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Su-Razaal, der Kampfkommandant des Kastells Djag-Sanbar war ein ungewöhnlich beleibter Desserter, aber erst die wallende schwarze Haarmähne gaben dem Mann das furchterregende Aussehen, das Tai-Lo bei seinem Anblick einen Schritt zurückweichen ließ.
Der Oberst der Garde fasste sich aber augenblicklich wieder, gab seinem Sekundanten ein Zeichen und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Niemand sprach ein Wort.
Tai-Lo, sein Sekundant und eine sechsköpfige Sondereinheit in Paradeuniformen befanden sich in Gegenwart eines halben Dutzends martialischer Desserter in einer monumentalen Höhle. Die beleuchtete Höhle war größer als eine Nekromaten-Kathedrale, unglaublich hoch und voll gestopft mit Kriegsgerät und Verpflegung. Der sandige Boden war mit einem groben Gitter aus perforierten Kunststoff ausgelegt, kleine Kameras surrten an einer Metallschiene die Decke der Felsgrotte entlang und an den Wänden hatte man endlose Zeichen und Zahlen eingeritzt, die aussahen wie die überdimensionale Matrize eines gigantischen Computerprogramms.
Bis zum Eintreten des haarigen Kampfkommandanten hatten sich alle wortlos angestarrt und still und feindselig belauert, doch nun trat Tai-Los Sekundant ein paar Schritte vor, zog eine Holoptik aus seiner Manteltasche und öffnete sie.
Die Holoptik zeigte das Zeichen des Kanzlers.
Su-Razaal sah den Sekundanten auffordernd an.
"Was wollt ihr? Wie lautet euer Angebot?"
Der Sekundant deutete überbetont auf das Zeichen.
"Dies ist die gültige Insignie des erhabenen Saul Ekra, erster Kanzler des souveränen Direktoriums und wahres Oberhaupt der Welthauptstadt Aret. Der Kanzler fordert euch auf unverzüglich die Person des Icc Technikers Tibar Weller, sowie zwei ihm gehörige Datenspeicher an uns auszuliefern, sämtliche Kampfhandlungen einzustellen und euch zur Identitätskontrolle zur Verfügung zu halten... weiters erwartet der Kanzler eine detailierte Aufstellung aller Personen und Daten, die diese hochverräterische Aktion ermöglicht haben und die Übergabe sämtlicher Wertgegenstände und Waffen. Diese Forderungen sind nicht verhandelbar."
Su-Razaal nickte und kratzte sich am Kinn.
"Und wenn nicht?"
Der Sekundant glotzte ihn fassungslos an.
"Was sagt ihr?"
"Wenn nicht? Was passiert, wenn wir diesen Forderungen nicht nachkommen? Ich meine, irgendwas müsst ihr euch doch ausgedacht haben... was richtig Furchterregendes. Ihr müsst uns schon ein bißchen Angst einjagen, sonst wird das nichts."
Die anwesenden Desserter lachten und schlugen ihre Gewehre aneinander. Der Sekundant erstarrte.
"Wir sind die Garde des Kanzlers."
"Das weiß ich."
Der sprachlose Sekundant drehte sich konsterniert zu Tai-Lo um, doch die Miene des Chinesen hatte sich versteinert.
Su-Razaal hob entschuldigend die Arme.
"Ihr solltet wissen, daß wir zumindest die Poliaris erwartet haben... also, was könnt ihr uns anbieten?"
Tai-Lo trat mit dem Stiefel auf und sah dem beleibten Wüstenkrieger lange in die Augen.
"Wir werden euch alle hinrichten. Männer, Frauen, Alte und Kinder... so, wie wir es gerade eben mit den Jakuza gemacht haben. Der Kanzler kennt keine Gnade, wenn ihr ihm nicht gebt, was er von euch verlangt."
Tonlose Stille trat ein. Su-Razaal antwortete erst nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte.
"Ich kann das nicht entscheiden... und der Mann, der das entscheiden kann, wird frühestens in einer Stunde hier sein... und er spricht nur mit Saul Ekra selbst."
"Niemals."
"Nur unter vier Augen."
Der Desserter trat nun ebenfalls energisch mit dem Stiefel auf.
"Sollen die Waffen weiter schweigen, oder wollt ihr kämpfen?"
Tai-Lo gab seinem Sekundanten unvermittelt ein weiteres Zeichen und drehte sich auf dem Absatz um. Im Weggehen antwortete er Su-Razaal nachlässig über die Schulter.
"Wir warten auf den, der euch befehligt."
Su-Razaal antwortete ebenso gleichgültig.
"Dann wartet ihr auf den, der euch besiegt."
Tai-Lo und sein Begleitschutz durchschritten schon die Sotric-Sperre am Eingang der Höhle, als sie hinter sich noch einen lauten Ruf hörten.
"Und sagt dem Kanzler, es ist der Union, der ihn erwartet!"
Der muskelbepackte Riese war ein Albino mit knallroten Augen und Haaren im Gesicht. Ein genetischer Fehlkörper aus den spärlich besiedelten Nordkontinenten, die seit der Klimakatastrophe nahezu unbewohnbar und zum Großteil mit Eis überzogen waren. Ein Droog. Eine echte Mißgeburt. Er trug einen bodenlangen SpaceNet-Mantel, Haftstiefel und ein überschweres Granatengewehr.
Und er wich Sutra Nolava nicht von der Seite.
Sutra Nolava Xiork, Oberhaupt des Xiork-Clans, Direktoriumsmitglied des Satelliten, Vorsitzender der Orbit-Bruderschaft und besorgter Vater eines vermissten Informators studierte aufmerksam die Gesten seines Gegenübers. Jede Kleinigkeit. Sutra Nolava war überzeugt, daß die Körpersprache der Menschen eine Unmenge von Informationen preisgab, die es nur richtig zu lesen galt. Außerdem vertraute er dem versteckt eingebauten Lügendetektor in seiner Armschiene.
Der Satellitendirektor war ein unscheinbarer Mann mittlerer Größe mit einer leicht gekrümmten Nase, auffällig hellen Augen und der traditionellen Tonsur der Orbit-Brüder. Seine Kleidung war aus erstklassigem Material, aber genauso unscheinbar wie er selbst und er trug weder Abzeichen, noch Schmuck oder implantierte Dak-Gläser. Er sah aus wie die Personifizierung eines klassischen Alphabewohners des Satelliten. Reich und harmlos.
Die Augen des Albinos machten in der Zwischenzeit seinen Gesprächspartner immer nervöser.
Lord Goi stützte das Kinn auf die Knöchel seiner Hände und verzog die Mundwinkel. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand an seinem eigenen Spielplatz einzuschüchtern versuchte, allerdings war Sutra Nolava Xiork auch nicht irgendjemand und die Augen des Albino-Leibwächters waren so rot wie Blut.
Sie saßen sich im Hochamt des Justizabitors gegenüber, hermetisch abgeschirmt vom geschäftigen Treiben in den Richthallen und Vernehmungsräumen und ohne jeglichem Schutz-Monitoring aus dem Kontrollraum. Vor den Türen wachte eine Sondereinheit des MSD und vierzig Stockwerke unter ihnen bereiteten die Bevollmächtigten des obersten Richters von Aret vorausblickend einen Hochverratsprozess gegen noch unbekannte Delinquenten vor. Die Liste der Verdächtigen und Mitläufer war lang und namhaft, doch die Ordnung musste in jedem Fall wiederhergestellt werden.
Der Generalrichter des Staates hob den Blick.
"Die Clans der Xiork und der Goi sind seit so vielen Perioden befreundet. Ihr müsst mir einfach vertrauen, Nolava. Niemand hier glaubt, daß euer Sohn ernsthaft in diese Sache verwickelt ist, aber wir haben zu viele Indizien, die ihn belasten und wir können nicht zulassen, daß auch nur der Hauch einer Schuldzuweisung an ihm haften bleibt. Ihr müsst mir versprechen, dass ihr auf meinen Mann hört. Er wird wissen, was zu tun ist."
Orange. Der Tatsachengehalt befand sich im mittleren Bereich.
Der greise Generalrichter ließ seinen Druckluftstuhl in seine ursprüngliche Position zurückfahren und drückte einen Knopf an einem versteckt befestigten Interkom.
"Fleming soll reinkommen."
Einen Augenblick später betrat der Sonderregulator Lord Gois privates Hochamt, warf dem Albino einen schnellen, abschätzenden Blick zu und schritt dann selbstsicher durch den Raum auf Sutra Nolava zu. Er streckte dem Satellitendirektor seine Hand hin.
"Ich bin Dahalag Fleming vom Metrosicherungsdienst Aret. Ich bin sicher, daß euer Sohn vollkommen unschuldig ist und ich hoffe, ihr erlaubt mir euch zu begleiten, wenn ihr die Stadt verläßt."
Sutra Nolava warf einen zweiten heimlichen Blick auf die Anzeige an dem Detektor, rückte die Ärmel seines Kaftans zurecht und schüttelte dem Metropolizisten zufrieden die Hand. Blau. Die reine Wahrheit.
"Wie kommt ihr zu der Annahme, daß ich die Stadt verlassen will?"
"Am Helikopterdeck geht das Gerücht um, daß ein lebensmüder Alpha in Begleitung eines Eis-Droogs zwei Icc-Kredite für einen Trip in die Wüste bezahlt."
"Ein Lebensmüder?"
Die schrägstehenden Augen des Regulators verengten sich zu schmalen Schlitzen.
"Ihr wollt euren Sohn finden... und ich einen vermissten Techniker, einen gefährlichen Killer und zwei noch gefährlichere Datalogger. Wir könnten uns gegenseitig helfen."
"Womit könnte ich euch helfen?"
"Ihr kennt den genauen Ort... und mit Sicherheit auch das magische Wort, das uns Einlaß gewährt."
"Und was genau wäre euer Beitrag, Regulator?"
Dahalag Fleming, MSD Sonderregulator 771, entspannte sich.
"Ich bin der beste Helikopterpilot in diesem Abitor."
Moud Toida taumelte durch die Dornenbüsche, fiel der Länge nach hin und blieb regungslos liegen. Er war am Ende. Seine Haut war vollständig ausgetrocknet und rissig, seine Gliedmaßen verbrannt und aufgequollen und seine Zunge so dick und geschwollen, daß er glaubte jede Sekunde daran ersticken zu müssen. Die Wüste hatte ihn beinahe erledigt. Die Wüste und sein maßloser Ehrgeiz.
Von der kleinen Truppe, mit der ihm die Flucht aus Djag-Sanbar gelungen war, hatte keiner überlebt. Die Hitze, der Sand, die vergrabenen Minen und die ferngesteuerten Drohnen hatten ganze Arbeit geleistet. Er war als einziger durchgekommen und hatte die Hügel erreicht, aber wenn er nicht bald zu trinken bekam, würde auch er sterben. Verdursten. In dieser Einöde verfaulen.
Das Divine hatte ihn vergiftet. Seinen Ehrgeiz angestachelt, seine unbezähmbaren Wünsche und Fanatsien heraufbeschworen und seinen Machthunger angestachelt. Er wollte Caesar sein in Aret. Caesar.
Diese Niederlage war die Antwort, diese Wüste der Preis.
Doch der Seelensammler war noch nicht willkommen.
Moud kam langsam wieder hoch und schleppte sich auf allen Vieren weiter durch dorniges Gestrüpp, armdickes Unterholz und giftige Kakteen. Die blutunterlaufenen Augen auf den karstigen Untergrund gerichtet und ein Granatengewehr sowie eine dicke Blutspur hinter sich her ziehend. Wasser. Ohne Wasser war er verloren.
Beinahe wäre er in die Bodenmulde gestürzt.
Und während die verwundeten Protektoren in der Senke den geräderten Jakuza noch verwirrt anstarrten, war Moud schon wieder auf den Beinen, hatte durchgeladen und betätigte den Abzug.
Die erste Granate traf Airam 12 mitten in die Brust und hinterließ nur eine Faust voll Asche von der drahtigen Protektorencommanderin. Sie hatte keine Chance. Und nichts blieb von ihr übrig. Nicht einmal die Erinnerung an den ersten weiblichen Commander des Protektorats von Aret. Einen Genklon. Denn es gab keine digitalen Aufzeichnungen über Menschen ohne Rang und Stand in der Personenordnung. Nur der eingepflanzte Bio-Chip stoppte bei seiner Vernichtung die Übertragung der Daten. Er war in der Hitze der Explosion einfach verdunstet. Und mit ihm auch ihr ganzes Leben. Genklons hatten nicht einmal richtige Namen. Sie wurden aus der ID-Meldung gestrichen, aus den Kreditdateien gelöscht, vom MSD-Computer getilgt. Entfernt. Vergessen. Terminiert. 
Nach der zweiten Neutronengranate wechselte Mouds Gewehr sekundenlang selbsttätig auf Projektilmodus und die wenigen Verwundeten, die noch am Leben waren, griffen nach ihren Waffen und versuchten sich zu wehren. Vergeblich.
Als die Rauchsäulen der Granatenexplosionen schon weit in den Himmel emporstiegen, feuerte der Big Black immer noch auf alles, das sich in dieser Bodenmulde bewegte, bis die Kühlung des Auswerfers versagte, der Sicherungsbolzen einschnappte und die Waffe automatisch sicherte.
Das Divine hatte ihn vergiftet. Das verfickte Divine.
Moud Toida, der Big Black, der gefürchtete Fürst der Finsternis schleuderte das Gewehr von sich, zog mit einem Wutschrei eine Stahlklinge aus seinem Stiefel und stürzte sich wie ein lunatischer Berserker auf die Sterbenden in der Bodensenke. Er stach unzählige Male auf die Leichen ein, bis sein Arm langsam erlahmte. Und danach wälzte er sich fluchend in ihrem Blut. Wasser. Blut. Durst.
Kurz darauf tauchten die drei Desserter an der Hügelkuppe auf. Ihr Anführer war ein schwarzer, einäugiger Hüne, der schon aus großer Entfernung aus vollem Lauf zu schießen begann. Beidhändig.
"Verfi... !"
Moud Toida fiel auf die Knie und sein eigenes Blut spritzte ihm in die Augen. Zen hatte ihm mehrmals durch die Kehle geschossen.
Moud Toida starb in einer Bodenmulde in der Wüste. Allein.
Entfernt. Vergessen. Terminiert.