1. My home is my castle
2 017 – 138.893 Menschen wurden Opfer von Gewalt durch ihre früheren oder aktuellen Partner. Der Großteil waren Frauen. Doch nur 20 Prozent der Betroffenen suchten Hilfe. Die Dunkelziffer ist im Gegensatz dazu enorm.
Sie fühlte sich wie Dreck. Erschöpft saß sie auf der Toilette, dem kleinen stillen Örtchen, das keines mehr war. Wie ein Kaninchen, das geschlachtet werden sollte und auf das man sehnsüchtig wartete. In einem knappen Quadratmeter harrte sie aus und starrte auf das Weiß der Tür.
Das Entkommen schien undenkbar, das Hinauszögern möglich, was jedoch erstarb, weil eine fordernde Stimme nach ihr rief: »Beeile dich!«
Zitternd prüfte sie den Sitz ihres schwarzen Negligés, das er eigens für sie zurechtgelegt hatte und in welchem er sie zu sehen forderte. Sie schluckte, zupfte es gerade, schaute in den Spiegel und versuchte, sich in lustvolle Stimmung zu versetzen, die sie dabei nicht besaß. Vielleicht vor Jahren noch, doch jetzt war sie verloren, nach all dem Terror, den er ihr bereitet hatte. Und dennoch hatte alles so wunderbar begonnen. Sie erinnerte sich gut an das erste Kennenlernen auf dem Konstanzer Sankt-Stephans-Platz, dem ein späteres Essen gefolgt war und bei dem sie sich Familienfotos zeigten. Soweit eine ganz normale Begegnung mit Small Talk, gutem Wein und seiner Einladung, die Rechnung zu begleichen. In ihrer Bewertung auf einer Skala von gut bis schlecht hätte er locker gewonnen. Immerhin gab es nichts zu beanstanden.
Mitten in ihren Gedanken hörte sie ihn plötzlich rufen: »Wie lange dauert das denn noch? Ich warte bereits geschlagene zehn Minuten. Beeil dich gefälligst. Hörst du?« Er klang einnehmend und ließ keinen Zweifel offen, dass er sie ebenso gewaltsam aus ihrer winzigen Sicherheit herausbefördern würde. Immerhin wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass er die Tür aufriss und sie mit hasserfüllten Augen fixierte. Sein Blick war stets starr und erinnerte sie an den eines Toten.
Ihre Kehle fühlte sich trocken an. Sie verspürte Durst, allerdings nicht nach Flüssigkeit, sondern nach dem Leben. Einem neuen ohne ihn. In ihren Tagträumen durchlebte sie diesen Gedanken immerzu. Raus aus der Hölle, hinein ins Glück. Doch wohin ohne Geld, einem Teilzeitjob und mit Kind? Also blieb ihr nichts anderes übrig, als auszuharren und das Kommende über sich ergehen zu lassen. Erst dann gab er Ruhe, bis der Albtraum wieder von vorne begann.
Woche für Woche.
Monat für Monat.
Jahr für Jahr.
Sie fühlte sich leer und verbraucht. Das Wort Lust war ihr längst zum Fremdwort geworden. Die Zeiten von Selbstbewusstsein und Stärke verblasst. Dabei war das Unheil schleichend gekommen. Es begann klein, wucherte langsam vor sich hin und entwickelte sich zu einem riesigen Fiasko. Und jetzt saß sie mittendrin.
»Verdammt, blöde Kuh, beweg endlich deinen Arsch ins Bett, sonst …«
Mehr musste er nicht sagen.
Sie erhob sich vom WC, in das sie mehrfach zu urinieren versucht hatte, obwohl ihre Quelle längst versiegt war. Der Kopf spielte ihr einen Streich, suggerierte eine volle Blase, die es gerade nicht gab. Die Angst hatte sie fest im Griff.
Zitternd nestelte sie an ihrem Slip, zog ihn hoch, betätigte die Spülung und wusch sich die Hände. Danach öffnete sie leise die Tür, während ihr ein Schauer über den Rücken lief und sie hinüber zum Schlafzimmer schritt.
Die Nachttischlampe brannte auf ihrer Seite des Bettes, wohingegen die seine erloschen war und sie nur den Haarschopf von ihm unter der Bettdecke zu sehen bekam. Begehren sah anders aus. Zum wiederholten Male presste sie die Luft in ihrer Kehle hinab, sendete ein leises Stoßgebet in Richtung Himmel und legte sich zu ihm ins Bett. Bitte lass es schnell vorbeigehen. Von nun an lag es an ihr, seine Lust zu entfachen, weil es sonst Streit gab, der meist mit Beschimpfung endete.