4. Gewohnheiten
S
andra Baumgartner hatte sich inzwischen in ihrem Leben eingefunden. Gut, sie war damit nicht gerade glücklich, aber sie redete sich Mut zu, dass es in anderen Familien nicht besser sei. Manfreds Grobheiten machten ihr dennoch zu schaffen. Zudem hatte sich im Laufe der Zeit sein Ton verschärft. Trotzdem bemühte sie sich, ihm zu gefallen, indem sie in einem Sportstudio für Frauen aktiv war. Dem alten hatte sie kündigen müssen, weil es dort zu viele Männer gab. Für gewöhnlich trainierte sie ein- bis zweimal die Woche, genau wie heute.
Gerade als sie die Firma verlassen hatte, kam ihr ein guter Bekannter entgegen und lud sie kurzerhand auf einen Kaffee ein. Er brachte sie zum Lachen und ließ sie für kurze Zeit die Ehehölle vergessen. Seine Komplimente jedoch konnte sie nicht annehmen, weil sie verlernt hatte, damit umzugehen. Trotz allem genoss sie die Stunde und kam mit bester Laune daheim an.
Als sie Manfred im Vorgarten fegen sah, kam sie ins Grübeln, da er selten früh zu Hause war. Sie steuerte auf ihn zu, lächelte zur Begrüßung und wollte ihn küssen, doch er drehte den Kopf beiseite. Stattdessen fragte er schnippisch, ob sie im Training auf ihre Kosten gekommen sei. Dass sein Ton herablassend war, bemerkte sie sofort, obwohl sie damit gelernt hatte, zu leben. Und dennoch ärgerte sie sich, genau wie er, in dem es bereits brodelte. Selbst das Abendessen ignorierte er und sprach kein Wort, bis man zu Bett ging. Sein sich von ihr Abwenden ließ vermuten, dass er schlafen wollte, bis er sie unerwartet von der Seite anstieß und sich aufbäumte. »Na, hattet ihr Spaß? Trainieren nennst du das also?«
Sandra presste Luft durch die Nase. Was sollte sie antworten? »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
Wieder berührte er sie unsanft. »Ich hab dich gesehen.«
»Wie, gesehen?«
Manfred setzte sich aufrecht auf das Bett. »Willst du mich für dumm verkaufen? Du warst nicht im Fitnessstudio«, sprach er verärgert und laut.
Woher weiß er das?
»Stimmt, ich war mit einer Kollegin einen Kaffee trinken.«
»Du blöde Fotze, und das soll ich dir glauben? Raus! Schlaf im Wohnzimmer oder sonst wo. Verschwinde.« Er packte sie am Arm und drückte sie von sich weg, sodass sie fast aus dem Bett gefallen wäre. Leise stand sie auf und ging ins Wohnzimmer, um dort zu nächtigen. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass er sie derart mies aus dem Ehebett beförderte.
Sie legte sich auf das Sofa und deckte sich zu. Dass sie auf diese Weise nicht schlafen konnte, wusste sie zwar, aber was blieb ihr anderes übrig. Wie vermutet hörte sie Manfred wenig später auf die Toilette gehen und sah ihn dann im Wohnzimmer stehen. Wie gebannt starrte sie ihn an. Dass die Sache noch nicht beendet war, hatte sie längst geahnt, denn irgendetwas folgte dem immer.
Schritt für Schritt kam er auf sie zu. Die Dielen knarrten, während sie sich vor Angst an die Decke klammerte. Was kommt jetzt?,
bangte sie im Stillen und hoffte auf ein baldiges Ende seiner Aggression.
Unvermutet riss er ihr die Wolldecke vom Körper. »Wen hast du heute Nachmittag getroffen? Und lüg mich ja nicht an.«
Sie schluckte und überlegte. Er findet es ja sowieso heraus. Wie damals, als ich meinen Mietvertrag kündigte und er mich auf der Straße abpasste, um mich zu beschimpfen. Angeblich wollte der Vermieter etwas von mir. Was nicht der Wahrheit entsprach. Ich brachte ihm nur die Kündigung. Die Szene, die Manfred mir danach machte, riss mir fast den Boden unter den Füßen weg. Er brüllte mich an und wollte die Beziehung beenden. Nur waren die Möbel verkauft und die Wohnung gekündigt. Also lenkte ich ein, entschuldigte mich für etwas, das nicht passiert war, und gestand ihm meine Liebe. Zum Beweis schlief ich mit ihm.
»Mit Peter, ich habe dir von ihm erzählt. Er ist ein früherer Kollege.«
Der Knall auf ihrem Gesicht kam derart plötzlich, dass sie zunächst nicht verstand, was passiert war.
»Blöde Kuh. Das war nur der Anfang. Jetzt beweg deinen Arsch ins Bett.«
Sandra hielt ihre Hand auf die Wange, die inzwischen heiß geworden war und die wie Feuer brannte. Bislang hatte er sie nie geschlagen.
Manfred verließ das Zimmer, während sie zu weinen begann. Dass es gescheiter war, ihm zu folgen, war ihr bewusst, obgleich sie die Hoffnung hegte, er würde bereits schlafen. Stattdessen lag er wie ein Leopard auf der Lauer und schaute sie herausfordernd an. Seine Entschuldigung, sie nicht mehr zu ohrfeigen, nahm sie ihm dennoch nicht ab. »Du hättest mich nicht reizen dürfen«, meinte er frech.
Nachdem er Ruhe gab und zu schnarchen begonnen hatte, atmete sie gleichmäßiger, fand aber nicht in den Schlaf. Am liebsten hätte sie im Wohnzimmer genächtigt, beließ es dabei, weil der Ärger sonst wieder von vorne losgegangen wäre. Demzufolge blieb sie wach und sehnte den Tag entgegen, an dem sie seinem Haus den Rücken kehren würde. Ein Gedanke, der sich langsam in ihrem Kopf manifestierte.
Ihn verlassen – neu anfangen – und zu sich finden
, wurde zu ihrem täglichen Credo. Doch wie sollte sie es anstellen, mit wenig Geld und ohne Wohnung? Längst hatte sie begonnen, ihn in Gedanken zu hassen, aber die Aussicht auf seine Rente war nicht zu verachten. Nur war sie imstande, dieses Martyrium weiter zu ertragen? Augen zu und durch? Immerfort stellte sie sich die gleichen Fragen. Will ich das ein Leben lang? Kontrolle? Gewalt? Demütigung?
NEIN!
Sanft vor sich hin schnaufend, ermahnte sie sich, nicht zu hetzen oder voreilig zu handeln. Eine Lösung musste her, die so simpel war wie das Leben und so heimtückisch wie der Tod. Immerhin war sie eine Frau und als solche dachte sie in mehrere Richtungen.
Das Bedürfnis, ihn zu verlassen, saß tief. Vielleicht hätte er sie mit einem gemeinsamen Kind respektvoller behandelt. Doch die Hoffnung war längst gestorben. Und dann war da noch die Lüge, die das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Klammheimlich hatte er sich vor der Hochzeit einer Vasektomie unterzogen, was er ihr verschwiegen hatte, und womit er erst bei einer ihrer vielen Auseinandersetzungen herausgerückt war. Er hatte wohl niemals eine gleichberechtigte Frau gesucht, sondern eine Haushälterin, die ihm die Wäsche machte, das Essen kochte und sich liebevoll um ihn kümmerte. Wie es ihr dabei erging, hatte ihn nie interessiert. Und tatsächlich hatte er ihr erklären wollen, dass der Nachwuchs nicht vom Storch gebracht werden würde und dass man fleißig daran arbeiten müsse. Außerdem gab es da noch eine Tochter aus erster Ehe, die ihn bräuchte, und für ein weiteres Kind könne er keine Verantwortung übernehmen.
Das ewige Hin und Her zog an ihr wie ein bissiger Hund am Knochen. Er schlug ihr vor, sich zu trennen, was jedoch weniger Unterhaltsanspruch nach sich zöge. Seine Drohung, sie mittellos in ein kleines Zweizimmerloch zu verbannen, ließ sie weiter an der Ehe festhalten und auch daran, sich den Demütigungen zu unterziehen.
Freundinnen rieten ihr, ihn zu verlassen. Man sprach von häuslicher Gewalt, was Manfred verstand, geschickt von sich zu weisen. Nicht er hatte das Problem, sondern sie und er war bereit, es offen kundzutun, um Sandra vor den Leuten dumm dastehen zu lassen. Zudem entzog er ihr das Taschengeld mit der Begründung, es für unnütze Dinge auszugeben. Die hübsche Wäsche, die sie sich hätte kaufen sollen, landete am Ende im Kleiderschrank. Sie benötigte dringend Hilfe, nur wie hätte sie es anstellen können? Ins Frauenhaus gehen, um Wochen später wieder zu ihm zu ziehen? Wie sehr sehnte sie sich nach dem Prinzen auf dem weißen Pferd, der sie aus dem Schlamassel herausholte. Zugegeben, den gab es nicht. Und wenn ich mich im Internet umsehe?
Allerdings konnte sie sich die überteuerten Partnerportale nicht leisten und Abbuchungen auf dem Konto hätte Manfred sofort bemerkt.
Nie war sie vor ihm sicher.
Spazierte sie in der Stadt umher, war er ebenfalls dort. Sobald sie ihn darauf ansprach, log er sie an. Inzwischen litt sie unter Verfolgungsängsten, zuckte jedes Mal zusammen, wenn eine Tür auf- und zuging oder sie einen großgewachsenen Mann seiner Statur erblickte. Selbst am Boden ihres Autos hatte sie nachgesehen, ob ein Peilsender installiert worden war, weil Manfred begonnen hatte, sie zu bedrohen. Er wusste einfach alles und hatte Kenntnis davon, wann sie das Büro verließ, sich mit jemandem traf und in WhatsApp unterwegs war. Anfangs hatte sie ihn darin noch gesperrt. Vergeblich, denn es führte jedes Mal in eine weitere Auseinandersetzung.
Seine Kontrolle wurde zu ihrem täglichen Begleiter.
Auch wenn sie sich nichts zuschulden kommen ließ, seine blühende Fantasie riet ihm etwas anderes. Mit jedem Mann, den sie näher kannte, sagte er ihr ein Verhältnis nach. Dabei war sie ihm immer treu gewesen, weil sie an die Ehe glaubte. Selbst dann noch, als sie das Bedürfnis hatte, jemanden kennenzulernen, machte ihr der Kopf einen Strich durch die Rechnung. Es gab nur eine Möglichkeit. Entweder sie verließ ihn endgültig oder aber … Doch das oder aber
war nicht das ihre. Immerhin besaß sie christliche Werte, die ein solches Denken kategorisch ausschlossen.