es gar nicht merken, wenn wir ihn präparieren."